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In den ersten Stunden saß ich da und dachte immerzu nach. Ich wußte nicht einmal, welches Fach gerade dran war. Später wachte ich dann auf. Inge, die neben mir sitzt, fragte, ob ich Liebeskummer hätte. Liebeskummer — ich zeigte bloß an die Stirn. „Ihr habt Sorgen!“ murmelte ich. In Biologie kam ich dann dran und mußte mich zusammennehmen. Weil mich Biologie interessiert, ging es dann auch.

Inge dachte zuerst, sie müsse mir vorsagen. Aber das war nicht nötig. Es handelte sich um den Blutkreislauf. Darüber weiß ich Bescheid, weil ich ihn sehr interessant finde, gut durchdacht, sozusagen. Später möchte ich gern Medizin studieren.

Zum erstenmal an diesem Tage wurde ich meine Bedrückung etwas los. Als ich mich setzte, markierte Inge unter der Bank Beifallklatschen. Ich trat sie ins Schienbein. Sie stöhnte übertrieben und tat, als sei es gebrochen.

Die nächste Stunde hatten wir Französisch. Unser Französischlehrer ist sehr beliebt, jung noch, er unternimmt in den Ferien immer etwas mit Schülerinnen. Einmal fuhr er mit allen aus der Klasse, die mitdurften, nach Frankreich, um Kriegsgräber zu pflegen. Und dieses Jahr leitet er ein deutsch-französisches Ferienlager in der Lüneburger Heide. Ich habe bisher nie so etwas mitmachen dürfen. Aber für dieses Jahr habe ich die Erlaubnis bekommen.

Wenn ich daran denke, ist mir immer, als könne ich tiefer atmen. Frei sein — endlich einmal frei sein, nicht immerzu hören: „Halt dich gerade!“ „Sei nicht so laut!“ „Hast du schon Schularbeiten gemacht?“ „Du könntest mir eigentlich flink —“ und dann kamen die Aufträge. Einmal hinaus, nicht mehr gegängelt werden, machen können, was man will. Wird das wohl tun!

Früher fuhren wir mit den Eltern in den großen Ferien nach Flensburg zu den Großeltern. Sie wohnen ziemlich nahe am Strand, und wir hatten dort schöne Ferien, jedes Jahr. Jetzt seien die Großeltern zu alt, sagt Vater — vielleicht will er aber auch die Reisekosten sparen. Seit wir gebaut haben, geht es bei uns immer ums Sparen. Ständig heißt es: „Ihr wißt, unser Haus! Wir müssen erst einmal die Schulden loswerden.“ Und wenn wir erzählen, daß unsere Klassenkameraden eigentlich alle verreisen, dann heißt es:

„Ihr habt den Garten, und das Schwimmbad ist auch nicht weit. Andere Kinder wären froh, wenn sie es so hätten. Seid dankbar…“ Dabei haben wir in den Ferien natürlich die gleichen häuslichen Pflichten wie in der Schulzeit, wenn nicht noch mehr: „Hilf mal, faß mal mit an, du hast doch Zeit!“ Und was nützt das eigene Haus, wenn wir drin still sein müssen wie in einer Mietwohnung, und der Garten, wo man sich nicht auf den Rasen legen und ungestört schmökern darf?

„Was sollen denn die Nachbarn sagen!“ heißt es dann. „Komm, hilf mir beim Einkochen.“

Dieses Jahr darf ich also das erstemal fort. Mutter hat es fest versprochen und Vater halb fest — wie es so seine Art ist: „Mal sehen, wie du dich bis dahin benimmst.“ Das macht mich wütend. Ich bin kein Kind mehr, das belohnt wird, wenn es ‚brav‘ war. Ich brauche meinen Urlaub genau wie jeder andere Mensch, und zu Hause habe ich keinen Urlaub.

Aber diesmal darf ich ja mit.

„Ich habe auf der Karte nachgesehen, wohin wir fahren“, sagte Inge. „Es muß schön dort sein. Und Französisch lernt sich schnell, so die Umgangssprache, meine ich, wenn man gezwungen ist, sie zu sprechen. Ich borg’ dir ein Heft, darin stehen vielleicht hundert Redensarten, die man täglich braucht — wenn man sich die ansieht, ist man sozusagen schon firm.“

„Fährt die Frau von Elias auch mit?“

Elias ist der Spitzname unseres Französischlehrers.

