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II
ОглавлениеDie Flucht
»Wieder nichts«, sagte Mechtild und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Sie trug zur Schihose den Pelz und hatte den Kragen hochgeschlagen, er war rund um das Gesicht bereift, und ihre Wangen glühten geranienrot nach der Kälte draußen. Das sah hinreißend zu ihrer Blondheit aus – Ullo wurde sich dessen bewußt und wunderte sich flüchtig, daß es ihr auffiel. Sie hatten jetzt andere Sorgen.
»Vielleicht fahren auf der anderen Straße mehr«, sagte sie, »jedenfalls mehr Privatleute. Militär darf sowieso nicht halten, glaube ich.«
»Es ist aber doch die Hauptstraße.«
Mechtild warf den Pelz auf einen Stuhl und beugte sich über die Karte, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Hier, Richtung Görlitz-Lauban. Aber du hast recht, viele fahren vielleicht Nebenstraßen, weil sie Angst vor Stauungen haben.«
»Komm, trink was Warmes«, sagte Ullo und nahm die Teekanne aus dem Rohr. »Autsch, der Henkel ist heiß. Hagebuttentee, aber mit richtiger Zitrone. Ich habe neulich welche bekommen. Und Zucker. Wozu sollen wir noch sparen und Süßstoff nehmen!«
»Ja, wozu. Aber noch sind wir hier. Und vielleicht ist das unser Glück«, sagte Mechtild und setzte sich. »Ah, der Tee tut gut. Noch haben wir ein Dach über dem Kopf – was glaubst du, was da draußen alles erfriert – unterwegs, meine ich. An Gören. Ich sprach neulich einen, der zurückfuhr, nach dem Osten, warum, weiß ich nicht. Einen Landser. Der hat mir erzählt – nein, laß.«
Ullo hatte die Teekanne wieder warm gestellt und stand neben Mechtild, sah auf die Karte herunter und antwortete nicht. Sie knetete unaufhörlich eine Hand mit der andern. Sie wußte es natürlich auch, alle wußten es. Erfrorene Kinder rechts und links des Fluchtweges. Nicht einmal begraben konnte man sie bei dem steinernen Frost. O nein, das nicht, das nicht. Lieber ...
»Kindern tun sie nichts, angeblich«, murmelte sie verzagt, »ich hab’ das paarmal gehört. Zu Kindern sollen sie nett sein.«
»Jaja. So wird gesagt. Und dann wieder ... Nein, Ullo, heute nacht kommen wir nicht mehr fort, das ist klar. Da wollen wir lieber nochmal richtig ausschlafen, vor allem du. Wer weiß –«
Fast jede Überlegung fing jetzt an mit »Wer weiß«. Wer weiß, wo wir morgen sind, wer weiß, wann der Russe da ist. Wer weiß, ob das nicht das letzte Stück Brot, der letzte Schluck Milch ist –
Das Gut war leer, sie waren die letzten. Die Leute hatten sie weggeschickt: rettet euch, seht zu, wie ihr fertig werdet. Nur macht, daß ihr fortkommt. Nehmt die Pferde, die Zugochsen, die Schlitten, die Hand- und die Kinderwagen. Ullo hatte einen letzten Wagen, eine geschlossene Kutsche, und zwei Pferde zurückbehalten für sie beide und ihre Kinder, für Mechtild und ihre zweijährigen Zwillinge und für sich und ihren Sohn, heute drei Tage alt. Am nächsten Morgen waren Pferde und Wagen fort, gestohlen. Jemand hatte sie wohl dringend gebraucht, dachte sie grimmig – später sagte sie das auch. Mechtild sah sie an.
»Vielleicht waren mehr Kinder dabei als unsere drei«, sagte sie leise: Da schwieg Ullo.
