Читать книгу Ritt in den Morgen - Lise Gast - Страница 5
ОглавлениеPetras anruf kam mir sehr, wirklich sehr ungelegen. Nach Hause! Unsere Mutter vertreten! Wieso eigentlich immer ich?
»Du könntest das viel besser«, sagte ich, »erstens bist du älter und zweitens als Lehrerin daran gewöhnt, Anweisungen zu geben und auf Ordnung zu halten. Ja, ich weiß, Erwachsene sind manchmal schwerer zu behandeln als Kinder, aber du hast eine so überlegene Art.« Ich hoffte, Petras Seele mit diesem Kompliment zu fangen. Sie ist fünf Jahre älter als ich und hat unsere ganze Kinder- und Jugendzeit von ihrem Erstgeburtsrecht Gebrauch gemacht.
»Überlegen? Findest du mich etwa eingebildet?« Petras Stimme klang empört. Freilich, es war wohl noch nie passiert, daß ich versuchte, etwas Unangenehmes, das auf uns beide zukam, ihr zuzuschieben.
»Nein, nein. Ich meine natürlich ja, ja«, stammelte ich. »Überlegen ist doch etwas Gutes. Ich wünschte, ich wäre es!«
»Das, was du meinst, kann man auch mit einundzwanzig sein, Kari. Und ist man es nicht, dann wird es höchste Zeit, es zu lernen. Du fährst also. Ich kann beruflich nicht weg, und selbst wenn eine Vertretung da wäre: ich habe eine Verabredung.«
»Ich auch«, hakte ich ein. Wie gut, daß sie mir das Stichwort gab!
»Die sagst du ab«, bestimmte Petra, »oder ist es das Lebensglück, um das es sich handelt? Sag die Wahrheit!«
»Es ist – es ist ... Ich finde es unzart, mich am Telefon sowas zu fragen«, stotterte ich, und es kam so kläglich heraus, daß ich genau fühlte: Nun ist die letzte Chance dahin.
»Hundert Prozent?« fragte Petra streng.
Ich kann mir denken, daß die Kinder, wenn Petra in diesem Ton fragt, sofort alles zugeben, was sie ausgefressen haben – und noch etwas dazu. Petra ist die geborene Lehrerin.
»Neunzig«, sagte ich kleinlaut. Das stimmte nicht. Es waren einmal neunzig gewesen, fast hundert, jetzt aber höchstens noch zwanzig. Immerhin war ich entschlossen: wenn ich schon nachgab, dann wenigstens mit der Gloriole eines großen Opfers ums Haupt.
»Na schön. Bei einem so geringen Prozentsatz lohnt es doch nicht. Du fährst also. In deinem Beruf geht das ja, jetzt, im Sommer. Sei froh, daß du einen so einsichtsvollen Chef hast. Und grüß Mami, sie wird mir dankbar sein, daß ich es so geordnet habe. Leb wohl, sonst kostet es zuviel.« Eingehängt, Schluß.
Da stand ich also. ›In deinem Beruf‹ und ›Sie wird mir dankbar sein!‹ Ich schluckte. So ist es immer. Meinen Beruf nimmt niemand ernst. Und meine Verabredung? Ich war wütend. Doch als ich eine Weile innerlich gewütet hatte, dachte ich an Mami und schämte mich meines Zorns.
Unsere Mutter – das muß ich deutlich betonen – ist anders als andere Mütter, aber wirklich reizend. Sie hat einen ganz kleinen Tick, und nahezu alle Leute, die in unser Haus kommen, haben einen. Mutter behauptet, mit völlig Normalen könne man ohnehin nicht auskommen. Deshalb vielleicht ist Petra Lehrerin geworden, damit sie einen richtigen, ernstzunehmenden Beruf hat. Bei mir reichte es leider nicht zu so etwas Hohem, nur zur Goldschmiedin. Ich bin sowieso nur die dumme kleine Kari, und wenn man das einundzwanzig Jahre lang war, bleibt man es auch, sogar vor sich selbst.