„Ja, sie hat jetzt fest zugesagt. Voriges Jahr war sie auch dabei. Sie machte abends immer Spiele mit uns und brachte uns Lieder bei, die wir noch nicht kannten, sehr schöne, meist französische, aber auch englische und sogar finnische. Die mag ich am meisten, sie klingen so traurig. Dieses Jahr nimmt sie auch ihren Sohn mit, er ist jetzt drei. Voriges Jahr war er bei seinen Großeltern und sie schrieb ihm immer Karten. Er ist süß, ganz blondlockig, wie ein Mädchen — zum Fressen.“

„Inge Hohlfeld, Sie können wohl den Mund nicht halten“, kam es jetzt verzweifelt von vom. „Ich beobachte Sie jetzt seit sieben Minuten…“

„Blöd genug“, murmelte Inge noch, ehe sie endlich schwieg. Auch ich war still. Aber ich dachte nur noch an die Heide und an unser Lager. Und über der Vorfreude vergaß ich fast meine Sorgen um die Jungen.

Auch auf dem Heimweg malte ich mir aus, wie es im Lager sein würde. Sicher dürften wir Handball spielen, solange wir wollten, nicht nur die letzten zehn Minuten von der Turnstunde. Wir würden uns Geschichten erzählen und neue Lieder lernen. Und wie wohl die jungen Französinnen waren?

Die Jungen und ihre kriminelle Sache… ach, ich wollte nicht mehr daran denken. Vielleicht kam es gar nicht heraus. Und außerdem — was konnte ich dafür? Bestimmt nichts. Deshalb konnten die Eltern mir meine Sommerfahrt nicht verbieten!

So kam ich recht wohlgemut nach Hause. Mutter war allein. Sie sah aus, wie ich sie nur einmal gesehen hatte — damals, als Vater auf dem Gehsteig vor unserm Haus zusammengebrochen war und ihn zwei Männer ins Haus trugen. Er mußte danach lange liegen, und seitdem ist es so unerträglich bei uns mit dem ewigen „Seid still!“ und „Leise, leise!“ Er hatte sich so über einen der Bauarbeiter geärgert, daß sein Herz versagt hatte. Mutter dachte, er wäre tot.

Ja, und jetzt sah sie fast so aus wie damals: blaß, mit Ringen unter den Augen und abgehärmt. Nur in ihrem Blick war noch etwas Hoffnung.

„Gut, daß du allein kommst, Silke“, sagte sie sofort. „Ich habe so entsetzliche Angst. Sag — hältst du es für möglich —“

„Was denn?“ fragte ich und wußte sofort, was sie meinte.

„Daß die Jungen dabei waren. Daß sie es waren.“

„Was?“

„Tu doch nicht so. Der Einbruch in der Hütte. Was Vater heute früh aus der Zeitung vorgelesen hat.“

„Ach, diese Geschichte meinst du“, sagte ich lahm.

„Ich habe inzwischen mit Frau Meinhold gesprochen.“ Frau Meinhold ist unsere Nachbarin.

„Sie meint, es könnten auch Fremde gewesen sein, Jugendliche, die gar nicht in unserer Stadt wohnen. Eine Bande. Aber ich glaube es nicht. Wir müssen auf jeden Fall feststellen, wo die Jungen an dem fraglichen Tag waren. Wenn dann jemand kommt und behauptet, sie wären es gewesen, so können wir sagen, wo sie um die betreffende Zeit wirklich gewesen sind. Ein Alibi. Vielleicht läßt es sich noch feststellen. Es war am Mittwoch, sagte Frau Meinhold — sie wußte es übrigens schon vorher, nicht erst aus der Zeitung.“

„Am Mittwoch?“ Ich hatte mich hingesetzt und versuchte zu überlegen. „Da haben sie nachmittags keine Schule.“ Weiter fiel mir nichts ein.

Mutters Augen waren flehend. „Überleg doch — können sie nicht — waren sie nicht schwimmen? Sie gehen doch mittwochs immer —“

„Ich weiß nicht. Wir müssen sie fragen. Vielleicht haben sie sich mit Kameraden aus ihrer Klasse getroffen, die das noch wissen.“ Mutter schwieg. „Wem gehört eigentlich die Hütte?“ fragte ich dann.

„Dem alten Grulich, dem Uhrmacher. Er hat am Markt seine Werkstatt. Vater kennt ihn gut. Na ja, Vater kennt ja alle in der Stadt.“

Vater ist Angestellter bei der Kreissparkasse. Er hat schon immer Direktor werden wollen. Und weil er ziemlich fest damit rechnete, hat er das Haus gebaut, obwohl wir wahrhaftig nicht viel Geld haben. Er dachte, als Direktor kann er es leichter abbezahlen. Aber vorläufig ist er das noch nicht.