Sie würden auch so wegkommen. Mechtild war der richtige Kamerad für so etwas, wahrhaftig, der Himmel hatte ein Einsehen gehabt und sie ihr geschickt. Wenn die Sache mit jemandem gelang, dann mit ihr. Seit einem halben Jahr lebte sie hier bei Ullo auf dem schlesischen Gut, evakuiert, sie stammte selbst vom Land, hatte aber in die Stadt geheiratet. Sie verstanden sich prächtig, hatten sich im landwirtschaftlichen Seminar kennengelernt und seitdem die Fühlung miteinander nie verloren. Es war keine Frage, daß sie auch weiterhin zusammenbleiben würden. Und dies, ihre Zusammengehörigkeit, ihr unbedingtes Einstehen der einen für die andere, gab ihnen beiden das Gefühl, als könnte ihnen nicht gar so viel passieren. Selbstverständlich war Mechtild nicht mit den Leuten getreckt, sie hatte Ullo weder zum Mitfahren überredet noch sie kurz vor der Entbindung hier allein gelassen. Das Kind kam zum Glück acht Tage früher, als sie erwarteten. Alles ging gut, ja hervorragend, sogar eine Hebamme fand sich, eine, die mit den von weiter östlich Kommenden auf der Flucht war. Die aus dem Dorf war längst fort. Diese aber tat ihre Pflicht, als Mechtild sie holte. Mechtild hatte nach einer gefragt, als Ullo schon lag und nicht mehr aufstehen konnte. Sie ging, als wäre sie die Gutsherrin, mitten durch das Chaos der Angekommenen und rief, und richtig, eine meldete sich.
Jeden Tag wurde für die Durchziehenden die große Diele geheizt, wo Decken und Stroh für die Alten, Kranken und Kinder bereit waren. Männer und Jungen kamen ins Heu. Alles war geregelt und klappte. Mechtild sorgte auch immer dafür, daß heißer Kaffee – was man damals Kaffee nannte –, oder Suppe da war. Die Hebamme hatte noch schnell ein paar Schluck getrunken, dann war sie mitgekommen. Das war, wie gesagt, vor drei Tagen gewesen.
Jetzt kam vom Osten niemand mehr. Die, die Ullos beide Pferde und die Kutsche mitgenommen hatten, schienen die letzten gewesen zu sein, vorgestern.
»Ist ja egal, vielleicht wären wir mit den Pferden gar nicht weitergekommen«, sagte Mechtild nach einer Weile, als ihre Gedanken wieder einmal diesen Weg gelaufen waren. »Auf Pferde sind die Russen scharf. Und was nützt dir die Kutsche, wenn du nichts vorzuspannen hast.«
»Ja, wenn sie uns eingeholt hätten –«
»Natürlich hätten sie das. Überrollt. Natürlich sind sie schneller. Aber wir konnten ja nicht los. Wir müssen ein Auto kriegen, das ist das Ganze. Und ich werde schon eins heranwinken. Es fahren ja jetzt so viele nach dem Westen. Besser unter den Amis als unter den Russen. Morgen geht’s los, und da bist du wieder einen Tag gesünder und kräftiger.«
»Das bin ich auch heute schon. Weißt du, der ganze Quatsch von früher – die schwache, zarte, blasse junge Mutter in ihren blütenreinen Kissen – wenn’s nötig gewesen wäre, hätte ich sofort aufstehen können. Manche Ärzte lassen die Frauen auch normalerweise sofort aufstehen, um Thrombosen zu vermeiden.«
»Stimmt, mir ging’s auch gut. Bloß weil alles schrie: ›Liegen, liegen, schonen!‹, blieb ich waagerecht. Ich finde, man muß auch ein bißchen stilvoll leben. Und zum Wochenbett gehört, daß man sich ein bißchen bedienen und feiern läßt. Ja, und Zwillinge, die setzen einem vielleicht auch ein bißchen mehr zu als eins, selbst wenn sie, weil kleiner, leichter zur Welt kommen. Aber du kannst aufstehen und laufen, wenn’s nötig ist, das hab’ ich gleich gemerkt, und ich hätt’ es auch gekonnt.«
»Manchen Frauen geht’s vielleicht auch schlechter als uns«, setzte sie nachdenklich hinzu, »nach Kaiserschnitt und so – aber auch ohne das. So was weiß man nicht. Aber keine Sorge, zu Fuß laufen werden wir nicht, ich beschaff’ schon ein Auto. Jetzt marsch ins Bett, wie schön, daß man noch eins hat!«
Sie gingen hinüber. Detlev und Dieter, Mechtilds beide Jungen, schliefen drall und rotbäckig in einem größeren Gitterbett, das noch von früher auf dem Boden gestanden hatte. Der kleine Friedrich, Ullos Sohn, war wach. Sie hatten das Schlafzimmer geheizt, Ullos wegen, und auch aus dem verzweifelten Übermut heraus: jetzt brauchen wir nicht mehr zu sparen.