Unser Vater ist schon so lange tot, daß ich mich kaum mehr an ihn erinnere. Mutter hat uns allein aufgezogen, auf eine sehr tapfere und gleichzeitig lustige Weise. Sie hatte nämlich nichts gelernt, als ein Gut zu führen, und das Gut von Großvater gehört uns nicht mehr, nur noch das Haus und einige Morgen Weideland. Da hat Mutter kurz entschlossen zehn kleine Reitpferde gekauft, Islandponys, und einen Verleihstall aufgemacht. Sehr bald kamen viele Leute, um bei uns zu reiten, entweder stunden- oder tageweise oder auch ein paarmal im Jahr auf größeren Touren. Mutter vermehrte den Pferdebestand, pachtete Land hinzu und konnte sogar ein Gästehaus bauen, das aber noch nicht abbezahlt ist. Unversehens wuchs ihr das Ganze ein wenig über den Kopf, vor allem seit wir Töchter nicht mehr daheim sind. Wir haben überall geholfen und sind eingesprungen, wenn es nötig war. Nun ist Mutter vor einem dieser großen Ritte von Tigul gestürzt und nicht voll aktionsfähig. Das ist natürlich ein Hieb des Schicksals, auch für mich.
Ich bin an solche Hiebe gewöhnt. Zum Examen beispielsweise wurde der netteste Herr der Prüfungskommission krank, und der, der ihn vertrat, schüchterte mich so ein, daß ich im Mündlichen restlos versagte. Und was für Pech hatte ich oft in der Schule! Ach, und in der Liebe erst! Wenn ich mich ernstlich verliebe, liebt derjenige bestimmt eine andere, die entsetzlich klug ist und keine Stubsnase hat wie ich oder ganz, ganz dünn ist – das bin ich trotz aller Hungerei auch nicht –, oder er muß in eine andere Stadt ziehen oder geht ins Ausland, oder er ist verheiratet. Im Grunde hab ich nichts mehr zu hoffen; wer in meinem Alter noch nicht weiß, zu wem er gehört, der heiratet sicher nicht mehr. Daß ich immer noch nicht ganz aufgegeben habe, liegt an meinem angeborenen Optimismus. Er flüstert mir etwa zu, daß man, wenn man ins Theater will und alle Karten ausverkauft sind, an der Kasse vielleicht noch eine zurückgegebene bekommt. Freilich, ein zurückgegebener Mann ...? Dann bleibe ich wahrhaftig lieber im Beruf.
Dieser Art waren meine Gedanken, als ich mein Köfferchen packte und die Bahn bestieg. Nicht einmal bei den Reisekosten hatte mir Petra ›halbehalbe‹ angeboten. Die ganze Welt erschien mir düster und ich mir selbst bemitleidenswert.
Ich fuhr also. Aber ich bin leider so geartet, daß sich schlechte Laune und Traurigkeit bei mir nicht sehr lange hält, bin also, fürchte ich, ein etwas leichtfertiger Charakter, ohne großen Tiefgang, wie mir immer wieder versichert wird.
Ich kann nichts dafür.
Als ich in Mannheim ausstieg, hörte ich jemanden den Finnländischen Reitermarsch pfeifen und merkte erstaunt, daß ich es war – und als wir mit der Fähre über den Rhein setzten, war ich so selig, heimzukommen, daß ich am liebsten vorangeschwommen wäre. Und dann die letzte Strecke zu Fuß! Ich bin diesen Weg, glaube ich, kaum einmal langsam gegangen; abends heimbegleitet hat mich nie jemand, den Mannheimern war das immer zu weit. Und ich rannte auch diesmal, immer schneller. Hindurch durch die Vorstadt, ein Stück Landstraße – da sieht man schon unser Haus. Ich lief und lief, das Köfferchen schlenkerte mir um die Beine. Da: Rudolfshof! Drei Stufen, die Haustür. Erst stolperte ich über Anna, die, klein, grau und alt, nur einen Quiekser ausstoßen konnte, nachdem sie mich erkannt hatte, und hinein ins Wohnzimmer.
»Mami, Mami!«
Mutter lag auf der Couch, braungebrannt mit roten Pausbacken – sie sieht ja immer aus, als wäre sie eben im Urlaub gewesen –, und wir küßten einander und lachten und sprachen atemlos; wir brachten keinen Satz zu Ende. So geht das immer, mit Mutter ist es wie mit einer Freundin.