Als junger Mensch wollte Vater Jura studieren. Deshalb haben wir auch das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch im Haus, und er liest mit Vorliebe darin, wie andere Leute im Zitatenschatz. Aber in jenen Zeiten, die seiner Meinung nach so golden gewesen sind, konnten offenbar nur die Söhne wohlhabender Leute studieren — das ist heute besser. Heute kann jeder studieren, der in der Schule ordentlich und fleißig war und es im Studium auch ist. Auch Bundeskanzler kann jeder werden, wenn es ihm dazu reicht. Man trägt heute sozusagen den Marschallstab im Tornister. Das ist gut. Allerdings — Sparkassendirektor zu werden ist vielleicht noch schwieriger, als Bundeskanzler zu werden. Wenigstens denke ich das manchmal, wenn ich Vaters Bemühungen sehe.

Ich bremste diese Gedanken gewaltsam ab. „Dem alten Grulich gehört die Hütte? Dann ist die Sache aber gemein.“

Denn der alte Grulich ist der friedlichste Mensch unter der Sonne. Groß, grau, hager — und sehr liebenswürdig, jedenfalls zu mir. Ich brauche nur hereinzukommen, da zieht sich sein schmales Gesicht in unzählige freundliche Falten zusammen, und er strahlt mich an. Was das gnädige Fräulein denn wünsche? Bitte, nehmen Sie doch Platz! Er siezt mich seit dem Tag meiner Konfirmation, während andere immer weiter du sagen und vertraulich tun. Solche Vertraulichkeit kann ich schlecht vertragen.

„Das ist wirklich eine Gemeinheit“, sagte ich und sah Mutter an. Ich mußte ja so tun, als wüßte ich überhaupt nichts. „Wer das war, der sollte sich schämen. Diesen Mann zu kränken…“

Er hat keine Familie mehr, ich weiß das. Er hat unzählige Vögel; überall in seiner Werkstatt pfeift und zwitschert es. Sonst haben meist Schuster Vogelkäfige in der Werkstatt hängen, aber bei uns hat sie Herr Grulich. Und er kennt alle Vögel und pfeift ihnen vor, oder er pfeift das, was sie zwitschern, so bezaubernd gut nach, daß es ist, als unterhielte er sich mit ihnen. Überall wird er der Vogelgrulich genannt.

„Draußen bei der Hütte hatte er auch ein schönes Vogelbad aus Ton“, erzählte Mutter bedrückt. „Er ist doch solch ein Tierfreund. Das haben sie auch kaputtgemacht, zertreten und zerschlagen…“

Na wartet, dachte ich. Laut aber sagte ich:

„Sowas ist doch nicht zu glauben. Was für Rohlinge müssen das sein! Die sind bestimmt nicht von hier.“

Sah Mutter mißtrauisch aus? Oder bildete ich mir das nur ein? Ich durfte nicht noch etwas sagen, was in diese Richtung wies. Überhaupt — es war besser, ich lenkte Mutter ab.

„Ich freue mich so auf unser Ferienlager“, sagte ich also. „Du wirst sehen, ich komme mit perfektem Französisch wieder. Übrigens — die Frau von Elias geht auch mit, Inge sagt, sie sei ganz reizend.“

Mutter tat, als höre sie zu, schaltete den Drucktopf ab und stellte ihn unter den Wasserhahn. Dann aber ließ sie plötzlich die Hände sinken, setzte sich auf einen Hocker und verbarg vornübergebeugt das Gesicht in den gekreuzten Armen. Ihre Schultern zuckten.

„Aber Mutter — aber — was hast du denn?“ fragte ich, zutiefst erschrocken. Mutter weinte, man hörte es, obwohl sie es zu unterdrücken versuchte. Ich faßte sie um die Schultern. Sie hob das Gesicht nicht.

„Ich hab’ Angst — ich hab’ so Angst“, schluchzte sie. „Angst, daß sie es waren, daß sie dabei waren. Frau Meinhold hat mich auch so angesehen… Silke, wenn sie dabei waren. Wenn Vater das erfährt…“

Ich habe Mutter noch nie so verzweifelt erlebt. Damals, bei Vaters Zusammenbruch, hat sie sich großartig benommen, gefaßt und vernünftig und alles. Aber jetzt… Wenn nur Vater nicht kam und sie so sah. Dann würde er sich wohl sein Teil denken!

„Mutter, du mußt doch — wenn Vater jetzt kommt!“ flüsterte ich beschwörend.

Aber Mutter hob den Kopf nicht. „Und wenn sie es diesmal wirklich nicht waren, wer weiß, nächstes Mal —“ Sie weinte jetzt richtig, stoßweise, außer sich.

„Mutter, du mußt dich jetzt zusammennehmen“, hörte ich mich rufen, halblaut, aber fast wild. „Du machst ja alles kaputt. Vater darf nie auf den Gedanken kommen —“

„Ich kann nicht. Ich hab’ solche Angst —“

Schließlich bekam ich sie dazu, aufzustehen. Ich schob sie aus der Küche, zerrte sie die Treppe hinauf und drückte sie auf ihr Bett. Ich zog ihr die Halbschuhe von den Füßen, legte ihr die Beine hoch und deckte sie zu.