»Leg dich hin, ich bring’ ihn dir«, sagte Mechtild. Ullo gehorchte, zog sich aus und streckte sich in eins der beiden Ehebetten. Hier schliefen sie seit dem Sommer miteinander, Mechtild und sie, die Kinder nahe dabei. Es war, trotz aller Bedrohung, eine wundervolle Zeit gewesen. Ullo sagte das, als Mechtild sich über sie beugte und ihr den Kleinen an die Brust legte.
»War es, Kamerad«, sagte Mechtild und schnaufte alles, was sie an Flüssigkeit in der Nase hatte, geräuschvoll bergauf, eine Angewohnheit, die Ullo bei anderen Leuten zur Raserei bringen konnte. Bei Mechtild störte es sie nicht, es gehört gleichsam zu ihr.
»Danke. Ja, er trinkt gut. Nur – allzuviel hab’ ich, glaub’ ich, nicht«, sagte sie leise. Mechtild winkte großzügig ab.
»Kann noch kommen. Kleine Saugpumpe du, nun zieh mal ordentlich. Geht’s? Also dann –« sie ließ sich ins Nebenbett plumpsen, daß es krachte, und zog genießerisch die Zudecke um die Schultern. »Ich für mein Teil finde es wunderbar, sich hier warm einzukuscheln, statt mit Reifenpanne auf der Landstraße zu liegen, bei der Schweinekälte.«
Ullo lächelte. Gleich darauf hörte sie an einem gelinden Schnarchen, daß Mechtild eingeschlafen war. Mechtild hatte Nerven wie Drahtseile. Gut so, Gott sei Dank.
Am andern Morgen, ausgeschlafen und sprühend vor Unternehmungslust, bekam Mechtild in der Tat ein Auto. Einen einzelnen Offizier in einem Pkw – es gelang ihr auch, ihn zu überreden, daß er den kleinen Umweg ins Dorf machte. Er hatte Hunger, war die ganze Nacht durchgefahren. Woher er kam, fragte sie nicht, immerhin fuhr er die gewünschte Richtung. Sie malte ihm ein deftiges Frühstück aus, und daß sie zu fünft und nicht sie allein mitfahren wollten, eröffnete sie ihm erst, als er bei Tisch saß. Er fluchte zunächst, machte dann aber einigermaßen gute Miene zu diesem Spiel. Man war an allerhand gewöhnt in diesen Zeiten.
»Aber nur bis Görlitz«, verwahrte er sich, von dort aus müsse er vier Mann mitnehmen.
Mechtild meinte, Görlitz sei schon der halbe Endsieg. Der junge Mann zog bei diesem Wort ein Gesicht, als habe er Zahnschmerzen.
»O pardon«, sagte sie verständnisvoll. Da mußte er lachen. Und nun fanden sie einander ausgesprochen nett, und Mechtild flirtete, daß es nur so rauchte. »Ein Zweckflirt, reines Opfer für unsere Kinder«, betonte sie, als der junge Mann einmal hinausging. Ullo winkte ab. Sie packten. Das meiste lag ja längst bereit, aber immer noch gab es zu bedenken, umzupacken und auszusortieren. Die Zwillinge krochen dazwischen herum und brachten alles durcheinander. Trotz größter Beschränkung wurde es ein Berg Gepäck, bei dessen Anblick der junge Offizier ihnen beinah die soeben erst geschlossene Freundschaft kündigte. Als Krönung prangte auf dem einen Rucksack ein Kindernachttöpfchen, rosa mit bunten Tieren drauf.
»Das – das – ich verbitte mir ...«
»Wir können es ja verhüllen, wenn es Sie stört«, sagte Mechtild seelenruhig und zog einen bereitgelegten Überzug darüber, »eines vielleicht nicht fernen Tages sind Sie auch junger Vater und brauchen es. Außerdem ist es gut zu verwenden, wenn jemand autokrank wird und spuckt. Wir werden es nicht, das nebenbei!« versicherte sie vorsorglich, als sie sein erneut entsetztes Gesicht sah. »Nun nur noch das Familiensilber und den Koffer mit dem falschen Geld, Ullo, mein Herz, und ab durch die Mitte!«
»Ich glaube, Sie sind sich nicht ganz klar, was –« – er deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Osten – »was da auf Sie zukommt.«
»Doch. Eben. Gerade deswegen«, sagte Mechtild unerschüttert. »Es ist auch nur die Maske der Heiterkeit, die ich vor mein Gesicht halte. Dahinter weine ich ... Auf nach Görlitz, dort sehen wir weiter!«
Sie rollten aus dem Tor. Ullo saß vorn neben dem Fahrer und hatte den eingewickelten Kleinen auf dem Schoß, Mechtild mit ihren beiden Kinder schwankte auf dem Rücksitz über dem Gepäck. Wenn sie den Kopf nicht einzog, stieß sie damit ans Autodach. Auf der holprigen Straße geschah das alle Augenblicke.
