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Erste, teils schmerzliche Erfahrungen
ОглавлениеDer Umgang mit Pferden ähnelt dem Opiumrauchen. Hat man damit angefangen, so kann man es nicht mehr lassen. Es wird immer schlimmer. Schließlich hat man nichts anderes im Sinne als die Pferde.
Wir großen Geschwister begannen Nachhilfestunden zu geben und heimlich Blut zu spenden. Auf diese Weise erhöhten wir das Taschengeld und konnten uns, wenn die Sehnsucht uns übermannte, im nahe bei Bad Harzburg gelegenen Bündheim eine Reitstunde gönnen. Wir vermuten, daß unsere Direktorin dies wohl merkte, aber ein Auge zudrückte. Wer in den Sattel strebt, ist nicht aufzuhalten.
Außerdem heißt es, daß nichts den Menschen so veredelt wie der Umgang mit Pferden. Um sie nicht zu erschrecken oder zu ängstigen, muß man immer beherrscht, sanft und geduldig sein. So überstanden wir dieses längste Vierteljahr im Internat mit einigem Anstand, ärgerten uns nur, daß die Kleinen nicht genug von den Ponys berichteten. Einmal kam ein Brief von Ben, den Mutter anscheinend dazu angetrieben hatte. Er lautete: „Ich bin noch gesund, eure Borste.“ Das war nicht sehr ergiebig, bis auf den Spitznamen.
Von Mutter kamen allerdings auch keine regelmäßigen Berichte. Mitunter erhielten wir Postkarten oder Zettel, gelegentlich telefonierte sie auch nach 19 Uhr. Manchmal teilte sie uns per Brieftelegramm komische Sachen mit. Darin war auch Arndt groß. Wir hatten es uns daher abgewöhnt, vor Telegrammen zu erschrecken. Meist hatten sie etwa diesen Inhalt:
„Schaunummer geritten. Blacky zweites Hindernis gerissen. Arndt anscheinend auf Liebespfaden, da betäubend rasiert. Kanarienvogel wohlauf (wir haben nie einen besessen). Bleibt gute Menschen, tüchtig essen. Mützchen.“ Da die Telegramme in der Schule im Büro angenommen werden, haben wir mitunter Blut geschwitzt.
In der Adventswoche bekamen wir das übliche Päckchen mit Pfefferkuchen, Kerzen und Tannengrün aus Hardehausen und einen langen Brief. Darin schrieb Mutter, die – ähnlich wie Onkel Bubi – kein Geheimnis behalten kann, sie hätte für uns zu Weihnachten eine ganz große Überraschung. Eine – ob wir es uns denn nicht denken könnten? Sie finge mit S an ...
Wir konnten und mochten auch nicht. Wir wollten diesmal richtig überrascht werden und vorher nichts wissen. Das schrieben wir auch nach Hause. Mutter drehte und wand sich in den wenigen Briefen, die sie bis Weihnachten noch schickte, immer wie ein Aal um die große Überraschung herum. Aber schriftlich kann man sich ja nicht so leicht „aus Versehn“ versprechen.
Am Abend vor der Heimfahrt waren wir, wie meist vor den Ferien, bei der Direktorin eingeladen. Es gab Tee und Gebäck. Die Großen von uns durften rauchen, wenn sie wollten. Die Koffer waren schon gepackt, uns erfüllten Vorfreude und Reiselust. Jeder erzählte, welche Weihnachtsarbeiten er fertig oder noch nicht fertig habe. Manche strickten noch mit roten Wangen am letzten Pulloverärmel. Kurzum, es war richtig gemütlich.
„Nur ihr seht mir so bedrückt aus!“ sagte die Göttliche zu den vier Gasts. „Habt ihr nicht alles fertig? Oder wo drückt der Schuh?“
Wir rückten zögernd mit unsern Sorgen heraus.
„Unsere Mutter hat geschrieben, sie hätte dieses Jahr eine ganz große Überraschung“, murmelte Lotte.
„Na und? Das ist doch schön“, wunderte sich Frau Direktor.
„Ach, schön ... Mutter hat manchmal so merkwürdige Einfälle.“
„Womit hat sie euch denn früher schon überrascht?“ fragten die anderen.
