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Der Tag war verhangen, vielleicht würde es regnen – Momme hatte tief und wunderbar geschlafen und fühlte sich wie neu gefertigt. War es ihr damals schwergefallen aufzustehen, wenn der Morgen über Dächer und Steine herüber in ihr Schlafzimmer im Städtchen geguckt hatte? Sie meinte, das könne nicht Wirklichkeit gewesen sein, oder eine Wirklichkeit vor langen, vor schätzungsweise hundert Jahren. Eine nie selbst erlebte Wirklichkeit.

Alles um sie her war still. Corona stand meist im allerletzten Moment auf und startete dann wie ein geölter Blitz. Momme hielt das nicht für einen guten Tagesanfang, wenn man um die Sekunden rannte, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Corona besaß nun einmal einen anderen Lebensrhythmus als sie selbst.

Ihr, Momme, war es lieb, sich frühmorgens in Ruhe und Muße auf den neuen Tag einzustellen. Deshalb stand sie viel früher auf als nötig. So nahe am Wald zu wohnen war zu jeder Tages- und Nachtzeit schön. Die hellroten Stämme der Fichten sahen vor dem dunklen Hintergrund fast rosa aus, und manchmal, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel stand, blutrot. Momme versäumte nie, zunächst einmal dorthin zu schauen, wenn sie aufgewacht war, als erkundige sie sich, was der Tag heut für Wetter bringen würde.

Heute vermutlich Regen. Dem Garten würde das guttun. Dann wurde es auch nicht so heiß, Momme war Hitze gegenüber empfindlich. Aber früh, wenn sie an der Schreibmaschine saß, war es immer angenehm kühl. Die Wände des Hauses, außen Holz, innen vertäfelt, isolierten gut. Momme hatte sich die Schreibmaschine zurechtgerückt und eine Tasse Kaffee daneben gestellt. Sie freute sich auf die Arbeit. Nächste Woche erwartete sie Rupprechts Kinder, da würde sie nicht viel zum Übersetzen kommen. Deshalb – aber kaum hatte sie den ersten Bogen eingespannt, da mußte sie schon wieder aufstehen. »Lieber Helf ...«

In Holland sagte man nicht »Donnerwetter« oder »Herr des Himmels«, wenn man gestört wird, sondern »Lieber Helf!« Momme hatte sich manche Ausdrücke aus dieser Sprache angewöhnt. »Dackelhund, verflixter, kannst du mich nicht einen Augenblick in Frieden lassen?«

Sie sagte das zwar seufzend, aber zärtlich. Resi, die kleine Dackelin – es war eine Dame, was Corona auch nicht gleich gestanden hatte. Momme aber war längst mit dieser Tatsache ausgesöhnt, da Hündinnen ja als gescheiter, treuer und weniger schwierig gelten – Resi also quiemte, sie war noch nicht draußen gewesen.

»Also los, Hundchen, komm. Du gibst ja sonst doch keine Ruhe.«

Der Himmel war jetzt weißlich, in sich geschlossen, wie ein hohes Dach über der Welt. Momme konnte es noch immer kaum fassen, daß sie hier wohnte, daß dies ihr Haus sein sollte, daß sie nicht mehr in der Stadt leben mußte. Draußen zu Hause sein, am Wald, ohne neugierige oder gar böswillige Nachbarn – sie mußte tief Luft holen, wenn sie sich das immer wieder aufs neue entzückt und dankbar klarmachte. Hatte sie es in der engen Wohnung im Städtchen wirklich jahrelang ausgehalten?

Coronas Wagen stand in der Ecke des Hofes, dünn betaut. Ein Luxusmodell war es nicht, wahrhaftig, bestoßen und mit Roststellen übersät. Aber vorläufig mußte er ihnen beiden genügen; von einem eigenen Auto für Momme war keine Rede mehr. Jeder Umzug kostet mehr Geld, als man denkt, wo immer man hinzieht, gibt es etwas herzurichten. Daß aber die Stoßstange des Wagens vorn einen Knick nach innen aufwies, war Momme neu. Sie betrachtete die Schadstelle mit einer Mischung von Bekümmernis und Dankbarkeit. Bekümmernis, weil es da etwas gegeben haben mußte, und Dankbarkeit, daß es nicht schlimmer ausgegangen war. Erzählt hatte Corona nichts Diesbezügliches.

