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I

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Der Heimhof

Ullo erwachte mit einem Ruck. Sie setzte sich aufrecht hin, alle ihre kurzen Haare standen ebenfalls aufrecht, was ihr in dem blauleinenen Schlafanzug das Aussehen eines unternehmungslustigen Lausbuben gab, wenn man nicht genau hinsah. Sie hob den rechten Zeigefinger, wie der Lehrer Lämpel in ›Max und Moritz‹.

»Ich hab’s«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich weiß es. Und ich tu’s. Heute oder nie.«

Niemand hörte es außer ihr selbst. »Und der liebe Gott«, fügte sie verschmitzt hinzu. Nun konnte sie es also nicht mehr rückgängig machen, er hatte es gehört.

Ullo Amberg hieß eigentlich Uta Ludmilla Leonore Ottilie Amberg, verwitwete Freiwald, geborene von Georgy, sie trug also eine Reihe traditionsbeladener, heutzutage unmöglicher Namen, die sie übrigens als Kind schon unmöglich gefunden hatte, und die sehr bald in das handlichere ›Ullo‹ zusammengezogen wurden. Diese Ullo Amberg wurde heute fünfzig, und nicht nur deshalb sollte der Tag für sie schicksalhaft werden. Zum Glück wußte sie es nicht, wie die meisten Menschenkinder, die ahnungslos den Tag beginnen, an dem die Uhr ihres Lebens vom heiteren Alltag zu unvergeßlich Einmaligem vorrückt. Wäre es besser, es zu wissen? Lassen wir die Frage offen. Fünfzig Jahre, nicht mehr jung, wie jeder zugeben wird, aber auch noch nicht alt. So fand sie selbst. Darauf allein kommt es an, betonte sie vor sich. Kein anderer brauchte es zu finden, da sie ja doch Witwe war, auch das zweitemal bereits über zehn Jahre lang, und sie pfiff auf alles, was andere Frauen vielleicht bewog, jung und schön auszusehen: junge Liebhaber, alte Verehrer, Karriere oder Konkurrenz mit heranwachsenden Töchtern. Dies alles ging sie nichts an, dazu hatte sie glücklicherweise keine Zeit und brauchte keinen Gedanken daran zu verschwenden. Hätte allerdings sie jemand in diesem Augenblick kerzengerade im Bett sitzen sehen, so hätte er sie zweifellos jung aussehend gefunden, etwa, wie gesagt, wie ein braungebrannter Junge, dem ein toller Streich eingefallen ist. Aber niemand war da. Dies geschah nämlich ganz, ganz früh am Morgen; selbst die Sonne war noch nicht wach, und die Sonne hat es um diese Jahreszeit wahrhaftig eilig, einen zur Arbeit zu rufen. Ullo überzeugte sich davon durch einen Blick aufs offenstehende Fenster, legte sich aber nicht wieder hin, sondern blieb sitzen, damit sie nicht wieder einschlief und diesen Gedanken womöglich wieder vergaß. Hach, als ob das geschehen könnte!

Sie würde ein Pferd kaufen. Sie hatte es satt, sich immer in der drängendsten Arbeitszeit den Trecker borgen zu müssen. Denn natürlicherweise brauchte man ihn dann, wenn ihn der Besitzer auch brauchte. Ein eigenes Pferd, endlich! Sie wußte auch schon, was für eins: einen Norweger. Und sie wußte, plötzlich hellsichtig – nein, im Grunde wußte sie es schon ein paar Tage lang, nur hatte sie sich erst heute endgültig entschlossen, welchen Norweger. Den ›Klob‹. Eigentlich hieß er Pascha, aber man sprach von ihm immer nur als vom Klob, weil er wirklich sehr klobig war, so, wie man Norweger heute eigentlich nicht mehr züchtet. Das aber, daß er klobig war, erfüllte ihr diesen durch Jahrzehnte gehegten heimlichen Wunsch und rettete ihm das Leben vor dem Pferdeschlächter: er war stark. Mit ihm konnte man Heu einfahren, Mist schleppen, pflügen, auch Besuch vom Bahnhof abholen. Und Mammitzschka und Ahnchen und Onkel Panjie spazierenfahren, und, wenn es keiner erfuhr, selbst reiten. Manchmal. Gelegentlich. Ganz, ganz heimlich. Hurra!