Wir kamen auch bald aufs Wesentliche, denn Mutter fragte, ob ich denn weggekonnt hätte und nichts Wichtiges verpaßte.
Doch, sagte ich, eine Verabredung. Und nun brach mit einem Mal durch, was ich vor mir selbst bisher nicht hatte zugeben wollen: der Kummer mit diesem Mann, mit Roland Hart. Wenn man bei Mutter sitzt, ist das mitunter so. Sie fragt nie neugierig oder zudringlich oder auch streng, wie andere Eltern es tun, wenn man den Erzählungen meiner Bekannten glauben darf; aber sie versteht etwas, was heutzutage Seltenheitswert hat: sie kann zuhören. Nicht nur mit dem Ohr, auch mit dem Herzen. Und da öffnet sich einem das eigene Herz von selbst.
Ich bin Goldschmiedin geworden, weil ich gern mit schönen Dingen umgehe, und auch, weil ich mir einbildete, man könne mit schönen Formen und edlem Material anderen Menschen das Leben bereichern. Ebenso, meinte ich, dächte und fühlte Roland Hart, und ich glaubte in ihm den Hundertprozentigen gefunden zu haben, wie Petra und ich es nennen. Dann aber wurde mir klar, daß für ihn ›schön‹ oft dasselbe ist wie ›günstig‹, ja, daß er manchmal den Leuten, die im Geschmack unsicher sind, Kitsch verkauft, statt ihnen beizubringen, was wirklich wertvoll ist. Nur weil es Geld einträgt. Er hat dann ein kleines mokantes Lächeln, das ich gar nicht mag. Einmal hat er es sogar ausgesprochen. »Laß sie doch, wenn sie es schön finden! Sie bezahlen es ja.« Da sank er in meinen Augen von seinen hundert Prozent auf bestenfalls zwanzig.
Ich erzählte Mutter davon, soweit sich dergleichen überhaupt in Worte fassen läßt, und dabei kamen mir die Tränen.
Sie nahm mich um den Hals. »Ich kann dir nachfühlen, Kari, daß das weh getan hat. Aber wenn man schon heiratet, dann muß es der Richtige sein, der ganz Richtige, nicht wahr?«
»Und woran merkt man das? Bei Roland hab ich es so sicher geglaubt, lange Zeit.«
Mutter lächelte mich an, so lieb, wie nur sie es kann. »Das merkt man schon eines Tages. Nicht immer sofort. Aber plötzlich weiß man: das ist er.«
»Ob ich das auch merke? Du hattest Vater, Mami, du warst gut dran.«
»Ja.« Mutter sagt zuweilen ein einziges Wort, da ist alles drin. Dann fragte sie behutsam weiter: »Erzählst du mir noch etwas von ihm, oder möchtest du lieber nicht?«
»Doch. Er ist sehr begabt, hat ein großartiges Examen gemacht und einen Preis und zwei Wettbewerbe gewonnen und ... Weißt du, er ist sehr einfallsreich, von der Formgebung her, ein ganz toller Goldschmied. Viel, viel besser als ich. Und –«
»Nun?«
»Eine Stimme hat er, Mami, eine Stimme, wie dunkler Samt, so weich. Wenn ich die hörte –«
»Du sagst: hörte.« Sie betonte das ›te‹ etwas stärker.
Ich nickte. »Ja, hörte. Ach, Mami ... Weißt du, gern hab ich ihn immer noch, aber der Richtige ist er wohl nicht.«
Mutter schwieg. Endlich sagte sie leise: »Bei dir kommt auch noch der Richtige. Und angewiesen aufs Heiraten seid ihr ja nicht, ihr Mädchen heute, ihr habt euern Beruf. Wieviel leichter hätte ich es gehabt, damals als Vater starb ...«
Mutter kam ins Erzählen, wie sie Vater kennengelernt hat. Er war auch nicht ihre erste Liebe, das finde ich sehr beruhigend. Sie brauchte einige Zeit, bis sie entdeckte, daß er der Richtige war. Ein anderer hatte ihr den Blick verdunkelt, und ihre Augen mußten erst wieder klar werden. Wir gut ich das verstand! Auch aus ihrer kurzen Ehe erzählte mir Mutter; nur neun Jahre war sie verheiratet – und fünf Jahre davon waren sie getrennt durch den Krieg.