»Leichte Schläge auf den Hinterkopf sollen ja die Intelligenz erhöhen«, grinste der Fahrer, und Mechtild nickte lachend: »Au!« Es war ein heller Tag, kalt, und es schneite nicht. Ullo versuchte mit den Augen die letzten Bäume zu grüßen, die zum Gut gehörten. Die Felder lagen ja unter der weißen Decke, vereist und erstarrt. ›Das ist deine Heimat, du mein Sohn, die wir hier verlassen, heimlich und illegal wie Hergelaufene oder Verbrecher –‹
Sie krampfte die Hände ineinander, die sich am Rücken des Steckkissens trafen, versuchte zu beten. Ich darf nicht weich werden, lieber Gott, ich darf nicht heulen. Es geht um mehr als um Heimatgefühle, es geht ums Leben. Vielleicht gewinnen wir den Wettlauf mit dem Tode. Vielleicht – jeder Tag ist ein Gewinn. Jeder Kilometer ein Plus. Wir wissen nicht, wohin wir fahren, vielleicht aber ins Leben. Geliebter, kleiner, kleiner Sohn – so dunkel es auch vor dir liegt, ich wünsche es dir dennoch, dennoch, daß du leben darfst ...
Sie fuhren. Mechtild schwätzte mit dem Fahrer, und nach fünf Minuten bereits stellte es sich heraus, daß sie gemeinsame Bekannte hatten. Ja, die schlesischen Gutsbesitzer – sie waren im Grunde doch eine einzige große Familie. »Die Thielemanns – natürlich kannten meine Eltern die. Und die Quitzows ...«
Ullo hörte zu und lächelte. Ihr Mann war bürgerlich, obwohl auch Gutsbesitzer. Jetzt Flieger. Wo? Sie ahnte es nicht. Gerade hörte sie:
»Die Schalls? Natürlich, kenne ich auch. Mein Mann lag mit einem Schall zusammen, da bekam die Frau das vierte Kind.«
Sie hatten eine große Speckseite ausgepackt, von der schnitt Mechtild von Zeit zu Zeit eine Scheibe ab und steckte sie dem Fahrer in den Mund. Er kaute vergnügt. Wieviel Benzin er habe, wagten die beiden jungen Frauen nicht zu fragen.
»Und wohin wollen Sie?« fragte er nun.
»Zunächst nach Görlitz. Von dort aus nach Dresden. Ich habe da eine Möglichkeit, unterzukommen«, sagte Mechtild. »Drei alte Tanten von mir bewohnen in Radebeul, also in einem Vorort von Dresden, ein Häuschen oder bewohnten es, ich weiß nicht, ob es sie noch gibt.«
Mechtild und Ullo waren in endlosen Nachtgesprächen alle Möglichkeiten durchgegangen. Mechtild war ein Jahr lang in Sachsen als landwirtschaftliche Lehrerin tätig gewesen, das bedeutete eine große Chance. »Wenn wir in Radebeul unterkommen, sind wir erstmal aus dem Wasser«, sagte sie zuversichtlich. Sie verschwieg, auch Ullo gegenüber, daß diese drei Tanten keineswegs mit ihr verwandt waren, sondern Bekannte von Bekannten. In Wirklichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen, geschweige denn an Straße und Hausnummer. ›Ich erkenne es dann schon wieder, wenn ich dort bin‹, sagte sie sich, ›und wenn nicht – auf der Straße werden wir mit unseren Ablegern schon nicht liegenbleiben.‹ In Gottes Namen, so wie sie reisten jetzt Tausende.
