Читать книгу Drachentochter - Liz Flanagan - Страница 4
ОглавлениеErster Teil
1. Kapitel
Am Tag, als die Drachen nach Arcosi zurückkehrten, versteckte sich Milla in einem Apfelsinenbaum. Mit derselben Beharrlichkeit, mit der ihr die Zweige in den Rücken stachen, ihr die Arme zerkratzten und die schwarzen Locken zerzausten, ignorierte sie alle, die nach ihr riefen. Sie war klein genug, um komplett im dichten grünen Blattwerk zu verschwinden, was den Baum zwischen dem Hauptteil des Gelben Hauses und seinem Küchentrakt zu einem idealen Versteck machte.
Wenn sie den Kopf drehte, konnte sie über die Gartenmauer auf die Dächer der Stadt hinabsehen und die Schiffe zählen, die sich dem Hafen näherten. Sie atmete den heißen Geruch von Arcosi ein, dieser rastlosen Stadt, die sie liebte: staubige Steine, übel riechende Straßenrinnen, fauligen Fisch, Salz, Gewürze und Blüten.
Das Versteck ermöglichte Milla die erste Pause an diesem Tag. Das Zittern in ihren Beinen und ein leichtes Schwindelgefühl verrieten ihr, dass sie eine Mahlzeit verpasst hatte. Sie streckte die Hand aus und pflückte eine sonnenwarme Apfelsine, schälte sie mit ihren schmutzigen Fingernägeln und saugte den Saft aus dem Fruchtfleisch, bis er ihr übers Kinn lief. Dann schleuderte sie das Beweisstück über die Gartenmauer.
Allmählich fühlte sie sich besser. Sie war sicher, dass ihr niemand mit Absicht zu viel Arbeit aufbürdete. Bloß rief jeder, der das jüngste Dienstmädchen sah, sofort: »Milla! Es gibt Arbeit für dich!«, ohne zu ahnen, dass ein halbes Dutzend anderer bereits das Gleiche getan hatte. Für Milla war es eine Frage der Ehre, niemals Nein zu sagen oder zuzugeben, dass sie zu müde war. Sie machte sich nützlich. Unentbehrlich. Sie würde nie wie eine streunende Katze auf der Straße landen. Denn in diesen merkwürdigen Zeiten, in denen die Soldaten des Herzogs Tag und Nacht durch die Straßen streiften und sich Gerüchte schneller verbreiteten, als ein Habicht fliegt, fühlte sich die Stadt an wie ein großes Tier, das ausgehungert aus einem langen Schlaf erwachte. Mit ihren zwölf Jahren wusste Milla, dass jeder Mensch einen sicheren Ort brauchte. Einen Platz, an den er gehörte.
In diesem Moment hörte sie Stimmen näher kommen. Sie riefen ausnahmsweise nicht ihren Namen.
Zwei Gestalten blieben fast direkt unter ihr stehen. Milla erkannte Lanys, das zweite Dienstmädchen, und einen seltsamen Mann, der einen dunkelblauen, salzverkrusteten Umhang trug und ihn weit über das Gesicht gezogen hatte. Wahrscheinlich hatte Lanys am Tor aufgepasst, während die Wachen beim Brunnen eine Pause einlegten.
»Warten Sie. Ich hole meinen Herrn – wenn Sie mir das Erkennungszeichen geben wollen?« Lanys war vorsichtig. Alle wussten, dass man nicht jeden x-beliebigen Reisenden zum Tor hereinlassen durfte. Nicht in diesen Zeiten.
»Hier, nimm. Aber gib es nur Nestan.« Die tiefe Stimme des Fremden zitterte. Und sein Akzent? Milla konnte ihn nicht zuordnen, was selten vorkam. Seine Aussprache klang ein wenig ungeübt, die lang gezogenen Vokale des Norländischen, der offiziellen Sprache auf der Insel Arcosi, waren ihm nicht vertraut.
»Bitte, nehmen Sie Platz.« Lanys wies auf die steinerne Bank neben dem Springbrunnen. »Wenn ich zurückkomme, bringe ich Ihnen eine Erfrischung.«
Doch der Fremde setzte sich nicht.
Milla hätte fast aufgeschrien, als er mit der Hand in das Geäst neben ihrem linken Fuß griff. Die Hand war tiefbraun und faltig wie ein Pfirsichkern. Sie umklammerte eine merkwürdig geformte Packtasche, wie ein Futtersack für ein Maultier, nur kleiner. Ohne aufzusehen, hängte der Mann die Tasche an ebenjenen Ast, auf dem Milla saß. Er schaute dabei immer wieder über die Schulter und merkte nicht, dass in dem ausgewählten Versteck ein Mädchen kauerte.