»Es ist nicht leicht, eine gute Ehe zu führen, Kari, auch nicht mit dem geliebtesten Mann. Ich bin sehr glücklich mit Vater gewesen, aber ich mußte viel Lehrgeld zahlen, bis ich verstand, daß einem eine glückliche Ehe nicht beschert wird, sondern daß man sie erringen muß, jeden Tag aufs neue. Beide müssen darum kämpfen, vor allem aber die Frau. Und nicht das erste Jahr war das schönste, vielmehr das letzte. Es ist nicht gut, zu früh zu heiraten, Kari, glaub mir. Je älter man wird, desto besser erkennt man, welches der Richtige ist. Wer einen befriedigenden Beruf hat, kann es sich leisten, zu warten und abzuwägen. Da wir grade vom Beruf sprechen, Karola Rudolf: wie ist es? Hast du den rechten gefunden? Oder möchtest du noch wechseln? Du bist jung, noch wäre es Zeit.«
»Hm.« Ich überlegte. »Wahrscheinlich sind alle Berufe, wenn man darin ist, etwas anders, als man sie sich vorgestellt hatte. Ich wollte mit meinem den Menschen Freude machen. Vielleicht gelingt es mir auch eines Tages. Vorläufig bin ich noch nicht soweit. Das Handwerkliche, ja, das gefällt mir, aber das ist ja nicht das Ausschlaggebende.«
»Schön. Warten wir noch ein wenig ab. Und nun gibst du deinen Urlaub dran, mich zu vertreten. Ein großes Opfer, Kari, sag?«
»Ich bin gern gekommen, Mami, wirklich«, sagte ich schnell, und es war keine Lüge. »Ich reite gern für dich. Überhaupt ...« Wahrhaftig, jetzt erst fragte ich, sehr beschämt, nach ihrem Sturz.
Mutter erzählte. Tigul ist ihr durchgegangen. Er bekommt manchmal Anfälle von Raserei. Dafür kann er nichts, sagt sie. Tigul ist unser Hengst, und ihn reitet nur sie selbst. Sie kommt meist ganz gut mit ihm zurecht, nur mitunter erweist er sich als der Stärkere. Er hat sie abgesetzt, und da er auf eine große Autostraße zustrebte, ließ Mutter nicht los und wurde einige siebzig Meter geschleift, bis er stand.
»Was du nicht alles anstellst. Und wo ...?«
»Landkarte auf Südpol.«
Wir kennen das. Unzählige Male sind wir ›ausgestiegen‹, wie der Reiter sagt, in Brennesseln gelandet, haben Schlüsselbeine gebrochen, Haut gelassen und Knöchel verstaucht. Blaue Flecke zählen schon gar nicht. Mir ahnte aber, daß es Mutter gewaltig erwischt haben mußte.
In diesem Moment kam Anna hereingehatscht und schleppte ein Tablett mit Spiegeleiern und Kaffee und Schinken und Sahne herzu. Sie ist bereits in der Familie gewesen, als Großvater noch das Gut bewirtschaftete, und da hatte man jeden so begrüßt. Tatsächlich knurrte mir der Magen, vom Weinen bekomme ich immer Hunger, und es schmeckte mir herrlich. Mutter legte sich auf die Couch zurück.
»Also morgen geht’s los«, sagte sie. »Mir ist von den schmerzstillenden Tabletten schon ganz komisch. Nun kannst du die Kolonne führen. Ich komme mit dem Futterwagen am Abend nach, am Tag aber darf ich liegen, eine Wohltat!«
»Bleibst du auch bestimmt liegen und schonst dich?«
»Ich verspreche es dir. Um so schneller werde ich ja wieder gesund.«
»Und welches Pferd bekomme ich?«
»Welches du willst. Nur Tigul nicht, bitte ich mir aus!«
»Danke. Ich bin weder übertrieben ehrgeizig noch lebensmüde. Ist Wisky noch frei?«
»Wenn du ihn möchtest, kriegst du ihn, selbstverständlich.«
Wisky ist ein gedrungener, nicht hoher, aber überaus munterer Wallach, der sozusagen von allein vorwärtsgeht. Wenn man wie wir von Kind auf reitet, hat man keine Schwierigkeiten mehr und bevorzugt Pferde, die Gang haben. Lieber dreimal abgeworfen werden als treiben müssen.