›Ich werde nicht fragen‹, nahm Momme sich vor. Das war auch so ein Mutterproblem: fragte man, so war man zudringlich und neugierig. Fragte man nicht, so beschwerten sich die Kinder über mangelndes Interesse. Als ob das Interesse bei einer Mutter je mangeln könnte!

»Komm, Resi. Daß du mir aber nicht vom Weg abgehst –« Sie marschierten los. Der kleine Hund sauste dahin und dorthin, Momme trug die Leine in der Hand. Eigentlich durfte man einen Hund hier gar nicht von der Leine lassen.

›Es wird schon niemand kommen‹, dachte sie und hörte im selben Moment einen Wagen hinter sich.

»Resi, daher –«, rief sie, zu spät. Ausgerechnet der grüne Opel des Forstbeamten. Momme bückte sich und befestigte die Leine am Halsband der diesmal wirklich gehorsamen Dackelin, natürlich zu spät, das war ihr klar. Als sie sich wieder aufrichtete, merkte sie, wie rot sie im Gesicht sein mußte.

Ja, es war der Forstbeamte. Im letzten Augenblick hatte sie noch zu hoffen gewagt, es wäre ein anderer, harmloser Wagen, aber nein. Nun denn.

»Guten Morgen!« Das klang ja freundlich, fast schüchtern. »Ich wollte – wissen Sie eigentlich, daß man –«

»Hunde hier angeleint führen soll, jawohl«, sagte Momme tapfer. »Ich wollte es auch, nur –«

»Deshalb doch nicht. – Ich bin in Sorge –«, er war auch sehr verlegen. Weshalb nur? Momme fühlte instinktiv, daß die Gefahr für heute vorüber war. »Nun? Was gibts?«

»Der Wagen Ihrer Tochter – ich sah vorhin – hat sie einen Unfall gehabt?« fragte er jetzt, sich, wie vorhin Momme, zum Wesentlichen zwingend. Momme sah ihn an.

»Wegen der Stoßstange? Vermutlich. Ich hab es auch erst eben gesehen. – Hören Sie, sind Sie eilig? Es ist kühl, ich hab’ noch nicht gefrühstückt, oder – also: haben Sie schon Kaffee gehabt heute früh?«

»Nein, Sie vermuten richtig. Ich hatte keine Zeit dazu.«

»Dann los. Rechtsum kehrt marsch, Resi, komm nach Hause!«

»Wenn schon, dann in meinem Wagen. Darf ich Sie bitten, einzusteigen? Wenn es auch kein Mercedes ist.«

»Als ob mir das etwas ausmachte ...«

Momme hatte den kleinen Dackel aufgehoben und ließ sich mit ihm auf den rechten Vordersitz sinken. Der Forstmann fuhr erst noch ein Stück vorwärts, wendete – dazu mußte man hier einen Seitenweg suchen – und ließ den Wagen dann bergab laufen, in Mommes Hof hinein. Beide, der Grünuniformierte und Momme, warfen einen kurzen Blick zu der Stelle hin, wo Coronas Wagen zu stehen pflegte. Er war fort. Corona also auch.

Sie taten beide, als hätten sie nicht hingesehen. Momme öffnete die Haustür und ging voran, der Grüne folgte. Sie komplimentierte ihn ins Wohnzimmer auf die Eckbank, die in der Süd-Ost-Ecke unter den Fenstern stand, und ging hin und her, holte Tassen, Milch und Zucker, während die Kaffeemaschine zischend und spuckend zu sprudeln begann. Dabei sprachen sie dies und jenes, von Dakkeln, die Ärger machen, und Dielen, die knarren – wie es die Dielen hier taten. Von Corona sprachen sie nicht. Dennoch war Corona anwesend, auf eine intensive, lebendige Art – ihr rabenschwarzes Haar, ihre sprühenden Augen, ihre ganze dynamische Art. Momme nahm wahr, daß auch ihr Gast es fühlte – und verschluckte ein Lachen.