Ullo Amberg, von einem schlesischen Gutshof stammend, ausgebildet als landwirtschaftliche Lehrerin, hatte sich seit ihrer zweiten Heirat vom Beruf zurückgezogen und bewirtschaftete den kleinen Hof, den ihr zweiter Mann, seines Zeichens Landwirtschaftsrat, ihr hinterlassen hatte. Mit der Pension, die sie durch ihn bezog, und Mammitzschkas tatkräftiger Hilfe war dies möglich. Sie, Ullo, versah die Außen-, die Männerarbeit, Mammitzschka, die sehr geliebte Mutter ihres zweiten Mannes, die der Frau. Auf diese Weise trug der Hof nicht nur sie beide, sondern auch, nachdem die Tochter Dorothee geheiratet hatte, die beiden alten Leute, die ihnen verblieben waren, und manche erholungsbedürftige andere dazu. Studenten, Kinder, alte Ehepaare, die Erholung suchten – im Sommer waren die Besuchszimmer immer besetzt.

Im Winter war es ruhiger, aber sie vier gehörten seit Jahren zusammen, Ullo, Mammitzschka, der Onkel und Ahnchen.

Ullo war die Jüngste. Und obwohl sie die meiste, die wichtigste Arbeit tat, hatte sie wenig zu sagen. Deshalb – jetzt oder nie – würde sie heute das Pferd kaufen, heute, an ihrem fünfzigsten Geburtstag. Keiner konnte ihr da widersprechen. Nochmals hurra!

Ein Pferd war in ihrem Fall auch billiger als ein Dieselroß. Und vielseitiger zu verwenden. Und stilvoller! Das vor allem. Ullo fühlte eine geradezu kindische Seligkeit in sich aufbranden, wenn sie sich vorstellte, daß sie von jetzt ab mit einem eigenen Pferd arbeiten würde.

»Herrlich!« seufzte sie, legte sich zurück und war im nächsten Augenblick, aller Gewohnheit entgegen, wieder eingeschlafen. Sie schlief bis vier, bis fünf – Ahnchen kam schließlich heraufgeschlichen, weil sie dachte, Ullo sei im Schlaf gestorben. Ahnchen dachte bei jeder Gelegenheit an den Tod und sprach auch davon, eine von Ullo heimlich beseufzte, aber dem Ahnchen nicht auszutreibende Gewohnheit.

»Einmal werde ich recht behalten!« sagte sie bedeutsam, und Ullo konnte dem verständlicherweise nicht widersprechen. Manchmal aber ertappte sie sich dabei, daß sie respektlos und aufsässig dachte (nur dachte, nie aussprach!): ›Was wird aus dem Leben, wenn man den ganzen Tag vom Tod redet?‹

Sie war also nicht tot. Sie erwachte in dem Augenblick, in dem Ahnchen durch den Türspalt guckte, ängstlich und gleichzeitig angenehm gespannt, wer recht behalten würde – nein, es war gemein, so zu denken. Ullo rief sich zur Ordnung.

»Hab ich verschlafen? Wie dumm, entschuldige!« Und sie warf das Deckbett von sich, im Schlafanzug mitten ins Zimmer springend, so daß Ahnchen entsetzt zurückfuhr und die Tür zuschlug.

Ullo grinste. Das Entsetzen in Ahnchens Gesicht galt bestimmt ihrem Schlafanzug, der kurzhosig war und damit ein ewiges Ärgernis für Ahnchen bildete. »Sowas trägt man nicht. Davon bekommt man Rheuma. Möchtest du etwa – sieh mich doch an!«, so begannen die belehrenden Sätze, die Ullo über sich ergehen lassen mußte, sooft Ahnchen den Stein des Anstoßes flickte oder bügelte.

