Читать книгу Auf der anderen Seite der Sterne - Liv Modes - Страница 4

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Eine Woche später war Alex der Lösung seines Problems noch keinen Schritt nähergekommen. Je näher die Abfahrt zum Internat rückte, desto nervöser wurde er. Gleichzeitig fieberte er dem Wiedersehen mit Yanik so sehr entgegen, dass er alle fünf Minuten die Uhrzeit überprüfte, um auf keinen Fall den Zug zum Internat zu verpassen.

»Hey, jemand zu Hause?« Anita wedelte mit der Hand vor seiner Nase herum.

»Hm?«, fuhr Alex auf. »Nein, das stimmt nicht, ich bin nicht … was?«

Anita musterte ihn skeptisch. »Du stocherst die ganze Zeit in deinem Essen herum und starrst Löcher in die Luft. Wenn du deine Lasagne nicht mehr willst, gib sie lieber mir, bevor sie kalt wird.«

Alex stieß einen erleichterten Seufzer aus und schob seiner Schwester sein Mittagessen über den Tisch. Seine Mutter redete gerade angeregt auf seinen Vater ein und erzählte von einem Bericht, den sie für ihre Rechtsanwaltskanzlei schreiben musste. Sonst hätte sie Alex sicher pikiert gefragt, ob mit ihrer Lasagne etwas nicht in Ordnung wäre.

»Ist alles okay bei dir?«, fragte Anita leise.

Alex nickte hastig. »Ja, ja. Bin nur nervös, weil morgen die Schule wieder losgeht. Abschlussklasse und so.«

Das war zumindest die halbe Wahrheit. Im Laufe des Sommers hatte Alex seiner Schwester seine Zukunftsängste anvertraut. Seine Eltern lagen ihm seit Jahren in den Ohren und versuchten, ihn auf die eine oder andere Weise in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dass Anita nun dem Weg ihres Vaters folgen und Medizin studieren würde, machte es nicht besser, im Gegenteil – Alex spürte förmlich, wie sehr sich seine Mutter wünschte, dass er nun nach ihr kommen und ein Jurastudium wählen würde. Anita kannte den Erwartungsdruck ihrer Eltern selbst allzu gut. Während ihrer Wartezeit auf den Studienplatz hatte ihr Vater sie durch alle möglichen Praktika und Vorbereitungskurse geschleift, um ihre Chancen zu verbessern.«

Daher nickte sie nur verständnisvoll und vertiefte das Thema nicht weiter. Aber es war bereits zu spät. Alex spürte den prüfenden Blick seiner Mutter schon auf sich ruhen.

»Sprecht ihr gerade über den Abschluss?«, fragte sie neugierig. »Hast du dich denn nun für eine Studienrichtung entschieden, Alex? Mach dir keine Sorgen wegen des Durchschnitts. Es gibt so viele interessante Sachen ohne Notengrenze! Die Auszubildende bei uns in der Kanzlei zum Beispiel …«

»Mama!«, unterbrach Alex sie in einem Anflug von Verzweiflung. »Um meine Noten mache ich mir doch gar keine Sorgen. Das Problem ist, dass ich damit alles machen kann! Woher soll ich wissen, welche Richtung die richtige für mich ist?«

»Also, Jura wäre bestimmt etwas für dich. Und ich könnte dir helfen! Du solltest dich aber noch vor den Herbstferien entscheiden, damit ich alle Schritte einleiten kann.«

Alex atmete tief aus und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Unter dem Tisch ballte er die Hände zu Fäusten. »Schon klar, Mama. Ich … ziehe es in Erwägung.«

»Natürlich, mein Schatz. Es ist deine Entscheidung. Wir unterstützen dich in allem. Sag nur bald Bescheid, ja?«

Liebevoll lächelte seine Mutter ihm über die kälter werdende Lasagne zu und Alex erwiderte ihr Lächeln gequält.

Seine Eltern wollten nur das Beste für ihn, das wusste er. Doch der drängende Unterton in der Stimme seiner Mutter war nicht zu überhören.

»Ich glaube, ich muss noch was einpacken«, haspelte er deshalb und floh aus der Küche.

Er konnte die fragenden Blicke seiner Eltern förmlich spüren. Seine Ausrede war aber auch wirklich schlecht. Seit der fünften Klasse ging er nun aufs Internat und war über die Jahre ein routinierter Kofferpacker geworden. Alex wusste, dass er alle Sachen beisammenhatte. Doch er hätte es nicht eine Sekunde länger am Esstisch ausgehalten.

Wenige Stunden später saß Alex mit seiner gesamten Familie im Auto. Sie fuhren zum Bahnhof und seine Mutter redete ununterbrochen.