„Ach, einmal hat sie gesagt, es wäre auch so was Herrliches da, wenn wir heimkämen. Und da hatte sie unsere Betten knallrot angestrichen. Wir haben Etagenbetten, weil wir so viele sind. Und die auch noch rot, mit blaukarierten Überzügen drin!“
„Habt ihr euch da nicht gefreut?“
„Wir haben so getan. Man gewöhnt sich mit der Zeit ja auch daran.“
„Und sonst?“
„Einmal hat sie die Klo-Brille grün gestrichen, weil Farbe vom Ponywagen übriggeblieben war. Die trocknete aber sehr langsam, und sie hatte die Brille nicht abgeschraubt, sondern ...“
Lotte gab Katrin, die damals erst dreizehn war, einen Rippenstoß, aber es war schon zu spät. Alle lachten. Immer lachten sie über uns.
Unsere Frau Rexin lächelte übrigens auch, aber nett und gar nicht schadenfroh. Sie tröstete uns, diesmal wäre es sicher eine sehr schöne Überraschung.
Wir fuhren ab. Käpten war, wie meistens vor Weihnachten, überarbeitet, schleppte eine Grippe mit sich herum und hatte das Thermometer immer heruntergeschüttelt, wenn die Hausmutter nachsehen kam. Sie wollte doch Weihnachten nicht allein im Krankenzimmer des Heims vertrauern. Wir zerrten sie in Goslar beim Umsteigen, rechts und links untergehakt, mit uns und waren froh, als wir auf Arndt stießen, der aus Wolfenbüttel kam. Nun ging es gemeinsam der Heimat zu.
Nacht war es, als wir ankamen, und Weihnachtswetter mit Schnee und Sturm. Demnach nahmen wir als sicher an, daß wir abgeholt werden würden, und hatten deshalb auch nichts von Käptens Krankheit verlauten lassen. Daheim würde sie bis zum Heiligen Abend schon auskuriert werden.
Richtig, Mutter stand auf dem Bahnsteig. Arndt beförderte Koffer, Kartons, Schier, Geigenkästen, Seesäcke, Pakete und zusätzliche Mäntel aus dem Abteil. Wir wollten das Zeug wie üblich über den Zaun werfen. Mutter aber hielt uns zurück.
„Ihr müßt alle auf einmal durch die Sperre gehen. Dann kommt die große Überraschung!“
Nanu, heute schon? Wir gehorchten. In der Bahnhofshalle – wenn man bei einem so winzigen Bahnhof von Halle sprechen kann – stand etwas Großes, Lebendiges, Schwarzweißes ...
Käpten, durch das Fieber wohl etwas im Blick getrübt und auch leicht enthemmt, man spricht ja auch in der Narkose bekanntlich Dinge aus, die man sonst verschweigt, verhüllte das Antlitz und stöhnte: „Mutter hat eine Kuh gekauft!“
Wir haben sie später oft mit diesem Verzweiflungsschrei geneckt. Damals aber dachten wir alle dasselbe wie Käpten. Mutter krümmte sich vor Lachen. Selbst wenn sie eine Kuh gekauft hätte, würde sie die doch nie auf den Bahnhof schleppen, fünf Kilometer weit, mit schlenkerndem Euter.
„Und warum bringst du das neue Pferd mit?“ fragten wir.
Mutter erklärte wortreich. Steffi war auf der Schecke hergeritten, denn ein Geheimnis wäre es ja doch nicht geblieben, siehe Blackys Kauf. Beim Start war es übrigens nicht ohne Schwierigkeiten zugegangen. Die Kleinen wollten stilvoll mit Glöckchen durch den Schnee reiten. Blacky und Schnute ließen sich das Bimmelim am Hals auch ruhig gefallen, die Schecke aber, das neue Pony, ging kerzengerade in die Luft. Steffi, die nicht losließ, wurde am Zügel mitgeschleift und landete in einer Schlammpfütze.
„Schecki“ war also die große Überraschung mit S. Sehr hübsch, wenn auch nicht reinrassig. Widerristhöhe etwa einsdreißig, also durchaus auch als Reitpferd für uns Große zu verwenden. Ihr Vater war ein Shetlandpony wie unsere kleinen Stuten, die Mutter ein mittelschweres Arbeitspferd. Schecki war sanft und klug, aber etwas weich im Rücken, so daß wir zwar gerade noch, Mutter aber kaum auf ihr reiten konnte. Lieb hatten wir sie sofort. Sie vertrug sich auch ganz gut mit Blacky und Schnute. Arndt führte sie heimwärts, während Steffi draufsaß, es war besser so. Die Straße war mordsglatt, und immerfort kamen von vorn und hinten Autos mit Scheinwerfern. Wir fingen langsam an, uns zu freuen. Drei Pferde, wunderbar!