»Du hast ja nie solches Zeug getragen«, sagte Ullo dann manchmal, meistens aber sagte sie gar nichts mehr. Auch Mammitzschka hatte sich abgewöhnt, Ahnchen in dieser Angelegenheit zu widersprechen.

Liebe, vernünftige, rotbackige Mammitzschka! Ullo liebte sie, diese ihre Ander-Mutter, wie sie sie nannte – das Wort Schwiegermutter, so oft im bösen Sinn angewandt, hatte sie gar nicht ins Haus gelassen. Mammitzschka war einfach goldrichtig, zuverlässig, praktisch, herzenswarm und erfüllt von einer heiteren Frömmigkeit. Immer mußte Ullo daran denken, wie sie damals Dorothee aus dem Teich gefischt hatte, obwohl sie selbst nicht schwimmen konnte. Und das Kind ins Haus getragen. »Nicht erschrecken! Die wird wieder!«, obwohl man das erst mindestens zehn lange, bange Minuten später hatte wirklich feststellen können. Aber Mammitzschkas herzhaftes Gottvertrauen hatte ihr, Ullos, Erschrecken in Grenzen gehalten – lieber Gott, nie werde ich dir genug danken können dafür, daß es ein Erschrecken blieb! – Damals war Ahnchen nicht dabei gewesen, zum großen Glück! Man hatte es ihr erst später erzählt, als alles schon wieder gut und im Gleis war. Ach ja, Ahnchen war manchmal ein wenig schwierig zu ertragen, immer wieder mußte man sich vor Augen halten, daß sie eben ohne den Heimhof ganz allein auf der Welt stünde, ganz, ganz allein. Verwandt war sie nicht mit Ullo, auch nicht verschwägert. Man wußte auch nicht viel von ihr und ihrem Leben, sie hütete sich ängstlich, etwas von ›früher‹ zu verraten. Um so herzlicher mußte man sein, fand Ullo. Und wollte ihr das mitunter schwerfallen, dann flüchtete sie merkwürdigerweise innerlich zum Ältesten, dem sehr alten Senior ihrer zusammengewürfelten »Familie«, zu Onkel Panjie, der, schmal, zart, dünn bis zur Durchsichtigkeit, ein Gelehrter vom Kopf bis zur Zeh, eigentlich den Idealtyp des alten Menschen darstellte. Immer freundlich, für jeden Handgriff dankbar, von einer reizenden Heiterkeit – und den ganzen Tag beschäftigt, ohne je hektisch zu wirken. Ob er sich mit der Lupe über seine Briefmarken beugte oder ein Buch aus dem Portugiesischen ins Englische übersetzte, ob er mit seiner gestochenen, so gut leserlichen und trotzdem fließend ausgeschriebenen Handschrift Briefe schrieb, wobei er etwa vorkommende Fehler radierte, das Papier glättete und sorgfältig darübermalte, mit sich selbst Schach spielte, weil er keinen Partner hatte, oder ob er, um doch auch irgendwie nützlich zu sein, Rabattmarken einklebte mit der Genauigkeit des Philologen – immer war er ein rechter Herzenstrost bei allen schwierigen Fragen oder gekräuselten Seelenoberflächen, und die gab es schon in diesem etwas schwierigen Haushalt. Ullo bemühte sich sehr um Frieden und Harmonie, mitunter aber vergeblich. Da war Onkel Panjie dann der Hafen, in den man einfuhr für gestohlene Minuten.

Heute waren sie alle drei schon auf, Mammitzschka, Onkel Panjie und Ahnchen, und hatten ihr einen wunderschönen Geburtstagstisch aufgebaut. Ein runder Kuchen prangte in der Mitte; Ullo hatte sich gestern blind, taub und auch noch verschnupft stellen müssen, um sein Werden im Backofen weder zu sehen noch davon zu hören, noch ihn zu riechen. Kerzen standen darum herum, inmitten ein dickes Lebenslicht mit Marienkäfern und Herzen darauf. Und daneben lagen die Geschenke. Ein Paar selbstgestrickte Handschuhe – jetzt im Juni! Aber lieb gemeint – von Ahnchen, ein Buch von Okel Panjie. Und Mammitzschka trug eben eine Schüssel Schinkenhörnchen herzu, selbstgebacken, sehr lecker, solche, wie Ullo sie sehr gern aß, sich aber immer verbot, denn sie wollte nicht dick werden. Nicht aus Eitelkeit, sondern aus praktischen Gründen. Man kommt mit fünfzig die Heubodentreppe leichter hinauf, wenn man dünn ist, man kann besser rennen, wenn das Jungvieh ausgebrochen ist, und braucht sich vor sich selbst nicht zu genieren, wenn man während der Ernte manchmal heimlich in den Stausee springt, um sich abzukühlen.