Milla starrte die Packtasche an: Sie hatte vier tiefe Beutel aus gewebter Seide, von denen jeweils zwei auf einer Seite des breiten Asts herabhingen. Sie waren rundlich ausgebeult, als enthielten sie Wasserkrüge. Milla hatte noch nie etwas Schöneres gesehen als diese Tasche, sie fühlte sich von ihr angezogen wie eine Motte vom Licht einer Kerze. Vorsichtig stupste sie gegen einen der Beutel – er war fest und gut gepolstert – und versuchte zu erraten, was er enthielt. Was musste so dringend versteckt werden? Edelsteine? Gift? Feuerpulver? Hastig zog sie die Hand zurück und vergewisserte sich, dass die Packtasche nicht hinunterfallen und sie mitsamt dem Apfelsinenbaum in ein Häufchen Asche verwandeln würde.
Plötzlich drang eine neue Stimme zu ihr, sodass sie vor Schreck fast vom Baum fiel. Milla war bekannt für ihr gutes Gehör, aber diese Person musste Federn unter den Füßen haben, wenn sie sich so leise anschleichen konnte.
»Wo ist sie?«, zischte die neue Stimme so leise und drohend, dass Milla die Worte kaum verstand. »Gib sie mir.«
Wer war das? Sie spähte durch die dunkelgrünen Blätter.
Eine Hand in einem Handschuh presste dem Mann im Umhang ein Messer an die Kehle.
»Auf der Stelle!«, sagte der Neuankömmling. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine schwarz-goldene Maske, als wäre er auf dem Weg zur Abendveranstaltung im Palast.
Der erste Mann antwortete nicht. Stattdessen rammte er dem Angreifer den Ellbogen in die Rippen und versuchte sich loszureißen. Für einen kurzen Moment blitzte auf der Innenseite seines Handgelenks eine merkwürdige Tätowierung auf: ein Kreis mit einer Art Vogel darin.
Der maskierte Fremde war schneller. Sein Messer bohrte sich in den Hals des Mannes. Ein dünner Blutfaden lief die Klinge hinab.
Milla machte sich bereit, vom Baum zu springen – wenn sie genug Schwung hatte, konnte sie vielleicht beide von den Füßen fegen –, da hörte sie in der Ferne die wütende Stimme ihres Herrn: »… meine Tochter weiß genau, dass wir nach Sonnenuntergang im Palast erwartet werden …«
Milla umklammerte den Ast so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie sollte springen. Sofort. Aber nicht eines ihrer Glieder gehorchte ihr.
»Lassen Sie mich nach Lady Tarya suchen, während Sie zum –« Lanys Worte brachen abrupt ab. Sie und Nestan mussten den bogenförmigen Eingang zum Hofgarten erreicht haben.
Milla hörte ein leises Klirren, als Nestan sein Schwert zog. Seine Kriegsverletzungen mochten ihn etwas langsamer machen, trotzdem würde Milla bei einem Kampf nicht gegen ihn wetten. Sie reckte den Hals, um durch die Blätter zu schauen.
Der Maskierte wandte sich den beiden zu und zerrte den wehrlosen Mann mit sich.
Dieser keuchte trotz der Klinge am Hals: »Niemals!«
Das war sein letztes Wort.
Später war Milla froh, dass der Angreifer mit dem Rücken zu ihr gestanden hatte.
Sie sah immer noch vor sich, wie es plötzlich blutrot gegen den Terrakottatopf spritzte. Hörte den Körper schwer zu Boden sacken. Sah das verschwommene Schwarz, als der Mörder floh.
Lanys schrie gellend auf, was die Wachen aus dem Küchengarten lockte.
»Ergreift ihn! Ein schwarz gekleideter Mann, maskiert, mit einem Messer!«, rief Nestan ihnen zu. »Schnell! Er entwischt uns.«
Milla hörte das Trampeln der Stiefel, als die Wachen des Hauses die Verfolgung aufnahmen und zum Tor hinausrannten. Sie hörte Nestan herankommen, das metallische Kratzen, mit dem sein Schwert wieder in die Scheide fuhr.