»Fein! Und wer reitet alles mit?«
Was nun kam, war der Wermutstropfen. Lauter Frauen hatten sich gemeldet. Reiten ist die Leidenschaft des weiblichen Geschlechts, wenn auch die Spitze dieser Kunst immer noch von Männer gehalten wird. Männer wollen im Sattel etwas leisten, Frauen lieben das Pferd, den Leder- und Stallgeruch, kurz, die Romantik des Reitens.
»Ein ausgesprochen weibliches Unternehmen!«
»Arme Kari. Aber es sind nette dabei«, tröstete Mutter. Und dann leuchteten ihre Augen auf. »Vielleicht stößt auch Tobias zu euch. Er sprach davon, wußte nur nicht, ob er das Pferd bekäme. Und einen Vertreter. Du kennst Tobias noch nicht?«
»Nein, nie gehört.«
»Lore hat ihn einmal mitgebracht. Seitdem reitet er öfters bei uns. Zur Zeit wohnt er in Mannheim bei Freunden von Lore, Apothekersleuten.«
Ich holte die Wanderkarte, und wir vertieften uns. Der erste Tag werde hart, sagte Mutter, über fünfzig Kilometer, mit zwei Pausen, dafür sei alles Ebene. Für die folgenden Tage hatte sie kleinere Strecken angesetzt. Wir müssen uns ja auch danach richten, wo man mit den Pferden übernachten kann. Einige Gasthöfe in entsprechenden Entfernungen kennen unsere Kavalkade schon seit Jahren. Diesmal ging es also zunächst bis Sankt Martin, einem Städtchen am Rande des Pfälzer Waldes. Der ›Goldene Ring‹ dort hat gute Bergweiden für die Pferde und einen ausgezeichneten Weinkeller für die Menschen, was mich nicht besonders interessiert, aber manche unserer Kunden.
»Du kennst ja den Weg. In Sankt Martin kommt noch eine Dame aus Berlin dazu, für die müßt ihr ein Handpferd mitnehmen. Was meinst du, vielleicht Sherry?«
Ich verschluckte einen Seufzer. Der Ritt an sich kam mir nun schon verlockend vor, aber ein Handpferd mitschleppen zu müssen begeisterte mich wenig. Gewöhnlich geben wir die ›leeren‹ Pferde den mitreitenden Männern, also den Studenten oder Schülern, und die wechseln untereinander ab. Wenn ein Handpferd nicht hervorragend geht, ist das Reiten wirklich kein Genuß mehr. Und unsere Isländer sind bockig ...
Mutter versuchte mir einzureden, daß vielleicht – da ging das Telefon. Ich nahm ab und atmete auf. Es war meine Freundin Lore, die ich sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Ob noch ein Pferd frei sei, fragte sie, sie würde gern mitreiten. Es freute mich, daß sie mitkam; Lore kann man bedenkenlos ein Handpferd anhängen, notfalls einen jungen Elefanten. Sie gehört zu der Sorte von Mädchen, die so patent, vernünftig und brauchbar sind, so zuverlässig und kameradschaftlich, daß sie fast nie geheiratet werden. Die Männer sind doch ein dummes Volk. Bei Lore kann es freilich auch sein, daß sie zu wählerisch ist. Sie ist überaus tüchtig im kaufmännischen Beruf, sehr klug und viel reifer als ich.