Ihr fiel eine Filmszene ein, in der eine junge Hexe auf einem ungesattelten, ungezäumten Pferd hockte, den Rock etwas verschoben, und einen Priester ansah, der vor ihr stand und zu ihr aufblickte, aufhimmelte, wäre richtiger gewesen. Die Kamera hatte sein Gesicht aufgenommen, ein glattrasiertes, junges, nettes Gesicht. Und dann wurde das Gesicht durch einen Trick des Aufnahmeleiters in die Breite gezogen, dann in die Länge – wie bei den Zerrspiegeln auf dem Jahrmarkt. Nichts hätte deutlicher machen können, wie verliebt, ja, liebesdurchrast dieser Bedauernswerte war.

So ähnlich kam ihr jetzt dieser junge Grünrock vor. Zwar sagte und tat er nichts, aber man merkte genau, wie es ihn schier zerriß vor Verliebtheit, während er in dem Raum saß und ruhig und ehrbar Kaffee trank, – in dem Zimmer, in dem sonst Corona hin und her ging, vor sich hin summte oder nieste oder schalt, je nachdem. Wie hieß es im ›Land des Lächelns‹? ›Ich trete ins Zimmer ... hier ist der heilige Raum, in dem sie atmet, in dem sie lebt, sie, meine Sonne, mein Traum ...‹ Oder so ähnlich. Auch im ›Faust‹ gab es eine solche Stelle, wo Mephisto den Liebestrunkenen in Gretchens Zimmer eintreten läßt ...

»Resi, du Spanferkel, was soll das nun wieder« – Mommes Schrei riß ihn aus seinen Meditationen. Sie war aufgesprungen und hatte den kleinen Dackel am Nackenfell ergriffen, schalt auf ihn ein, während sie ihn schüttelte. »Ja, Prügel verdientest du! Mein bestes Halstuch – so ein gutes hab ich noch nie gehabt! Ich fand es in London auf einem Parkplatz«, erzählte sie, gleichsam erklärend, ihrem jungen Gast, »und fuhr damit brav und ehrlich zur Polizei, um es abzugeben. Gerade weil es so außerordentlich gut und schwer war. Was sagten die Bobbies dort? ›Ach, nehmen Sie es doch bitte wieder mit, Sie sparen uns damit viel Ärger, Arbeit und Unannehmlichkeiten.« Na, was blieb mir übrig, ich tat’s, und jetzt probiert unser Baby seine Beißerchen dran, freundlich gesagt –«

Sie hob das Tuch, schwere englische Seide, bunt bedruckt, an zwei Ecken hoch. Drei Löcher prangten bereits mitten drin. »Du Teufel du! Reißteufel! Resi Reißteufelchen! Na wart, ich sag es Corona.«

»Ach, bitte, was kann denn Ihr Fräulein Tochter dafür, daß ihr Hündchen das Tuch erwischt hat –« Endlich war der Name gefallen, um den man bisher herumgeredet und herumgedacht hatte, und nun wurde es eine richtig gemütliche Kaffeestunde. Momme und ihr Gast sprachen über Corona, eigentlich nur über sie. Es war so herzerfreuend, daß Momme nicht einmal die vertane Zeit reute. »Aber woher denn, ich kann heute noch viel fertigbringen«, beteuerte sie, als er schließlich ging. Und setzte sich endlich wieder an die Maschine.

In der Tat, auch eine am Kaffeetisch verschwatzte Stunde ließ sich wieder einholen, wenn man in der besten Stimmung ist. Das war Momme. Er hatte sie ja nicht einmal verwarnt, weil sie den Hund ohne Leine hatte laufen lassen. Eigentlich hätte er ihr eine Geldbuße abverlangen können.