Heute aber war Ausnahme, heute war Geburtstag, noch dazu fünfzigster! Ullo bedankte sich gerührt und glaubhaft erstaunt reihum.

»Jetzt aber muß ich füttern gehen«, sagte sie schließlich. Sie hatte es von Minute zu Minute hinausgeschoben und hoffte nun, endlich damit durchzukommen. Aber sie kam nicht durch.

»Ist schon gefüttert!« strahlte Ahnchen, und man sah, daß die beiden andern es auch gern verkündet hätten. Es war das größte Geschenk, so meinten sie. Und nun, da Ullo wirklich erstaunt war, antworteten sie im Chor:

»Dorothee ist da!«

»Was!«

Dorothee, Ullos Tochter, einziges Kind aus zweiter Ehe, seit einem Jahre verheiratet. Sie hatte schon einen Sohn und konnte nur mit Mühe weg von daheim, heute aber, zum Fünfzigsten ihrer Mutter, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, zu kommen. Gestern in tiefer Nacht war sie eingetroffen, und heute früh hatte sie als erstes gefüttert.

Sie kam dann bald. Und nun konnte die ersehnte Begrüßung stattfinden, Ullo drückte die Tochter lachend ans Herz.

»O ihr Heimtücker, eine Verschwörung! Aber ich habe wirklich nichts geahnt, und du bist schon ein rechtes Gottesgeschenk, Dorothee! Ich freu’ mich sehr, sehr. Und ich habe auch noch eine Überraschung, daß ihr’s nur wißt!« In Dorothees Anwesenheit fühlte sie sich stark.

»Was denn?« fragte Ahnchen, brennend vor Neugierde. Ahnchen war neugierig wie ein kleines Mädchen, obwohl sie es zu verbergen trachtete. Auch in Mammitzschkas Augen blinkerte es begierig, und Ullo machte es Spaß, die beiden noch ein wenig auf die Folter zu spannen.

»Ihr müßt raten. Es ist groß und braun – nein, nicht eigentlich braun. Golden – hell – fahlgolden«, spann sie aus, »und dick und geliebt – und es wird euch viel, viel Freude machen.«

»Ich weiß schon«, sagte Ahnchen gekränkt. »Also ich finde – in deinem Alter – Ullo, denk an dein Alter!« setzte sie betont hinzu. Sie sagte das ungefähr seit zwanzig Jahren.

»Ich denke dran, deshalb will ich ja –« rief Ullo hitzig. Onkel Panjie hob beschwörend seine schmalen Gelehrtenhände.

»Aber sie hat ja noch gar nicht gesagt, was es ist!« dämpfte er ab.

»Als ob wir das nicht wüßten!«

»Also Dorothee, nun sag du mal –« setzte Ullo an, »ich hab’ es satt, mir immer den Trecker leihen zu müssen, wenn die andern ihn verständlicherweise nicht gern hergeben und –«

»Und? Da willst du also jetzt –«

Alle sprachen gleichzeitig, außer Onkel Panjie natürlich. Er versuchte zu schlichten, Ullo war plötzlich den Tränen nahe, sehr ungewohnt bei ihr, Dorothee merkte es genau und überlegte rasend schnell, wie sie die Katastrophe abbiegen könnte – Tränen am fünfzigsten Geburtstag am Frühstückstisch! Da kam, Gott sei gelobt, der Deus ex machina – die Tür öffnete sich, nicht leise, sondern mit einem Bums, und im Zimmer stand – endlich Ullos Generation. Nicht nur das, sondern eine sehr handfeste und respektgebietende Vertreterin dieser Generation, nämlich Ullos beste, allerbeste – richtiger: einzige Freundin. Mechtild, wahrhaftig!

