Читать книгу Anna der Indianer - Livia Anne Richard - Страница 6
ОглавлениеAnna sitzt in der Badewanne. Mama war grosszügig mit dem Badeschaum – Milch ohne Ende. Anna ist der Milchmann, und sein Laden läuft auf Hochtouren. Ständig klingelt es an der Tür des Milchmannladens, er hat alle Hände voll zu tun: Milch abfüllen – acht Liter will die Kundin –, schimpfen, weil sie die Milch nicht richtig entgegennimmt und das Halbe verschüttet, als Kundin reklamieren, weil man von der Kassiererin zu wenig Geld herausbekommt, als Kassiererin entgegnen, dass das gar nicht stimmt. Es ist ein emsig Treiben. Anna ist Milchmann, Kundinnen und deren Hunde und Kinder sowie Kassiererin in Personalunion. Sehr bald hätte es wohl einen kleinen grossen Krieg gegeben, doch da klingelt es an der Tür. An der richtigen Tür diesmal.
Mama, Türe klingelt. Ich geh öffnen!, schreit die Fünfjährige. Aus dem Wohnzimmer kommt Mamas Stimme, die vorher als Gemurmel eines Telefongesprächs wahrnehmbar gewesen ist, nun deutlich lauter:
Nein, Schatz, es hat nicht geklingelt, du bleibst schön in der warmen Badewanne.
Es ist zu spät. Anna ist jetzt Anna und schon über den Badewannenrand geklettert. Splitternackt und überall Häufchen von weissem Badeschaum hinter sich lassend, rennt sie durch den Flur über den grün-braunen Teppich Richtung Haustür. Dort stellt sie sich auf die Zehenspitzen, streckt den kurzen Arm und die kleine Hand mit ihren vom warmen Wasser aufgedunsenen Wurstfingerchen aus und zieht die Türfalle herunter. Ein eisiger Wind treibt ihr ein paar Schneeflocken entgegen.
Vor ihr steht ein kleiner Junge, exakt gleich gross wie sie. Er ist sehr ernsthaft gekleidet: schwarz lackierte Halbschuhe, ein weisses Hemd, eine schwarze Fliege, darüber ein schwarzer Anzug, alles frisch aufgebügelt. Das Erstaunlichste aber ist der Kopf, der schmale, sich zur Nase hin zuspitzende Kopf, aus dem zwei wachsame, bernsteinfarbene Augen freundlich zu Anna hingucken. Du siehst am Kopf ja aus wie ein Fuchs!, ruft Anna aus und lacht. Der Fuchs lacht nicht, er kommt ihr bis zur Türschwelle entgegen und streckt die Hand aus. Seine Hand trägt einen feinen, rötlichen Flaum.
Ich bin Ander.
Ich bin Anna.
Weiss ich.
Sie schütteln sich feierlich die Hand, lang, heftig und unter Zuhilfenahme der ganzen Arme, bis eine Art Wippe entsteht, eines ist immer in der Luft und das andere am Boden. Dabei schauen sie sich mit zusammengekniffenen Lippen in die Augen.
Anna, Himmel! Was tust du da, du erkältest dich doch!
Mama rennt ins Bad, kommt mit einem grossen Frottiertuch zurück und legt es um ihre Tochter.
Was führst du denn da für einen Tanz auf? – Siehst du, da ist niemand – ab ins Bad mit dir.
Mama will die Türe schliessen, doch Anna stellt sich neben Ander auf die Türschwelle.
Doch Mama, schau doch! Da ist Ander.
Mama schaut. Und ist nun ernsthaft besorgt. Sie befühlt die Stirn ihrer Tochter, die ist sehr warm, doch das kann auch von der Hitze des Badewassers herrühren. Sie drückt ihre Lippen auf Annas Nacken – nein, Fieber nein.
Komm, mein Schatz – rein mit dir jetzt.
Komm, Ander – rein mit dir jetzt, echot Anna.
Ander steht schon in der Wohnung, ohne dass Mama ihn beachtet. Kopfschüttelnd schliesst sie die Tür.
Im Badezimmer wird Anna von Mama zurück in die Badewanne gehievt. Anna staunt: Ander ist noch klein, aber auch schon gross, er nimmt ganz allein einen Sprung direkt ins Wasser.
Jetzt werden deine Kleider ja ganz nass!, lacht Anna.
Wessen Kleider?, will Mama wissen.
Mehr Schaum!, verlangt Anna. He – nicht über den Kopf von Ander schütten!
Mama muss sofort zurück ans Telefon. Sie ist schon die ganze Zeit am Telefon. Sie muss wohl vielen Leuten davon erzählen, dass Annas Papa seit gestern nicht mehr da wohnt. Mama hat das beim Abendessen gesagt, etwas von Streit, und sie müssten sich trennen. Anna ist darüber weder besonders traurig noch besonders glücklich. Papa war sowieso nicht oft da. Papa arbeitet bei einer Bank, und er muss oft in andere Länder reisen. Anna hat mit Mama so ein tierliches Gefühl, das sie mit Papa nicht hat. Wenn es also schon sein muss, ist es besser, dass Mama bleibt und Papa geht.