Sie lachte. Es war ein hübsches Buch, das sie übersetzte, die Geschichte einer jungverheirateten Seemannsfrau, die auf ihren Mann wartet und sich ein Kind wünscht und keines bekommt. Sie versucht, sich abzulenken, beginnt zu schneidern, geht in einen Reitverein, schafft sich einen Hund an –

»Halt! Resi, wo bist du? Daher! Wo hast du gesteckt?«

Die kleine Hündin kam heran, merkwürdig folgsam. Momme bückte sich und hob sie auf, roch an ihrem Mäulchen. Rechts und links tropfte es weißlich von den Lefzen herab. Die Sahne! Sie hatte vorhin Sahne geholt, hatte etwas aus dem Pappbecher, in dem man sie kauft, in das Milchkännchen ihres blauweißen Geschirrs geschüttet, den Pappbehälter aber nicht wieder in den Kühlschrank gestellt.

»Du Himmelhund, sakrischer«, schalt sie und schüttelte den Hund, »darfst du naschen? Freilich, wenn Frauchen dir das so schön hinstellt –«

Sie setzte den Hund auf den Boden zurück und sich selbst wieder an die Schreibmaschine. Fing an, in dem Buch zu blättern. Bekam diese nette Inke am Schluß der Geschichte endlich ihr Kind? Momme war für die Bücher, die sie übersetzte, immer so engagiert, als habe sie sie selbst geschrieben. »Das sollte man ihr doch zugestehen. Wenn sie es sich doch so heiß wünscht!«

Sie blätterte. Hier suchte jemand einen Namen – nein, der war für ein Pferd, ein soeben geborenes Fohlen. Hier –

Doch, hier. Hier sprachen sie über Vornamen, über hübsche Mädchen- und Jungennamen. Na also! Nein, nicht vorgreifen. Sie wollte sich selbst überraschen und nicht vorher wissen, wie das Buch ausging. Lächelnd blätterte sie wieder nach vorn.

Vieles war echt an diesem Buch. Da rief der junge Ehemann von irgendeinem Hafen aus an, und Frau und Mutter standen nach stundenlangem gemeinsamem Lauern am Telefon und hätten einander am liebsten den Hörer aus der Hand gerissen. »Jetzt möchte ich –« – »Augenblick, ich will nur –«, so ging es immerzu. Und der Sohn neckte die Mutter mit dem neuen Lippenstift, den sie sich zugelegt habe, und sie konterte: »Aber du hast wieder die alte schmierige Mütze auf, wie ich sehe!« Und Inke lachte und weinte hinterher und rechnete sich aus, wieviel Tage sechseinhalb Wochen ausmachen, denn in sechseinhalb Wochen würde er in Rotterdam einlaufen ...

»Sehr hübsch«, kommentierte Momme und suchte nach einem treffenden Ausdruck, um das Ganze noch anschaulicher zu machen, »wenn ich einmal ein Buch schreibe –«

Das dachte sie übrigens oft, bei allen Übersetzungen, die ihr gefielen oder auch nicht gefielen. »So mach’ ich es einmal nicht –« oder: »Das ist gut. Das ist unterkühlt und trotzdem emotionell –«

»Mein Buch soll einmal keine Fehler haben. Jedenfalls keine so dicken, und es soll charmant sein wie das, das ich vorigen Winter übersetzte. Ich würde es aber eleganter machen –«

So etwa dachte sie, während sie schrieb. Aber es war ihr nicht bewußt, daß sie das dachte.