Mit fest zusammengekniffenen Augen klammerte sie sich an ihren Ast und konzentrierte sich nur darauf, zu atmen und sich nicht zu übergeben. Das erforderte ihre ganze Kraft. Sie hatte schon viele Hafenschlägereien erlebt oder mitbekommen, wie die Soldaten des Herzogs Stadtbewohner davonschleiften. Aber noch nie hatte sie mit angesehen, wie jemand ermordet wurde. Sie hätte es verhindern können. Warum hatte sie nicht gehandelt, als sie die Gelegenheit dazu hatte? Stattdessen hatte sie sich wie eine Maus versteckt. Und jetzt war ein Mann tot.
Milla öffnete die Augen und atmete bebend ein.
»Er wusste es«, sagte Nestan wie zu sich selbst.
Milla beobachtete ihn durch eine Lücke im Blattwerk.
Er starrte auf die größer werdende tiefrote Pfütze vor seinen Füßen und drehte mit der Linken unentwegt eine Münze zwischen Fingern und Daumen. »Er wusste, dass ich kommen würde, wenn er mir diese Münze schickt. Jetzt werden wir nie erfahren, welche Nachricht es wert war, dafür zu sterben.«
»Er … er … er kannte das Passwort«, stotterte Lanys. »Deshalb … deshalb habe ich das Tor geöffnet.« Ihr rotbraunes Haar leuchtete in der Sonne, als sie auf die Knie sank, und ihre Hände flatterten wie auffliegende Tauben. »Ich weiß nicht, wie der maskierte Mann hereingekommen ist …«, flüsterte sie. »Es tut mir leid.«
»Ja, das ist das eigentliche Rätsel. Der Mörder wusste genau, wann meine Wachen heute Pause machen. Ich frage mich …« Nestan verstummte.
Milla war eine treue Dienerin: Sie sollte ihrem Herrn erzählen, was der Fremde im Baum versteckt hatte. Etwas, das so wertvoll war, um dafür zu töten. Etwas, das wertvoll genug war, um dafür zu sterben. Aber ihr fehlten ausnahmsweise die Worte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, in ihrer Kehle stieg es sauer auf, ihr Magen rumorte. Sie saß zitternd auf ihrem Ast und klammerte sich fest.
Einer der Wachmänner, die die Verfolgung aufgenommen hatten, kam in den Hof zurückgeeilt. »Wir haben ihn verloren, Herr. Es ist zwecklos zwischen all den Leuten.«
Wie klug der Mörder war! Heute fand der Jubiläumsball des Herzogs statt: Auf den Straßen der Stadt wimmelte es von Feiernden in festlicher Kleidung, und alle waren maskiert. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, den Mann wiederzufinden, begriff Milla.
Nestan unterbrach seine Grübeleien. »Macht das hier weg, bevor es die Zwillinge zu sehen bekommen«, sagte er mit einem Fingerschnipsen zu Lanys und dem Wachmann. »Und verdoppelt die Wachen am Tor.« Während er hinkend davonging, rief er: »Wo stecken meine Kinder überhaupt? Isak? Hat irgendjemand Tarya gesehen?«
Lanys stand auf und stolperte ihrem Herrn hinterdrein, beide verschwanden im kühlen Inneren des Hauses. Der Wachmann bückte sich, hob die Leiche des verhüllten Mannes an und schleifte ihn fort, nur eine leuchtend rote Spur auf den Steinplatten blieb zurück.
Wie konnte der Ball des Herzogs wichtiger sein als das Leben eines Mannes, das vor ihren Augen ausgelöscht worden war?, fragte Milla sich benommen.
Die merkwürdige Packtasche hing schimmernd am Ast. Sie rief nach ihr wie ein süßes, verlockendes Lied. Zitternd streckte Milla einen Finger aus und berührte die Seide. Solange das ganze Haus in Aufruhr war, würde sie die Tasche lassen, wo sie war: Lanys würde sie ihr doch nur auf der Stelle wegnehmen.
»Ich komme später zurück«, sagte sie und sprang vom Baum. Ihre Knie gaben nach, sie taumelte, fing sich wieder und blinzelte die Sterne fort, die vor ihren Augen tanzten.
Einen Augenblick lang starrte sie auf das Blut und machte sich bewusst, dass das hier real war. Es war wirklich geschehen. Und sie fragte sich, ob jemand diesen Toten vermissen würde. Wieder wurde Milla übel. Wie beengend ihr Leben doch war! Ihre Pflichten zogen sich wie eine Schlinge um sie zusammen.
Sie tat das Einzige, was in ihrer Macht stand: »Es tut mir leid«, wisperte sie dem Blut des Mannes zu. »Ich passe auf deine Tasche auf, das verspreche ich dir.«
Dann lief sie los, um die Zwillinge daran zu erinnern, dass sie sich beeilen mussten.