Sie erschien im richtigen Augenblick. Ullo stieß ihren Stuhl nach hinten, daß er kippte, und sprang auf sie zu, und wäre Mechtild nicht Mechtild gewesen, also ein überaus standfester, kräftiger Mensch, den so leicht nichts aus den Pantinen stieß, so wäre sie zweifellos wieder durch die Tür zurückgeflogen, vielleicht sogar durch die geschlossene.

»Wie ein Geschoß!« sagte sie anerkennend und sah auf Ullo herab, die ihren Kopf an ihrem gewaltigen Busen unterzubringen versuchte, »armes Kind, was haben sie dir getan!«

»Tante Mechtild, nein, ist das aber eine Überraschung!« rief Dorothee und begann sofort, Schränke zu öffnen und mit neu herzugetragenem Porzellan zu klimpern. Heute waren die guten Tassen dran. Man trank nicht, wie sonst, aus braunen, an sich hübschen, aber doch recht bodenständigen Kummen ohne Henkel, die keine Untertassen benötigten. »Möchtest du Schinken oder Käse oder Marmelade oder ein Ei? Bist du für salzig oder süß?«

»Für sowohl als auch. Für alles. Wenn ich die Wahl habe, nehme ich beides, pflegte unser lieber Chef zu sagen, einstmals, lang lang ist’s her, weißt du noch, Ullo?« lachte Mechtild und ließ sich am Tisch nieder. »Ich bin die Nacht durch gefahren und schauderhaft hungrig. Danke, Dorothee, geliebtes Patenkind. Ich hab’ dir auch was mitgebracht, und du bist immer noch so wohlerzogen, abzuwarten und nicht danach zu fragen.«

Alle lachten. Alles war gut. Mechtild hatte die angeborne Gabe, eine gespannte Atmosphäre allein durch ihre Gegenwart zu entgiften. Sie begann umsichtig zu frühstücken, erst salzig, dann süß. Es war ein Vergnügen, ihr dabei zuzusehen.

»Ich wollte dir eigentlich heute früh das Füttern abnehmen, deshalb komm’ ich so zeitig. Aber du hattest schon, wie ich gesehen habe.«

»Ich nicht, Dorothee hat«, gestand Ullo. »Ich habe heute wahrhaftig verschlafen, hältst du so was für möglich! Und es tut mir nicht mal leid. So eigensüchtig wird man im hohen Alter.«

»Protz nicht«, sagte Mechtild, die ein knappes halbes Jahr jünger war. Beruflich das gleiche wie Ullo, hatte sie es allerdings auf der Erfolgsleiter wesentlich weiter gebracht. Sie hatte, ebenfalls Witwe mit Kindern, den einstmaligen Beruf wieder ergriffen und war bis zur Direktorin aufgestiegen, was Ullo ihr völlig neidlos gönnte. ›Papierkrieg, Ärger mit den Ministerien und Kollegen, danke‹, hatte sie oft gesagt. Mechtild jedoch sah nicht so aus, als ob Ärger ihr zusetze.

»Ich bekam jetzt sogar einen ehrenvollen Ruf an die Regierung«, erzählte sie gerade, »ja, ihr werdet es nicht glauben. Dies aber ist Nebensache, Hauptsache bist heute du, geliebte Jubilarin. Nun sag, was hast du dir gewünscht? Wir hören.«

›Jetzt oder nie‹, dachte Ullo, und so antwortete sie, gleichzeitig wehmütig, weil man es ihr nicht gönnte, wie sie sagte, und trotzig, weil sie es immer noch durchzusetzen hoffte, und so monumental wie irgend möglich – Mechtilds erhabene Größe wirkte ansteckend: »Ein Pferd!«

»Bravo. Sehr vernünftig. Weißt du schon, was für eins?« fragte Mechtild gelassen und schlürfte die dritte Tasse Kaffee. Sie schlürfte wirklich, und bei ihr störte nicht einmal das.

