Читать книгу Der Erste Weltkrieg - Élise Julien - Страница 12
1. Der Kriegsausbruch, Ursachen und Erscheinungsformen
ОглавлениеZwischen Allianz und Kontingenz
1914 hatte sich das europäische Machtgleichgewicht bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts empfindlich geändert. In Westeuropa rivalisierten Großbritannien, Frankreich und Deutschland in wirtschaftlichen, kolonialen und militärischen Fragen. Die von Wilhelm II. eingeleitete Weltpolitik drückte sich im Flottenwettrüsten mit Großbritannien und in wiederholten Reibungen mit Frankreich in Marokko aus. Im Südosten Europas schwächte der aufstrebende Nationalismus die multiethnischen Reiche (Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich) und verschärfte die schwelenden Territorialkonflikte. Zudem hatten die Balkankriege von 1912 und 1913 Serbien gestärkt, das von Russland unterstützt wurde und nach Ansicht der Regierung Österreich-Ungarns die Loyalität der slawischen Völker bedrohte. Diese Rivalitäten und Spannungen erklären die progressive Entstehung von antagonistischen Bündnissen. Das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn wurde 1879 unterzeichnet und 1891 mit dem Beitritt Italiens komplettiert. Das Gegenbündnis zwischen Frankreich und Russland wurde 1892 unterzeichnet und 1904 durch Großbritannien im Rahmen der Entente cordiale ergänzt, trotz der kolonialen Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich. Obwohl diese Bündnisse auf Abschreckung zielten, erhöhten sie das strukturelle Risiko eines Konflikts. Zudem verstärkte das Wettrüsten in jeder Hinsicht die Wahrnehmung, einer wachsenden Bedrohung gegenüberzustehen.
In diesem Kontext ermordete Gavrilo Princip, ein junger bosnischer Nationalist serbischer Herkunft, mit der Unterstützung einer panserbischen Geheimvereinigung den Erzherzog Franz Ferdinand und seine Ehefrau am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Dieser Angriff auf den Thronfolger wurde von den österreichischen Führungskräften als Gelegenheit verstanden, der serbischen Bedrohung mit einer Strafmaßnahme zu begegnen. Österreich-Ungarn stellte Serbien am 23. Juli mit der Unterstützung Deutschlands ein inakzeptables Ultimatum. Die serbische Ablehnung der letzten Forderung des Ultimatums führte zur Mobilmachung der österreichischen Armee, gefolgt von der Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegen Serbien am 28. Juli. Damit wurde die Abwärtsspirale in Gang gesetzt, mehr noch aufgrund der Bündnisse als durch den Enthusiasmus der Diplomatien. Am 30. Juli machte Russland mobil, um Serbien zu unterstützen; dies brachte Deutschland dazu, Russland am 1. August den Krieg zu erklären, am 2. August in Belgien einzudringen und schließlich Frankreich am 3. August den Krieg zu erklären. Trotz der Vermittlungsbemühungen Lloyd Georges und angesichts des als nicht hinnehmbar empfundenen Einmarsches in ein neutrales Land erklärte Großbritannien am 4. August Deutschland den Krieg. Die mangelnde Effizienz diplomatischer Kommunikationskanäle hat sicherlich nicht zur Beruhigung dieser auffallend schnell eskalierenden Situation beigetragen. Kaiser Wilhelm II. befand sich Ende Juli auf Kreuzfahrt: Der Zeitpunkt seiner Kenntnisnahme der Ereignisse am 28. Juli war für eine Intervention zu spät; daher überließ er schlussendlich seinem österreichischen Verbündeten die Handhabung der Situation, mit dem Hintergedanken, einen kurzen und beschränkten Krieg zu führen. Der französische Präsident der Republik Raymond Poincaré und der Ministerpräsident René Viviani waren vom 20. zum 23. Juli zum offiziellen Staatsbesuch in Sankt Petersburg. Ihren Rückweg bewältigten sie vom 23. bis zum 29. Juli, also während die europäische Geheimdiplomatie auf Hochtouren lief.