Dieses Weihnachtsfest war recht bewegt. Es fing schon in der ersten Nacht an. Zwei von uns wollten noch etwas backen, kosteten aber wohl zuviel vom Teig. Das kommt davon, wenn man im Internat ist und nichts zum Naschen erwischt. Beiden wurde schlecht. Mutter rannte mit Eimern und machte Umschläge.
Arndt saß inzwischen in der Küche, wo Julchen an der letzten Weihnachtsarbeit werkelte, und klebte Ponybilder in ein Album, für Mutter zu Weihnachten. Morgens gegen vier bekam er Hunger. Das Feuer war aus. Er stellte den elektrischen Ofen neben sich auf einen Hocker, mit den Heizspiralen nach oben, und darauf die Pfanne mit den restlichen Bratkartoffeln. Als Mutter hereinschoß, stieß sie an das Gebäude. Es war das erste und einzige Mal, daß Onkel Bubi, der im Zimmer unter der Küche schlief, an die Decke klopfte.
Trotz dieses pannösen Anfangs und vielfältiger Aufregungen wurden diese Weihnachtsferien ein voller Erfolg. Nun konnten auch wir großen Mädel reiten. Arndt mit seinem Gardemaß verzichtete. Dafür machte er gute Aufnahmen mit seiner kleinen Kamera. Wir anderen versuchten uns abwechselnd auf der Schecke, während Steffi die Blacky tummelte. Ben, unser federleichter Jüngster, stieg zuweilen schon auf Schnute, die – längst an die Trense gewöhnt – sich überdurchschnittlich kräftig entwikkelte. Freilich war das zu zeitig, aber sein Federgewicht und Schnutes Robustheit, dazu der schöne Schnee, in dem die Pferde so weich gehen wie in der Lohe einer Reitbahn – nein, wir konnten nicht widerstehen.
Schnute machte übrigens komische Kapriolen, um den ungewohnten Reiter loszuwerden. Außer den üblichen Kniffen, wie Rücken krumm, Abstoppen aus endlich erzwungenem Galopp und Seitwärtstreten, die jedes normale Pferd beherrscht und mit denen Schnute bei Ben schon nach dem ersten Mal keinen Erfolg mehr hatte, ersann sie andere Methoden. Einmal stieg sie – sie ist ausgesprochen pomadig, bewegt sich würdig und gemessen – in einen mit Schnee gefüllten Graben. Dort wurde sie Ben planmäßig los. Er krabbelte im Schnee herum wie die Maus im Mehlsack, und wir hörten ihn gedämpft schimpfen:
„Schnute, du Walroß!“ Später legte sie sich, auch im Geschirr vor dem Wagen oder unter dem Reiter, einfach hin, wenn es ihr nicht mehr paßte. Das Bild eines in sich zusammensinkenden Reitermonuments ist wohl das Lächerlichste, was man sich bei diesem Sport vorstellen kann. Wir brüllten vor Vergnügen. Ben, in seiner Reiterehre gekränkt, ritt von nun an mit Sporen. Schnute lernte bald, was sie sich erlauben durfte und was nicht.
Sie ist ein ausgezeichnetes Geländepferd geworden, nicht allzu schnell, aber gehorsam. Sie geht über jeden Baumstamm oder Graben, den man ihr abverlangt, klettert die steilsten Hänge hinauf und herunter, marschiert sogar durch Wasser, ohne zu mucksen. Aus der Zeit, in der sie zugeritten wurde, hat sie einen grämlichen Zug ums Maul behalten, der uns an Borgmeister erinnert. Der sah auch immer so mißvergnügt drein, wenn er nicht die erste Geige spielte. Und damit war es ja bald vorbei.
In Westfalen war das Heu stets knapp, in jenem Winter aber besonders. Kein Bauer rückte welches raus. Damals erfuhren wir, wie genügsam und hart Ponys sind. Daß sie unterm Schnee weiden und daß der Stall kalt sein muß, wußten wir schon. Unserer hatte nach der Koppel zu eine Luke, gerade so hoch, daß Schnute und Blacky rein- und rausspazieren konnten. Wir setzten keine Tür in diese Öffnung und konnten oft beobachten, daß die Kleinen auch bei scharfer Kälte nachts nicht im Stall blieben. Vor allem Schnute zog es vor, draußen im Schnee zu schlafen, ob nun aus Leidenschaft oder weil sie sich durch die beiden anderen beengt fühlte, blieb ungewiß. Sie hatte aber auch den weitaus dicksten Pelz von den dreien. Sogar Schecki, die doch nur ein halbes Shetlandpony war, ertrug die Kälte anstandslos. Alle drei sahen komisch aus mit ihren fast spannenlangen Haaren, wie die Bären, nur daß der eine Bär schwarzweiß gescheckt war.