Genußvolle Stunden, so an der Maschine zu sitzen, umgeben von hellem Holz, das noch immer duftete. Der Raum war auch zu hübsch, ungarische Schreiner schienen viel Geschmack zu besitzen. Mitten darin – die niedrige Decke ließ an eine behagliche Hütte denken – stand ein wuchtiger, nach oben sich verjüngender Kachelofen, grün, wie Kachelöfen sein sollten. An dieser Stelle hatte sich früher die ›Schütte‹ befunden, der große Trichter, durch den das Mahlgut vom oberen Stock in den daruntergebundenen Sack fiel. Dorthin den Ofen zu setzen und nicht in eine Ecke, hielt Momme für eine geniale Idee. Rund um das Kachelungetüm lief eine helle Holzbank. Manchmal wünschte Momme direkt, daß es endlich Winter würde und man das Ungeheuer heizen könne. Dummes Zeug – der nächste Winter würde bestimmt kommen, wie die scharfsinnige Reklame der Heizöl- und Briketthändler so nachdrücklich mahnte. Momme lachte vor sich hin und schrieb weiter, vergaß alles um sich her, auch den kleinen Hund ...

Der brachte sich in Erinnerung, als er an der Telefonschnur zerrte, die vom Tischchen herabhing. Bauz, landete der Apparat auf der Erde. Momme sprang auf, nun ihrerseits das Hündchen erschreckend, und hob den Hörer, prüfte, ob das Telefon den Todesstreich empfangen hätte. Nein, es tutete. Zur weiteren Beruhigung wählte Momme eine Nummer, die ihr geläufig war – es war die ihrer Freundin Marika, um deren Gesundheit sie sich etwas sorgte.

»Wirklich, es geht dir besser? Na, Gott sei Dank!«

In der teuren Zeit anzurufen, so weit über Land! Und sie wußte doch, daß Marika nie ein Ende fand, wenn man sie einmal anrief. Auch jetzt erzählte sie weitschweifig und eindringlich von einer neuen Liebe, die sie sich zugelegt hatte, sie sagte: »Die mir anflog.« Momme grinste. Ohne Liebe konnte diese nun auch nicht mehr junge Frau, Witwe wie Momme, anscheinend nicht leben. Lieber Helf, achtzehn Jahre jünger war »er«, und so reizend, und so besorgt um sie, und so liebenswert ...

Momme legte endlich auf, hinterher – erst hinterher! – seufzend. Nun ja, jedem das Seine, Amor mußte bei Marikas Geburt eben mehr als einen Pfeil verschossen haben. Obwohl – was handelte man sich schon ein, wenn man sich hoch in den Jahren noch einmal verliebte! Kummer und Herzeleid vermutlich, nicht nur vermutlich, sondern todsicher. Es hatte bereits in diesem Telefongespräch durchgeklungen, daß ›Lieb nicht ohne Leid geschah‹. »Nein, ohne mich«, sagte Momme laut und überzeugt vor sich hin und spannte einen neuen Bogen ein, »da lob ich mir doch den braven Kasimir als Liebhaber –« So nannte sie ihre Schreibmaschine. Der enttäuschte nie, stand immer zur Verfügung, ihr zu helfen – zu Geld und zum Glück fortschreitender, befriedigender Arbeit. Welches Glück war wohl so ausdauernd und verläßlich wie dieses!

Das Glück der Liebe? Wie bald war das dahin, bei den einen – der einen, sie dachte jetzt an Frauen, an Marika und sich selbst – durch den Tod des geliebten Partners, bei den andern durch das Leben, das anscheinend jede Liebe allmählich trübte. Der Alltag – sie hatte ihn nie gefürchtet, sie liebte ihn, und gerade im Alltag hatte sie sich mit ihrem Mann am besten verstanden. Manche – viele? – jedoch schienen das nicht zu können. So war das Glück der Liebe auf jeden Fall kurz, an der heutigen Lebenserwartung von etwa siebzig Jahren gemessen.

Und das Glück, Kinder zu haben? Freilich, ein Geschenk, ein unwahrscheinliches, inniges, ausfüllendes Glück, unermeßlich schön, aber zeitgebunden. Mit zwanzig, höchstens dreißig Jahren brauchten einen die Kinder nicht mehr, wenn sie gesund und lebenstüchtig waren, und gerade das hatte dies Glück ja ausgemacht, und daß sie einen brauchten, einen innerlich ernährten, vor allem jene Mütter, die den Mann verloren hatten. Für sie bedeuteten die Kinder eine Zeitlang ein sehr großes Glück. Eine Zeitlang –

Und die Enkel? Gewiß, auch Enkel zu haben war Glück, wenn auch meist ein kurzes, schnell verwehendes, geborgtes Glück.