»Ja. Es steht im Dorf. Bisher wollte es keiner.«

»Dann werden wir es nachher ansehen gehen«, bestimmte Mechtild. »Ich nehme an, du brauchst es für die Heuernte. Schön. Und sonst? Ich hab’ dir, im Gegensatz zu meinem Patenkind, noch nichts mitgebracht, sondern warte auf Wünsche.«

»Dann schenk mir bitte das Halfter!« sagte Ullo schnell. »Geschenkte Halfter bringen Glück.«

»So? Hab’ ich noch nie gehört.« Ullo auch nicht, sie hatte diesen Aberglauben im Augenblick erfunden, weil sie wußte, daß Ahnchen eine Schwäche für Aberglauben hatte. »Aber du bekommst es. Und was noch?«

»Nichts sonst«, sagte Ullo schnell. Nein, nichts. Wenn sie ein Pferd bekam, war sie glücklich, rundherum und wunschlos glücklich. So wenigstens glaubte sie. Was glaubt man nicht alles, ehe man merkt, daß die Schicksalsuhr den kleinen Rucker vorwärts macht und alles, aber auch alles plötzlich anders aussieht!

Kommen wir zum Pferd zurück. Dieses Pferd wünschte Ullo sich seit Jahren, weil sie es satt hatte, sich immer einen Schlepper borgen zu müssen.

Ullo und Mechtild sprachen darüber, als sie etwas später allein über den Hof gingen, sprachen davon und von vielem anderem auch. Sie waren ja Fachkollegen, sie wußten, worum es ging.

›Das Pferd muß bleiben‹, hörte und las man heute überall, wo es trappelte und wieherte. Deshalb kauften sich Bauernburschen Reitpferde und meldeten sie als »ländliche« an, obwohl sie nicht den leichtesten Hackpflug zogen. ›Das Pferd ist kein Zootier, rettet das Pferd!‹

Wer dies sagte und propagierte, hatte recht und unrecht zugleich. Natürlich ist das Pferd kein Zootier, und nichts ist wünschenswerter, als daß es bleibt. Aber wo rentiert es sich noch?

»Bei mir«, sagte Ullo hitzig, »ich bin die Ausnahme. Das bin ich ja auch sonst, ich, der Heimhof. Wer, frage ich dich, wirtschaftet noch wie ich, mit Kühen und Ziegen, Schafen, Hühnern, Enten – heutzutage hat man eins von alledem, spezialisiert sich, und fertig.«

»Genau«, antwortete Mechtild, »so und nicht anders lehre ich es meine Schülerinnen. Und du bist die Ausnahme. Bleib es! Du bist zwar ein kleiner, aber doch ein Bauernhof, wo es noch muht und gackert und quiekt und kräht.«

»Und wiehert!« fiel Ullo ein.

»Und wiehert!« fuhr Mechtild fort. »Du bist das, was man besucht als Museumsstück, und ich verspreche dir, meine nächste Schulreise hierher zu machen, jedenfalls auch hierher. Ich habe den Plan schon entworfen, ich gehe nämlich nicht in die Regierung, sondern bleibe bei der Jugend. Und diese Jugend soll bei dir sehen: so war es früher. Ein All-round-Bauernhof, wenn auch en miniature. Übrigens — hast du keine Schweine? Es fiel mir vorhin auf.«

»Nein«, gestand Ullo kleinlaut, als sei sie eine Schülerin und stünde im Examen, »Mammitzschka und Ahnchen vertragen das Fett nicht mehr. Für Fleisch sorgen bei uns die Kaninchen. Ich habe da Züchtungen ...«

»Weiß ich«, winkte Mechtild ab, »trotzdem, diese Lücke trübt das Bild etwas. Aber ich werde es meinen Jungbauern und -bäuerinnen schon plausibel machen. Könnten wir nicht sagen –«

»Vielleicht, daß wir vegetarisch leben?« fiel Ullo ein. Mechtild sah sie strafend an.