„Du bleibst jetzt liegen. Vater darf dich so nicht sehen. Ich sage ihm und den Jungen, dir wäre schlecht geworden. Du hättest brechen müssen. Ja, es ist doch gleichgültig, ich stelle einen Eimer her. Du bleibst liegen. Hast du was Beruhigendes da? Warte, ich seh mal im Arzneischränkchen nach.“

„Nicht — nicht — ich will nicht“, wehrte sich Mutter. Doch ich fand ein Fläschchen, auf dem zu lesen war: Zehn Tropfen auf ein Stück Zucker, zur Beruhigung, in ernsten Fällen das Doppelte. Ich lief nochmal in die Küche und holte die Dose mit Würfelzucker, tröpfelte, zählte, gab es Mutter ein.

„So, warum denn nicht. Nun tief atmen und an gar nichts denken! Ich mach’ das Essen fertig. Was gibt’s denn? Nein, ich tue es, bleib ja liegen! Ist der Tisch gedeckt? Laß doch, das werde ich wohl können. Überhaupt, Mutter, ich finde, einmal könntest du auch tun, was ich sage.“

Es klang wütend, ich hörte es selbst, und es tat mir leid. Merkwürdigerweise aber wurde Mutter nicht böse darüber, im Gegenteil. Sie war auf einmal lieb und ganz klein.

„Ach, Silke, bitte, sei nicht böse! Es ist ja nur — bitte…“

Mir war das entsetzlich, ich hatte sowas noch nie erlebt. Schließlich setzte ich mich für einen Augenblick auf die Bettkante und streichelte ihr geniert die Wange. Es war so ungewohnt und komisch: Mutter lag hilfsbedürftig da und ich redete groß und vernünftig. Machte ich das richtig? Ich wußte es nicht.

Später rannte ich hinunter und deckte mit fliegenden Händen den Tisch. Ich goß die Kartoffeln ab und füllte das Gemüse in eine vorgewärmte Schüssel. Vater wird ärgerlich, wenn nicht alles ofenheiß auf den Tisch kommt. Da hörte ich schon seinen Schritt. Und die Jungen?

Sie kamen nicht. Wir warteten erst — ich hatte Vater von Mutters Übelkeit erzählt und ihn gebeten, nicht hinaufzugehen, sie schlafe jetzt sicher —, dann aber setzten wir uns. Vater war sehr ärgerlich, weil die Jungen nicht kamen. Ich erzählte etwas von einer zusätzlichen Stunde, von der sie einmal gesprochen hätten — ob sie heute stattfände, wüßte ich nicht.

„So etwas sagt man vorher“, knurrte Vater, begann dann aber zu essen. Ich tat zuerst nur so, dachte, ich könne keinen Bissen hinunterwürgen. Dann aber merkte ich auf einmal, daß es mir schmeckte, und ich aß und aß — mir wurde besser. Zuletzt haben wir uns dann sogar unterhalten, Vater und ich. Und es ging ganz gut.

Als ich später nach Mutter sah, schlief sie wirklich. Ich stellte den Jungen das Essen warm und wusch unsere Teller ab. Vater hatte sich, wie immer um diese Zeit, für zehn Minuten hingelegt. Ich betete, daß die Jungen nicht gerade jetzt kommen möchten — sie kamen auch nicht. Er ging, nachdem er noch seine Tasse Kaffee im Stehen getrunken hatte. Nach ihnen gefragt hatte er nicht noch einmal.

Kaum war er um die Ecke, da erschienen sie von der anderen Seite her.

Ich brachte ihnen zu essen und sagte dann, wenn sie heute ihre Schularbeiten nicht ordentlich machten — ich soll sie immer nachsehen, und sie unterschlagen mir mit Vorliebe das, was ihnen nicht paßt —, dann würde es wohl das letzte Mal sein, daß ich mich vor sie stellte. Und ich ginge jetzt zu Grulich und bäte um gut Wetter. Verdient hätten sie es nicht. Es sei wegen Mutter. Die liege oben und sei halb krank. Punkt. Alles Weitere werde sich finden.

Sie waren ganz still, auch Roland. Er wagte nicht einmal einen frechen Blick. Uli sah überhaupt nicht hoch.

Ich ging. Mein Herz war zentnerschwer. Und zu aller Sorge kam auch noch die Empörung: wieso ich? Wieso hatte gerade ich dauernd Ärger mit meinen Brüdern? Andere Mädchen hatten doch auch Brüder! Aber daß sie solche Dinge für sie ausbaden mußten, das hatte ich noch nie gehört.

Ferienfahrt mit Zwillingsbrüdern

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