Читать книгу Eva langt zu - Liza Cody - Страница 10
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ОглавлениеEs war Abend, kurz nach sechs. Auf dem Schrottplatz kehrte Ruhe ein, und es wurde Zeit, das Tor abzusperren und die Hunde aus dem Zwinger zu lassen. Es regnete, der schneidende Wind ging mir bis auf die Knochen. Normalerweise hätte ich meine wattierte Jacke angezogen, aber ich konnte sie nicht finden.
Während ich mit dem Tor zugange war, fiel mir ein kleiner Renault Clio auf, der auf der anderen Straßenseite am Bordstein stand. Ich achtete nicht besonders darauf, weil ich nass und durchgefroren war und möglichst schnell wieder ins Warme wollte. Aber das Vorhängeschloss wollte nicht, und die Kette muckte auch auf.
Als die leise Stimme aus dem Dunkeln sagte: »Eva, bist du es wirklich?«, fielen mir zum x-ten Mal die Schlüssel aus der Hand, und ich sagte: »Verpiss dich. Ich habe zu tun.«
Komische Reaktion, den einzigen Mensch auf der ganzen weiten Welt abzuwimmeln, den ich wirklich sehen wollte.
Ich sagte: »Verpiss dich, ich habe zu tun«, und sie sagte: »Entschuldigung, ich wollte nicht stören.« Sie hatte einen schicken, langen Regenmantel an und ein kleines Schirmchen in der Hand, damit ihre Frisur nicht nass wurde. Im Licht der Laterne, das von hinten auf sie fiel, schien es, als ob es Diamanten auf sie regnete. Und sie sah mich an, als ob sie schon lange gewartet hatte. Auf mich.
Sie sagte: »Bist du es wirklich?«
Und ich sagte: »Wer?« Und dann setzte ich mich in eine Pfütze, weil ich plötzlich Pudding in den Beinen hatte. Im Magen war es mir auch ganz schwummerig geworden, weil ich wusste, wer sie war.
Ich sagte: »Simone.« Ich machte die Augen zu und kniff sie ganz fest zusammen. Denn ich wusste, wenn ich sie wieder aufmachte, würde sie verschwunden sein. Es konnte nur am Schnaps liegen, dass ich sie sah. Früher hatte ich jahrelang davon geträumt, dass sie eines Nachts zu mir zurückkommen würde. Manchmal träumte ich, dass sie, als ich Ma in ihrer Räuberhöhle besuchte, im Wohnzimmer auf dem Sofa saß. Ich träumte, dass sie hinter der nächsten Straßenecke vor einem Schaufenster stand und ich sie erwischen würde, wenn ich nur schnell genug lief. Ich träumte, dass sie in einem Auto an mir vorbeifuhr und ich ihr Gesicht durch die spiegelnde Scheibe nicht genau erkennen konnte.
Aber etwas war diesmal anders. Wenn ich davon träumte, dass sie zurückkam, sah sie immer noch so aus wie früher. Als sie zwölf war und ich elf. Ich weiß nicht, warum. Mir ist klar, dass sie auch älter geworden sein muss, genau wie ich. Aber ich sah sie immer nur als hübsches Mädchen. Nie als erwachsene Frau in einem schicken, langen Regenmantel.
Noch etwas war anders. Wenn ich von ihr träumte, war sie ein kleines Mädchen und ich war die Londoner Killerqueen. Ich sonnte mich in meinem Erfolg. Ich war berühmt. Stark. Beliebt. Ich saß nicht in einer öligen Pfütze auf dem Hintern. Das gehörte nicht zu meinem Traum. Weiß Gott nicht.
Also machte ich die Augen wieder auf. Auf der anderen Seite des Tors standen zwei kleine Stöckelschuhe. Und darin stand Simone, auf die es Diamanten regnete. Ich sagte: »Bist du es wirklich?«
Ich schloss ihr das Tor auf. Ich vergaß, die Hunde aus dem Zwinger zu lassen. Zum ersten Mal in meinem Leben vergaß ich die Hunde.
In meinen Träumen hatte Simone auch immer gesagt: »Eva, bist du es wirklich?« Deshalb wusste ich, dass sie es war.