»Du kannst immer anrufen, wenn etwas ist, ja? Wir bezahlen dir die Flatrate nicht umsonst!«

Alex’ Vater brummte zustimmend, während er den Wagen mit der Präzision eines Chirurgen in die Parklücke manövrierte. Er ließ es sich auch nicht nehmen, den Koffer zum Gleis zu tragen.

»Mach es gut, mein Junge«, sagte er in seiner steifen Art. Alex versprach es und reichte seiner Mutter aus Gewohnheit ein Taschentuch. Sie weinte jedes Mal, wenn sie sich verabschieden musste. Doch es ging nicht anders. Aus beruflichen Gründen waren seine Eltern selten zu Hause und bis zu ihrem Abschluss hatte Anita ebenfalls ein Internat besucht. Alex tat es ihr lieber gleich, als ständig allein zu sein.

»In den Herbstferien komme ich doch wieder«, versuchte er sie zu beschwichtigen, aber das half nie. Irgendwann löste Alex sich mit sanfter Gewalt von seiner Mutter und verabschiedete sich von Anita.

»Ich erwarte aufregende Studentengeschichten!«, flüsterte er, als er sie umarmte. Ihr Lachen kitzelte ihn am Ohr.

»Grüß Yanik von mir!«, erwiderte sie leise.

Alex versteifte sich. Ein Anflug von Panik durchzuckte ihn. Hatte er sich verraten? Wusste Anita Bescheid? Ihre Miene deutete zumindest nicht darauf hin. Alex erinnerte sich an ein mehrstündiges Telefonat im letzten Schuljahr, in das Yanik hineingeplatzt war. Und seine Familie wusste auch, dass Yanik sein bester Freund war. Er reagierte über.

Halbwegs beruhigt löste Alex sich von Anita, griff nach seinem Koffer und stieg endlich ein. Der Zug fuhr ruckelnd an. Alex winkte seiner Familie, bis sie nicht mehr zu sehen war, und lehnte sich dann zurück.

Endlich war er auf dem Weg zu Yanik.

Unterwegs schickten sie einander Updates, wie lange sie noch brauchten, erzählten von nervigen Fahrgästen und beschwerten sich über den einsetzenden Sommerregen und das schlechte WLAN im Zug. Doch keine Nachricht konnte Alex auf den Herzaussetzer vorbereiten, der ihn erwartete, als der Zug am Bahnhof einfuhr. Yanik wartete am Gleis auf ihn, obwohl es keine schützende Überdachung gab. Seine Locken kräuselten sich in alle Richtungen und das dunkelrote Shirt klebte ihm, durchnässt vom Regen, am Körper. Alex schluckte hart. Yanik trieb nicht übermäßig viel Sport. Doch die leichten Definitionen seiner Muskeln und das freche Grinsen reichten aus, damit sich ein nervöses Kribbeln wie von Schmetterlingsflügelschlägen in Alex’ Magengegend ausbreitete. Sein Herzschlag beschleunigte sich, die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Alex biss sich auf die Unterlippe und rieb sich über die Arme. Das war mehr als die bloße Vorfreude, seinen besten Freund wiederzusehen. Mit Mühe konnte Alex sich davon abhalten, Yanik entgegenzurennen, als er aus dem Zug ausstieg. Gleichzeitig überrollte ihn eine erneute Welle der Nervosität, die ihn beinahe über seine eigenen Füße stolpern ließ.

»Hast du es auch endlich geschafft«, begrüßte Yanik ihn mit einem verschmitzten Grinsen und hielt ihm die Hand hin. »Bereit für neue Missetaten?«

Alex schlug ein und entspannte sich ein wenig.

Es war alles wie immer.

Fast alles.

»Bereit für ein trockenes Shirt«, entgegnete er und sah an sich herunter. Wenn sie noch allzu lang hier draußen herumstanden, würde sein weißes Oberteil eher transparent werden. »War der Wet-T-Shirt-Contest eingeplant?«

Yanik lachte. »Bestimmt nicht, sonst hätte ich mir auch etwas Weißes angezogen!«

»Wir können gern tauschen. Ich bin nicht so wild darauf, quasi halbnackt durch die Schule zu laufen.«

Yanik zog die Augenbrauen hoch. »Bist du so wild darauf, mich oberkörperfrei zu sehen?«

Alex wurde rot und biss sich auf die Zunge, um nicht mit einem »Ja!« herauszuplatzen. Zum Glück wuschelte Yanik ihm nur grinsend durch die feuchten Haare. »Komm, die Hölle erwartet uns«, meinte er scherzhaft und sie machten sich auf den Weg zum Internat.