»Und der Schinken heute früh? Übrigens vorzüglich, selbst geräuchert? Du kaufst alljährlich ein halbes geschlachtetes Schwein? Na also. Und das Huhn im Topf? Und Schafwurst und Karnickelbraten? Bitte! Aber vielleicht merken sie es nicht, wenn ich sie herumführe«, sagte sie zuversichtlich. Ullo glaubte es auf Anhieb. Mechtild besaß eine geradezu königlich-souveräne Art, sich nicht widersprechen zu lassen. Beruf prägt, dieser Beruf, der der Lehrerin, schon gar. Ihr schauderte leicht bei der Vorstellung, Mechtild wäre hier und gegen das ersehnte Pferd gewesen. »Also dann hast du auch ein Pferd, geht in Ordnung«, sagte sie, als führe sie es schon hinter sich her. »Gut, gut. Und ich werde dich vor den jungen Leuten interviewen, na, wir sprechen noch drüber. Für diesmal habe ich mir zwei Tage frei genommen.«

»Wunderbar!« sagte Ullo und merkte immer noch nichts, so erfüllt war sie von dem Gedanken an das Pferd. Später verstand sie sich selbst nicht. Hier bereits hätte sie merken müssen, daß Mechtild für ihr Kommen einen besonderen Grund haben mußte. Es traf sich sehr gut so, denn niemand brauchte etwas zu wissen – vorläufig. Mechtild, gebieterisch und respektheischend, konnte, wenn nötig, sehr feinfühlig sein. Hier würde es nötig sein, das wußte sie genau. Deshalb war sie auch so sehr bestrebt, Ullo zunächst einmal zu bestärken, ihr diesen heißen Wunsch zu erfüllen, sie glücklich zu machen. Glück macht stark. Ullo würde Kraft brauchen.

Sie besahen miteinander den Norweger, prüften seine Gänge, fuhren an seinen Sehnen entlang. Ullo kaufte ihn. Mechtild kaufte das Halfter. Daran führten sie ihn gemeinsam und sofort – man mußte seine Leute vor vollendete Tatsachen stellen – auf den Heimhof. Ullo hatte vor Aufregung knallrote Backen, sie sah wirklich wie ein Junge aus, der ein neues Fahrrad erkämpft hat, obwohl sie, dem heutigen Feiertag zuliebe und weil sie keinen Handschlag arbeiten durfte, ein helles Kleid trug, ein ungewohnter Anblick bei ihr.

»Du brauchst noch mehr Kleider«, sagte Mechtild einmal, und da allerdings merkte Ullo auf.

»Wieso?« fragte sie.

»Nun, wenn du einmal eine Reise machst«, wich Mechtild etwas dümmlich aus. Ullo aber, in ihren eigenen Gedankengängen, die dem Pferd galten, befangen, winkte nur ab: »Ich reise nie.«

Mechtild ließ es dabei.

Es traf sich alles ausgezeichnet, fand Mechtild. Wenn Dorothee einen Tag herkommen konnte, um ihrer Mutter zu helfen, so würde sie das auch für eine oder zwei Wochen können, wenn es nötig würde. Sonst hätte sie, Mechtild, es getan. Dies aber würde sie nicht vorbringen oder nur als letztes, schwerstes Geschütz. Sie war überzeugt davon, daß schwere Geschütze nötig sein würden.

Da auch sie aus der Landwirtschaft stammte und immer mit ländlichen Menschen zusammen war, wußte sie genau, wie schwierig es ist, einen Bauern zu überreden, daß er im Sommer wegfährt, und sei es nur für einen Tag. Nur ein Tag würde übrigens nicht genügen. Nun, Mechtild war zuversichtlich. Sie setzte meist durch, was durchzusetzen war, deshalb war sie auch persönlich hergekommen und hatte nicht nur geschrieben oder telefoniert.

»Ich habe bis morgen Zeit«, sagte sie aus diesem Gedankengang heraus.