Mehr noch als nach der Krise und der mechanischen Verkettung der Ereignisse, die zur Generalisierung des Konflikts führten, stellt sich die Frage nach der Verantwortung für den Krieg. Das Ausmaß der Fehleinschätzungen und politischen Berechnungen weist auf unterschwellige Ursachen hin, die auf gegensätzlichen nationalen Interessen basieren. Diese Fragestellungen sind Bestandteil einer diplomatischen und historischen Kontroverse, die zur Zeit des Krieges aufkam und Historiker über Jahrzehnte beschäftigte und noch beschäftigen (Forschungsproblem 1).
Kriegseintritt der Gesellschaften
Mit dem Kriegseintritt trat die Reaktion der europäischen nationalen Gesellschaften in den Vordergrund. Die Sicht auf den Krieg differierte 1914 innerhalb der Gesellschaften. Die letzten großen Konflikte waren weit entfernt (Burenkrieg 1899–1902, Russisch-Japanischer Krieg 1904–1905 sowie die Balkankriege von 1912 und 1913, die für westeuropäische Länder abgelegen schienen), wobei die Kolonialeroberungen für die Bevölkerung in den Mutterländern greifbarer machten, was Kriege bedeuteten. In Kulturgütern und Medien jedoch waren Kriege sehr präsent. Zudem war der Krieg ein wichtiges Element der nationalen Politik, was sich kurz vor dem Krieg sowohl an der Erhöhung des Mobilisierungspotenzials (Erhöhung der Dauer des Militärdienstes, außer in Großbritannien) zeigte, als auch an seiner prospektiven Finanzierung (Fiskalreformen). Der Krieg erschien daher als ein mögliches Mittel zur Lösung von Spannungen und Rivalitäten zwischen Staaten, ganz gleich, ob es ihn zu bekämpfen oder zu beschleunigen galt. Diesbezüglich waren die öffentlichen Meinungen zweigeteilt: Ein bedeutender Teil der jeweiligen Bevölkerung erstrebte den Erhalt des Friedens. Es konnte sich dabei um eine kalkulierte, objektive Option handeln (beispielsweise um die für die Integration der wirtschaftlichen und finanziellen Milieus), um eine moralische Position (die pazifistischen Ideen verbreiteten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts) oder auch um eine ideologische Überzeugung (unter anderem bei den Sozialisten, die den Krieg ablehnten und den Internationalismus priesen). Dem entgegengesetzt waren Gruppierungen, die den Krieg akzeptieren oder beschleunigen wollten. Der Krieg war somit die logische Konsequenz des aggressiven Nationalismus, der sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, beispielsweise in der Form des völkischen Nationalismus in Deutschland.
Die Beschleunigung der diplomatischen Krise Ende Juli 1914 provozierte gegensätzliche Empfindungen. Diese reichten von relativer Indifferenz (unter anderem in ländlichen Gegenden, in denen die Ernte vorrangig war) über ernste Besorgnis (wie es die Menschenaufläufe etwa vor Kiosken und Anschlägen für das Lesen von Zeitungen und Depeschen bezeugten) bis zur nationalistischen Erregung (die in einigen Großstädten entfesselt wurde und nun regelrecht ausbrach). Trotz dieser vielfältigen Reaktionen auf das Geschehen war die Mobilmachung Anfang August effizient: Die Männer, die in den Krieg zogen, waren meistens von der Rechtmäßigkeit ihres Einsatzes für ihr Land überzeugt; sie waren umso mehr entschlossen, als sie von einem kurzen Krieg ausgingen. Diese Gewinnung der Bevölkerung sowie der Burgfrieden, der sich in allen am Krieg beteiligten Ländern etablierte, sind überraschend. Die daraus hervortretende Kontroverse unter Historikern zielt folglich auf die Beurteilung der Gemütszustände der Bevölkerung sowie ihren Umgang mit dem Kriegsbeginn ab. Dabei werden das „Augusterlebnis“ (wie es während und nach dem Konflikt beschrieben wurde) oder der „Geist von 1914“ (als Produkt eines einstimmigen und spontanen Enthusiasmus) neu bewertet. Der Erfolg der Mobilmachung wird gegensätzlich interpretiert: Er kann als Ergebnis eines tiefverwurzelten Nationalgefühls, als Konsequenz der staatlichen Autorität oder auch als Folge eines Habitus der Gehorsamkeit verstanden werden – der von den Interaktionen des Sommers 1914 verstärkt wurde und es dem Einzelnen erschwerte, sich der kollektiven Bewährungsprobe zu entziehen (Forschungsproblem 2).