Das Heu reichte also nicht annähernd, aber Stroh gab es auf der Domäne genug. Wir holten jeden Abend mit dem Rodelschlitten einen Ballen Preßstroh, warfen ihn in den Stall und schnitten ihn auf. Am Morgen war er zum größten Teil verspeist, das andere Stroh diente den Ponys als Lager. Auf diese Weise kamen wir tadellos über den Winter, ohne daß unsere kleinen Pferde abmagerten. Geglaubt hat es uns allerdings niemand. Etwas Hafer fütterten wir zwar zu und alle Küchenabfälle, deren wir habhaft werden konnten.
Hafer wirkt bei Ponys wie ein besonders starkes Gemisch beim Auto. Sie werden lebhaft und eifrig, wir haben es ausprobiert.
Eines Tages kam Besuch, dem wir von den Ponys erzählten. Schließlich meinte die kleine Frau, sie würde sehr gern ein Stück spazierenfahren. Oder ginge es dabei wild zu?
Großmutter, eingedenk ihrer erfolgreichen Ponyfahrt, beruhigte sie. Die kleinen Schwarzen liefen wohl recht flott, aber von Wildheit sei nichts zu spüren. Neugierig und vergnügt schlenderten Großmutter, der liebe Besuch und Mutter nach dem Kaffee der Koppel zu. Steffi spannte gerade ein. Schecki stand aufgehalftert daneben.
„Fährst du, Ben? Dann reite ich voran“, sagte Steffi. Der Gast bestieg den Wagen, und los ging es.
Großmutter hatte nur zusehen wollen. Aber auch das blieb ihr zum Glück erspart. Steffi war angaloppiert, und die beiden kleinen Rappen vor dem Wagen zogen an. Pferde kleben ja zusammen wie Briefmarken. Schecki wollte und sollte den Tälchenweg entlanggehen, einen hübschen, landschaftlich reizvollen Weg, der für Autos gesperrt ist. Im Nu war Schecki um die Kurve hinter Völlermanns Wirtschaft verschwunden.
Blacky und Schnute kannten nur eins: hinterher! Der Tälchenweg senkt sich ganz langsam, so sanft, daß man nicht Schritt zu fahren braucht. Die Straße ist glatt, aber griffig. Besser konnte es gar nicht passen. Ben schwenkte die Peitsche (mit der er nie zuschlägt) und johlte: „Hoho, so fahren die Kosaken!“ Und Steffi ließ Schecki hergeben, was sie drinhatte.
Unsere kleine Besuchsfrau wurde blaß. Sogar Mutter, die mit im Wagen saß, hielt sich am Sitzbrett fest.
„Was machst du denn, Borste, zum Teufel!“
„Ich fahr Reklame!“
Die kleinen Schwarzen liefen im Geschirr, daß man ihre Beine nicht mehr sah. Von Zeit zu Zeit fielen sie in Galopp. Dann parierte Ben durch „O-la, o-la“, aber auch der Trab war schnell genug.
An der zweiten Kurve, die eng und unübersichtlich ist, hatte die junge Frau die Bremse entdeckt und zog sie schreiend vor Angst. Unsere Bremse war von jeher nur ein schmückendes Requisit. Sie quietscht zwar ohrenzerreißend, aber viel bewirkt sie nicht. Dafür war sie sehr teuer.
Wir haben weder umgeworfen noch sind wir irgendwo gegengefahren. Als Mutter sah, daß die junge Frau vor Angst zu weinen begann, griff sie ein und stoppte die Höllenfahrt. Heimzu ging der Gast zu Fuß, man hätte doch, meinte er verschämt, auf diese Weise mehr von der Landschaft. Mutter war wütend. Sie wäre auch zurück gern gefahren und mußte sich nun noch für ihre Kinder entschuldigen.
Später hat Steffi gestanden, sie habe die Ponys buchstäblich bis an die Nüstern mit Hafer vollgefüllt. Wie sie dazu gekommen wäre? Onkel Bubi habe ihr welchen geschenkt, weil sie ihm doch jeden Morgen Zigaretten holte. Wieweit dies der Wahrheit entsprach, war nie festzustellen.
Wir haben jedenfalls daraus gelernt, daß es keine dumme Redensart ist, wenn man von jemand sagt, ihn sticht der Hafer.