Das Glück der Arbeit aber, das hielt stand, in jedem Lebensalter, das verging nie. Solange man zufassen und werken, sich anstrengen und wieder abschalten konnte im großen Rhythmus des Schaffens, so lange konnte man sich glücklich preisen, wahrhaftig. Ob das nun ein geliebter Beruf war oder ein Hobby, etwa die Arbeit im Garten, die manchen Menschen so tief befriedigt, oder das Zusammenleben mit Tieren oder eine geistige Arbeit, und sei es nur eine Übersetzung, so, wie sie sie gerade vor sich hatte. ›Wieder ein Stück geschafft‹, dachte sie täglich, wenn sie die sauber getippten Bogen aufeinander legte, ›heute sind es mehr geworden als gestern, aber gestern war die knifflige Stelle dabei, die mich so lange aufgehalten hat –«

Die Arbeit versagte nie. Welch ein Glück, daß es sie gab! Daß man nicht, drohnenhaft und gelangweilt, von einer Rente oder dem Vermögen oder aber von einem Manne lebte, der zwar Geld gab, aber sonst nicht genug, nicht das, was man als Frau eben wollte, suchte und ersehnte: eine gute, fruchtbare Zweisamkeit.

Viele Ehepaare schien es nicht zu geben, die dieses Glück erlebten. Wenn sie sich in ihrem Bekanntenkreis umsah, fand sie kaum eins. Sie selbst aber hätte es vermocht, ein Leben lang mit dem lebendigen Partner lebendig zu bleiben, so meinte sie sicher zu wissen.

Oh ja, ihr wäre es gelungen. Ihre eigene Ehe, relativ kurz, doch glücklich, war, so fand sie, ein Beweis dafür. Wie viele Partnerschaften gingen schon vorher entzwei, im ersten, im siebenten Jahr oder wann auch immer. Selbst wenn sie nicht geschieden wurden, wenn sie nur eben so weiter bestanden – danke verbindlichst! Dann lieber das verläßliche Glück der Arbeit.

Momme hatte sich eine Zigarette angezündet, was sie sonst bei der Arbeit nie tat. Jetzt aber saß sie und sah dem blauen Rauch nach und versuchte, ganz ehrlich mit sich zu sein. Marika suchte immer wieder das Glück der Liebe, erhaschte hier und dort einen Zipfel davon, mußte ihn wieder fahren lassen. Das machte sie unruhig und glücklos. Sie selbst dagegen saß in einer umgebauten Scheune vor der Schreibmaschine, verlangte nichts anderes und war glücklich. Merkwürdig.

Oder doch nicht merkwürdig? Vielleicht hatte Marika das Glück in ihrer Ehe nicht gefunden und suchte deshalb dauernd? Und ›umgebaute Scheune‹? Das war, bei Gott, eine böswillige Verkleinerung eines ganz großen Glückes. Ein Haus am Wald, ein holzgetäfelter Raum, ein grüner Kachelofen – wer hat das schon? Es gehört zu den ganz großen Glücksspendern des Lebens, dieses ›Wie wohnst du‹. Seit sie hierher gezogen war, wußte sie es. Das war auch keine Romantisierung des »einfachen Lebens«, in der sich jetzt manche Leute, die alles hatten, so gern ergingen.