»Natürlich bekommst du ein Pferd, Lore. Großartig. Mutter läßt grüßen.«
»Siehst du«, sagte Mutter nachher erleichtert, »wenn Lore mitreitet, hast du doch jemand Vertrautes dabei.« Das fand ich auch. Dann aber mußte ich mich in die unteren Gemächer des Hauses begeben, wo Trensen, Ponchos und Kopfgeschirre numeriert an der Wand hängen sollen, die Sättel auf Böcken. In Wirklichkeit ist allerdings nichts dort, wohin es gehört. Immer wieder bringt jemand alles durcheinander, sucht etwas, wirft vieles herunter, stapelt aufeinander, schimpft über den Kuddelmuddel und vergrößert ihn dabei nur noch mehr. Da hilft keine Schlamperkasse, die Mutter eingeführt hat, um Nachlässige zu erziehen; aus ihrem Erlös bekommt alljährlich das Waisenhaus unseres Ortes am Tag des Nikolausrittes beschert.
Ich fing also an, zu suchen und zu ordnen, und nach einer Weile tauchte Anna auf, um mir zu helfen. Es ist noch nicht lange her, da haute sie mir, wenn ich einmal träumerisch ins flackernde Kaminfeuer starrte, eins hinten drauf und schalt: »Steh nicht rum, tu was!«
Seit ein paar Jahren haut sie nicht mehr. Ob ich jetzt erwachsen bin und sie deshalb Respekt vor mir hat? Oder wird sie alt? Ich meine, alt war sie schon, als ich geboren wurde.
Kurz und gut, sie half und unterhielt mich dabei, wie schon so oft, indem sie darüber lamentierte, daß Petra und ich so ›städtische‹ Berufe haben. »Könntet ihr nicht einen Landwirt oder Tierarzt oder sowas Nützliches heiraten?« grollte sie. »Einen Mann, der den Betrieb hier in Schuß bringt und eurer Mutter das Schlimmste abnimmt?«
»O Anna! Schon als Wickelkinder wolltest du uns verheiraten. Du bist doch auch ohne Mann durchs Leben gekommen!«
»Ich? Ich habe ja hier meine Heimat«, sagte sie barsch. »Ich auch«, erwiderte ich lachend und nahm ihr damit den meisten Wind aus den Segeln, nicht allen; aber ihre Bemerkung wollte mir doch nicht aus dem Sinn, während wir weiter sortierten. Wenn Mutter nun schon keinen Sohn hat, sollte sie wenigstens einen handfesten Schwiegersohn kriegen. Das wäre gar nicht schlecht.
Ich konnte nicht länger grübeln, sondern mußte aufpassen: hier Granis Trense und dort Gins Bauchgurt, der muß an Gislis Sattel; halt, nein, Gislis Sattel trägt seit einiger Zeit Rautka, dafür kriegt Sherry Rautkas Schweifriemen ... Ich kenne das, und es wäre zum Verzagen, wenn man nicht aus Erfahrung wüßte, daß zuletzt, o Wunder, doch alles vorhanden ist, was man braucht, und man aufatmend und erwartungsfroh an den nächsten Tag denken kann.
So geht es mir jedesmal. Obwohl: unsere goldene Kinderzeit im Sattel, um die jeder uns beneidet, hatte wahrhaftig auch ihre Schattenseiten. Mutter nimmt jeden an, der hier Urlaub machen will, sie hat den Sprachfehler, daß sie nicht »nein« sagen kann. Jeden Sommer bettelten wir, doch ausnahmsweise unser Zimmer behalten zu dürfen, und jedes, jedes einzige Jahr kam es trotz mütterlicher Versprechungen eines unschönen Tages doch wieder so, daß es hieß: »Ja, Sie können das Zimmer meiner Töchter haben. Aber ich bitte Sie, für diese kurze Zeit! Drei Wochen. Da machen sie es doch gern einmal frei.«
Gern! Einmal! Aber wir taten es, notgedrungen, denn schließlich leben wir davon. Wir schliefen auf Luftmatratzen im Flur oder im Badezimmer oder in der Dachkammer, wo es heiß ist wie unter den Blechdächern von Venedig, und strahlten pflichtschuldigst, wenn die Bewohner unseres Zimmers sich bedankten. Trinkgelder bekamen wir nie, wir sind ja die Töchter des Hauses ... Ich will gar kein Trinkgeld. Aber es ärgert mich, wenn immer wir die Unordnung der andern schlichten und am Morgen des Abrittes alles besorgen müssen, vom Zaumzeug bis zum elektrischen Zaun, vom Futter bis zum Gepäck, das im Wagen nachkommt.