Ullo sah sie anerkennend an. »Toll, wirklich!«

»Vorausgesetzt, daß –«

»Aha. Natürlich ein ›Vorausgesetzt‹, also eine Bedingung –« sie kannte doch ihre Freundin. »Nun schieß schon los und sag, was du willst.«

»Erstens nicht ewig feiern. Ich trinke keinen Wein, weil ich mir nichts draus mache –« das wußte Ullo – »und zweitens, daß wir beide zusammen nächtigen. Damit wir –«

»Noch ewig kakeln können, natürlich!« lachte Ullo vergnügt. »Das werden sie schon einsehen.«

»Sie«, das waren die drei Altchen. Natürlich hatten diese sich auf einen gemütlichen Abend mit dem Geburtstagskind gefreut, und natürlich waren sie nicht müde, nicht so müde wie Ullo an jedem einzigen Abend ihres Lebens. Männerarbeit macht eine Frau müder als jedes Schaffen im Haus, und ein Mittagsschläfchen sprang täglich auch für Mammitzschka heraus, warum auch nicht! Und wenn sie wirklich einmal nicht so recht konnte, dann vertrat Ahnchen sie, so gut es ging. Ullo wurde von niemandem vertreten – nur heute von der Tochter, heute, an ihrem Fünfzigsten, ausnahmsweise. »Na schön, dann bleibe ich«, sagte Mechtild, und auch da merkte Ullo noch nichts.

Später war es ihr völlig unbegreiflich, daß sie nichts gemerkt hatte.

Mechtild rückte damit heraus, als sie im Bett lag und das Licht gelöscht hatte. Die anderen schliefen, Dorothee war abgereist, mit dem Nachtzug. Mechtild hatte vorher eine kleine Unterredung mit ihr gehabt. Auch das ging in Ordnung.

»Möchtest du eine Zigarette? Ich will dir was erzählen«, setzte Mechtild an. Jetzt wurde Ullo aufmerksam.

»Was –«

Stille.

»Ich rauche so gut wie gar nicht mehr, habe keine Zeit dazu«, sagte Ullo dann langsam, und danach, als Mechtild immer noch schwieg, erklärte sie etwas umständlich: »Bei der Arbeit kann ich es nicht, und nach den Mahlzeiten, wie wir es früher manchmal taten, laß ich es lieber bleiben, weil Ahnchen keinen Rauch verträgt.«

»Du wolltest mir was erzählen«, erinnerte sie dann, und nun klopfte ihr doch das Herz, daß sie es schmerzhaft im Hals spürte.

»Ich will, jawohl«, sagte Mechtild, und ihre Stimme klang ganz anders als sonst. »Etwas – also Ullo, es gibt Sachen – nun zünd dir schon eine an«, sagte sie rasch und ärgerlich und wieder, wie sie eigentlich gewöhnlich war: energisch und nicht an Widerspruch gewöhnt, und machte Licht. »Hier sind welche.« Ullo gehorchte. Wieder schwiegen sie.

»Ich weiß ja nicht, ob es stimmt«, sagte Mechtild dann mit einem merklichen Entschluß. »Und es wäre furchtbar, wenn es dann nicht stimmte. Verstehst du. Ich hab’ es mir hin und her überlegt, aber ich kann es doch nicht einfach sein lassen, weil es sich vielleicht als Irrtum herausstellen kann. Es war nie unsere Art, etwas sein zu lassen, was immerhin eine gewisse Chance in sich trägt. So denkst du doch heute noch, oder?«

»Klar.« Unwillkürlich waren sie beide in den Jargon ihrer jungen Jahre geraten. »Klar denke ich so. Nun gib mal Gas und fahr los! Hat es – hat es was mit damals zu tun?«

»Ja. Mit damals.«

Mit diesem Wort »Damals« war alles verändert. Sie zählten nicht mehr fünfzig Jahre und hockten nicht mehr in den Betten des Heimhofes, zwanzig Jahre waren nicht gewesen, und sie befanden sich miteinander, sonst aber sehr allein, im nie vergessenen Wohnzimmer des schlesischen Gutshauses, in dem Ullos erster Mann, der Jagdflieger Friedrich Freiwald, aufgewachsen war.

Geliebter Sohn

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