Wenige Minuten später erreichten sie das weitläufige, von einem schmiedeeisernen Zaun umschlossene Gelände und reihte sich in die Hundertschaften lachender und plappernder Schüler ein, die bereits auf das Haupthaus zuströmten. Darin fand der Großteil des Unterrichts statt. Ihre Zimmer lagen in einem Nebengebäude in der Nähe der Sportanlage.

»Home sweet home«, kommentierte Yanik, als sie die Eingangshalle betraten. Dem konnte Alex nur zustimmen. Sie verbrachten mehr Zeit hier als bei ihren Eltern und die Schule war trotz aller Strapazen zu einem zweiten Zuhause geworden. Alex begrüßte die Sekretärin bei der Schlüsselausgabe wie eine entfernte Tante, die man gelegentlich auf Familienfeiern traf. Sie erwiderte seinen Gruß freundlich, ehe ihr Blick auf Yanik fiel.

»Und Sie sind auch wieder da, Herr Jansen«, seufzte sie, als hätte sie heimlich etwas anderes gehofft. Aus den Augenwinkeln registrierte Alex Yaniks unschuldiges Lächeln. Die Sekretärin war auch für die Führung der Schülerakten zuständig und Yanik sorgte bei jedem Aufenthalt dafür, dass sie ein paar Strafberichte mehr zu schreiben hatte. Dass sie ihn, seit er in der Oberstufe war, auch noch siezen musste, gefiel ihr gar nicht.

Alex stieß Yanik den Ellenbogen in die Seite, bevor er etwas sagen konnte. »Halt die Klappe, die arme Frau macht nur ihren Job«, raunte er ihm zu und nahm die Schlüssel entgegen. Die Sekretärin schenkte Alex einen dankbaren Blick. Er nickte ihr zu. Nicht zum ersten Mal hielt er Yanik von Unfug ab. Dafür verzieh die Sekretärin ihm den einen oder anderen Strafbericht, den sie auch für seine Akte hatte schreiben müssen.

Yanik benahm sich tatsächlich den ganzen Weg bis zu ihrem Zimmer vorbildlich und ärgerte weder Sekretärinnen noch irgendjemand anderen. Er schmollte erst, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

»Verdirb mir doch nicht den Spaß!«

»Schon vergessen? Wir sind jetzt die Ältesten. Findest du nicht, wir könnten uns ein bisschen anständiger benehmen?«

Alex hatte »erwachsener« gemeint, doch ehe er sich korrigieren konnte, verzog sich Yaniks Mund zu einem sehr breiten Grinsen.

»Was hast du denn für unanständige Sachen vor? Verschweigst du mir etwas?«, raunte Yanik und zwinkerte ihm herausfordernd zu. Mit einem Mal war Alex’ Kopf wie leergefegt. Yaniks anzügliche Anspielungen erregten ihn mehr, als ihm guttat. Eine einleuchtende Antwort zu finden war unter diesen Umständen absolut unmöglich, also schüttelte er einfach den Kopf, was die Frage zwar nicht beantwortete, ihm jedoch eine Erwiderung ersparte. Unfähig wegzusehen, blieb sein Blick an Yanik hängen. An den schmalen, harten Linien seiner Lippen. Er dachte an all die unanständigen Dinge, die diese Lippen tun könnten.

Zu Alex’ grenzenloser Erleichterung erinnerte Yanik sich daran, dass er immer noch ein feuchtes Shirt trug. Er öffnete seinen Koffer, um sich ein trockenes Kleidungsstück herauszusuchen, und unterbrach damit den Blickkontakt. Um sich abzulenken, griff Alex nach dem Stundenplan, der auf dem Schreibtisch lag, und studierte ihn, als stünde darauf die Weltformel geschrieben.

»Was ist denn los mit dir?«, fragte Yanik plötzlich. »Du bist heute irgendwie durch den Wind. Ist im Sommer etwas passiert, das du mir noch nicht erzählt hast?«

In der Tat ist etwas passiert, dachte Alex. Mein Herz hat beschlossen, durchzudrehen.

Da die Wahrheit keine Option war und er Yanik nicht anlügen wollte, entschied er sich wieder für eine Halbwahrheit.