»Guck, das Gebirge! Schön, ja?« sagte sie in diesem Augenblick und deutete nach links. Ullo hob das Gesicht. Geliebte, geliebte Heimat – oh, es riß an ihrem Herzen. Sie vermochte nicht, wie Mechtild, einfach vorwärts zu sehen, so sehr sie sich auch darum bemühte. Tausend Kindheitserinnerungen überfielen ihr Herz, während sie krampfhaft nach vorn blickte, mit weit aufgerissenen Augen, damit sie nicht überliefen. Sie konnte nicht glauben, daß sie je wiederkommen würden.
Das Benzin reichte wahrhaftig bis Görlitz. Ein paar Mal hielt der Fahrer an und goß nach – jedesmal unterdrückten seine beiden Begleiterinnen gewaltsam die Frage, die ihnen auf den Lippen brannte: ist das nun das letzte? Kurz vor Görlitz schien es das zu sein. Er murmelte etwas, das sie nicht verstanden und nicht verstehen wollten. Bis er, ein wenig deutlicher, sagte:
»Wenn ich mehr hätte, würde ich Sie wahrhaftig weiter bringen.« Dabei tauchte er einen bereits ziemlich verlorenen Blick in Mechtilds blaue Augen. Immer war das so gewesen: ein männliches Wesen brauchte nur eine Viertelstunde mit ihr zusammenzusein, so zappelte es in ihren Netzen. Daran änderte weder ihre Heirat noch die Anwesenheit der äußerst munteren und zur Zeit nicht sehr erfreulichen Zwillinge etwas. Die waren während der Fahrt nicht müßig gewesen, hatten versucht, herumzukrabbeln, beschmierten sich und die anderen mit Eßbarem und schliefen leider nur in einer wohldurchdachten Ablösung: einer war immer wach und aktiv. Ullo, die vor ihnen saß, war mehrmals am Ende ihrer Nerven trotz aller ernstlichen Vorsätze, auszuhalten, aber Mechtild bekam es immer wieder hin, die beiden irgendwie abzulenken und außer Gefecht zu setzen. Natürlich durfte es nicht so weit kommen, daß dem Fahrer der Geduldsfaden riß.
Sie schaffte es. Und er schaffte es auch, er fuhr sie in Görlitz wahrhaftig noch an den Bahnhof. Mechtilds unwiderstehlicher »Gebrauchscharme« bewährte sich, überhaupt mußten sie einen guten Stern haben. Als der Fahrer ihnen all ihr Gepäck, auch den Rucksack mit dem längst heruntergezogenen Überzug des genierlichen Gegenstandes, auf den Bahnsteig gewuchtet hatte, fuhr in dieser Sekunde tatsächlich ein leerer Zug ein, der von Westen kam und hier Kopfstation machte, um Flüchtlinge aufzunehmen: eine Chance, die man in dieser Zeit so wenig erwarten konnte wie dreimal hintereinander den Blitz in denselben, nicht einmal sehr hohen Baum einschlagen zu sehen. Sie erfaßten sie alle drei und warfen wortlos, was sie soeben auf den Bahnsteig gestellt hatten, in den Zug hinein, die Zwillinge hinterher, und Ullo zog sich, den Kleinen im linken Arm, mit dem rechten hinauf, um zwischen den unzähligen Anstürmenden jedenfalls ins gleiche Abteil wie Gepäck und Kinder zu gelangen. Hinter und vor ihr, rechts und links, arbeitete es sich empor gleich ihr, sie wurde gedreht und gequetscht, hielt das Kind schützend an sich gedrückt und fand sich dann plötzlich am Fenster wieder. Hinausschauend sah sie noch, wie ihr Fahrer Abschied von Mechtild nahm – er hatte ihr Gesicht mit beiden Händen umfaßt und küßte es unzählige Male, während er lachte, es ansah und wieder küßte – und dann schob er sie so kräftig und nachdrücklich in das schon übervolle Abteil hinauf, daß sie wirklich noch hineinging, ihr als letztes einen liebevoll knallenden Klaps aufs Hinterteil versetzend.
»Au – danke«, rief Mechtild noch, da rollte der Zug an. Ullo winkte – »danke danke danke –«
»Teufel nochmal, der konnte es aber!« ächzte Mechtild und wischte sich den Mund. »Seid ihr auch vollzählig da, ihr Trabanten? Hat Tante Ullo gut aufgepaßt? Na, haben wir nicht wieder mal Glück?« strahlte sie. Ullo nickte.