Oh nein, sie gehörte nicht zu den Menschen, die jetzt, im Wohlstand, nach den schweren Zeiten seufzten und fanden, nur damals habe es Herzlichkeit, Zueinanderstehen, wirkliche Gespräche gegeben. Die gleichen Leute schrien weh und ach, wenn ihnen auch nur eine der heute selbstverständlichen Maschinen versagte, die Spül- oder Waschmaschine, das Auto, der Fernseher. Sie dachten nicht mehr daran, daß sie damals ihre Kinder hatten hungern sehen, daß keine Seife da gewesen war, in vielen Notquartieren nicht einmal Wasserleitung, daß man weder baden noch duschen konnte, die Sachen nicht oft genug wechseln, keine Bettwäsche nachkaufen, wenn die alte, hundertfach geflickte, endgültig zerrissen war, wenn Besuch erschien. Nein, das war dummes und sentimentales Geschwätz, wer das als seine Überzeugung ausgab, gehörte zu den Menschen, die überall das Glück suchen und nirgends finden. Glück sollte man überhaupt nicht suchen, fand Momme, ihren Zigarettenrest ausdrükkend, Marika war da auf dem falschen Weg. Mit einem so viele Jahre jüngeren Liebhaber mußte es ja schiefgehen.

Momme suchte die Zeile in dem holländischen Buch, bei der sie stehengeblieben war. ›Wenn der liebe Gott mir nur das eine schenkt‹, dachte die junge Inke sehnsüchtig, ›ich will ihn nie, nie mehr um etwas bitten.‹

Würde sie? Das eine, was sie ersehnte, war ein eigenes Kind. Momme, glückliche fünffache Mutter, verstand das voll und ganz. Aber ›nie wieder bitten‹? Zum mindesten würde sie dann erbitten, daß es gesund blieb, daß es ihr keinen Kummer machen, daß es möglichst mit Geschwistern aufwachsen möge, zu ihrer und ihres Mannes Freude. Tausend Wünsche folgten dem einen erfüllten. Momme wußte das aus eigener Erfahrung und sah zärtlich und ein wenig nachsichtig auf die nächsten Zeilen, die sie nun über Inke schrieb. ›So jedenfalls seufzte sie, und sie meinte es zweifellos ehrlich.‹ Dieser Zusatz stand im Holländischen nicht dabei. Momme setzte es, ohne sich dessen bewußt zu sein, einfach dazu.

Sie hatte schon manchmal etwas dazu gesetzt, und der Lektor des Verlages hatte es gemerkt oder auch nicht. Aber selbst wenn er es merkte – das eine oder andere Mal hatte er es ihr gesagt –, ließ er das Hinzugesetzte fast immer stehen.

»Es ist ja keine hautnahe Übersetzung, die Sie machen, sondern eine Nacherzählung, ich möchte beinahe sagen: eine Nachdichtung.«

»Danke, zuviel Ehre«, hatte Momme geantwortet und war rot geworden, innerlich noch mehr als im Gesicht. Sie fand selbst, Übersetzungen müßten Nachdichtungen sein, nur dann taugten sie etwas. Man mußte das Ganze aufnehmen, in sich umsetzen und neu aufs Papier bringen. Freilich, Handlungen zu ändern stand einem nicht zu, doch manchmal hatte sie sogar das getan, wenn sie sich über die im Buch beschriebenen Menschen richtiggehend geärgert hatte.

So, Schluß für heute! Da saß sie und sinnierte, und draußen wartete der Garten, wartete das durchgetretene Brett an den Stufen zur Eingangstür, das sie durch ein neues ersetzen mußte, wartete tausenderlei. Sie ließ die Maschine stehen, wie sie stand, lief ans Fenster, spähte: regnete es? Nein. Die geschlossene Wolkendecke hatte sich gelockert und in lauter nebeneinanderschwimmende runde Bälle verwandelt, dazwischen lugte schon blauer Himmel hervor. Wenn man so wohnte wie sie, gab es da eigentlich schlechtes Wetter? Sie fühlte: nein, nie. Alles war gut, Regen, wenn er nötig war, Sonne – Wind nicht zu vergessen, sie dachte an das Märchen vom Schulze Hoppe, der sich vom lieben Gott ausgebeten hatte, daß er das Wetter machen dürfe, und mußte lachen. Ach, es war schön, zu leben. Auch ohne das, was man Liebe nennt.

Hundsviech, geliebtes

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