»Meine Eltern liegen mir immer noch in den Ohren wegen des Studiums. Sie sagen zwar, dass sie mich unterstützen, aber ich höre doch, wie meine Mutter redet. Anita studiert jetzt Medizin und meine Mutter wäre im siebten Himmel, wenn ich Jurist werden würde. Das macht mich kirre.«

»Kann ich mir vorstellen. Bei mir zu Hause ist es da zum Glück ganz entspannt. Und du solltest das auch sein. Einschreiben kannst du dich ohnehin erst nach den Prüfungen und bis dahin ist noch ein ganzes Jahr Zeit!«

»Nicht ganz.« Alex hob ratlos die Schultern und starrte aus dem Fenster auf das Schulgelände. »Diese ganzen Paragraphen sind nichts für mich, zumindest das weiß ich. Aber wie soll ich das meiner Mutter beibringen?«

»Entspann dich«, erwiderte Yanik. »Wir überlegen uns was für dich und wenn du erstmal einen Plan hast, wird das für deine Mutter auch in Ordnung sein.«

Alex seufzte und wollte etwas erwidern, stockte aber. Das Geräusch eines Kofferreißverschlusses hatte ihn den Kopf heben lassen und nun konnte er live beobachten, wie Yanik sich langsam das feuchte Shirt über den Kopf zog. Er musste schlucken. Natürlich sah er seinen besten Freund nicht zum ersten Mal oben ohne. Doch dieses Mal war es anders. Sein Körper reagierte.

Alex konnte den Blick nicht von Yaniks gedankenverlorenen Bewegungen abwenden. Sehnige Muskeln zeichneten sich unter der sonnengebräunten Haut ab und Alex verspürte das überwältigende Bedürfnis, Yanik zu berühren. Er wollte über die sanften Wölbungen seiner Oberarme streichen, die Seiten hinab, und er wollte seinen Hals küssen, seine Brust. Jeden Zentimeter seiner Haut.

Yanik beugte sich vor und zog ein trockenes Oberteil aus seinem Koffer. Die dunkle Jeans spannte über seinem Hintern. Alex biss sich auf die Lippe und kämpfte das quälende Verlangen nieder. Noch nie hatte er eine solche körperliche Anziehung zu jemandem empfunden.

»Wie ist der Stundenplan für morgen?«, fragte Yanik in die Stille hinein, trocknete sich ab und zog endlich das Shirt über. Hastig dachte Alex an das Unattraktivste, das ihm spontan einfiel, und es kostete einige sehr intensive Gedanken an gelbe Regenmäntel, bevor er sich wieder vernünftig artikulieren konnte.

»Geschichte mit Müller in den ersten beiden Stunden«, las er vom Plan ab. »Dann Mathe, Physik und im letzten Block Deutsch.«

»Ich bereue es immer noch, Physik als Hauptfach gewählt zu haben«, murmelte Yanik finster. »Mir graut es vor der Prüfung. Warum habe ich nur auf meinen Vater gehört, als er meinte, das wäre eine gute Idee?«

»Wird schon schiefgehen«, meinte Alex aufmunternd. Er kannte Yaniks Vater nur aus Erzählungen und wusste ihn nicht einzuschätzen. Mal schien er seinem Sohn gegenüber eher nachlässig zu sein, in anderen Dingen geradezu versessen. Physik gehörte zur zweiten Kategorie. Von seiner Mutter sprach Yanik kaum. Alex hatte einmal nach ihr gefragt, doch Yanik wollte nicht über sie reden und das akzeptierte er.

»Ich helfe dir, wenn du willst«, bot er an.

»Du willst deine Freizeit für meine Nachhilfe opfern?«, fragte Yanik. Er schien ehrlich überrascht, was Alex wunderte.

»Hey, wir helfen uns immer. Schon vergessen?« Entschlossen stemmte er die Hände in die Hüften, obwohl er nicht wusste, ob das eine sehr gute oder eine sehr schlechte Idee war. »Außerdem – so schlimm bist du auch wieder nicht.«

Das brachte Yanik zum Lachen. Er schien etwas zuversichtlicher zu werden und damit gab Alex sich zufrieden. Den Rest des Tages verbrachten sie, indem sie ihre Koffer auspackten und im Gemeinschaftsraum die Ereignisse des Sommers mit ihren Freunden austauschten. Gegen zehn Uhr wurden sie von einem der hausinternen Erzieher aufs Zimmer gescheucht und lagen bald darauf im Bett.

»Nacht«, murmelte Alex ins Dunkel.

»Nacht«, antwortete Yanik schläfrig. Alex hörte noch, wie er sich einige Male hin und her drehte, bis er eine gemütliche Position gefunden hatte. Dann vernahm er nur noch Yaniks ruhiger werdenden Atem.

Alex dagegen lag wach. Er fragte sich ein ums andere Mal, wie er sich erklären sollte, falls er während seiner manchmal sehr eindeutigen Träume verräterische Sachen von sich geben würde. Ob er Yanik ein Liebesgeständnis im Schlaf als Albtraum verkaufen konnte?

Alex schlief ein, ohne eine befriedigende Antwort zu finden.

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