Aber der Hänger war die reinste Müllkippe. Es fiel mir erst auf, als sie reinging. Das war in meinen Träumen auch nicht so gewesen. Im Traum war alles tipptopp aufgeräumt, damit sie gleich sehen konnte, wie gut es mir ging.
»Ich konnte meine Zahnbürste nicht finden«, sagte ich.
»Macht nichts«, sagte sie. »Lass dich einmal ansehen.« Also beguckten wir uns erst mal gründlich. Wir hatten nicht viel Licht, nur von der Taschenlampe und meiner Petroleumlampe. Ich habe nämlich etwas gegen Stromrechnungen. Also musste ich ganz genau hinsehen. Je mehr Zeit ich mir nahm, desto mehr erinnerte sie mich an die alte Simone. Aber es war komisch – als würde sich die erwachsene Frau vor meine alte Simone drängen. Ich hätte diese Frau am liebsten weggeschubst. »Verzieh dich«, wollte ich zu ihr sagen. »Du stehst vor meiner Schwester.«
Sie reichte mir kaum bis zum Kinn. Kein Wunder eigentlich, sie war schon immer kleiner gewesen als ich, obwohl sie ein Jahr älter war. Aber vom Gesicht her hatte sie sich verändert. Früher hatte sie ein Elfengesicht gehabt, große blaue Augen, die unter seidigem Haar hervorblickten. Die Augen waren das Erste, was einem an ihr auffiel, weil sie so dunkel waren, vor allem im Vergleich zu ihrer blassen Haut und den silbrigen Haaren. Sie hatte ein kleines Gesichtchen. Als Kind schien ihr Gesicht mich immer um Hilfe zu bitten. Und ich hatte ihr geholfen. Ich habe auf sie aufgepasst und sie mitgenommen, wenn ich mal wieder ausgerückt bin.
Aber jetzt hatte sie viel zu viel Farbe im Gesicht. Die blassen Backen waren rosa geschminkt, der helle Mund knallrot.
Augenlider und Wimpern waren schwarz angemalt, die Haare golden gefärbt. Meine Simone war zwar immer noch da, aber sie trug eine Erwachsenenmaske, und ich konnte nicht mehr erkennen, was ihr Gesicht mir sagen wollte. »Eva«, sagte sie. »Du bist so groß und stark geworden.«
»Ja.« Ich drehte mich weg. Ich wusste einfach nicht, was sie nach all den Jahren in mir sehen wollte. Womöglich gefiel ihr nicht, was sie sah. Schon früher hatten sie uns die Schöne und das Biest gerufen. Und an diesem Abend war ich nicht besonders gut drauf. Ich wollte mich von meiner besten Seite zeigen, so wie im Traum bei unserer ersten Begegnung, aber ich konnte meine Zahnbürste nicht finden.
Ich konnte auch nicht still stehen. Mein Herz hüpfte wie Spucke auf einer heißen Herdplatte. Ich wollte ihr so viel sagen, aber es verhedderte sich in mir. Es wollte nicht heraus.
Bevor ich daran erstickte, sagte ich: »Wie hast du mich gefunden?«
»Durch Mutter«, sagte sie.
»Durch wen?«, sagte ich.
»Unsere Mutter«, sagte sie.
»Ma?« Ich verstand nicht, dass sie das Wort »Mutter« für unsere Ma benutzte.
»Ja«, sagte sie. »Ich habe mich eine Zeitlang im Ausland aufgehalten, und als ich zurückkam, wollte ich mich mit dir in Verbindung setzen. Meine andere Mutter wusste, wo unsere Ma wohnte. Sie hat ihr manchmal Fotos von mir geschickt.« Noch ein riesiges Gesprächsthema. Damit kam ich überhaupt nicht klar. Ihre andere Mutter. Warum hatte sie sich adoptieren lassen? Früher war sie für mich eine Verräterin gewesen, weil sie sich hatte adoptieren lassen. Dabei war sie noch ein Kind gewesen und hatte wahrscheinlich gar keine andere Wahl gehabt. Ich verzieh ihr. Fast. Ich durfte nur nicht daran denken.
»Ich bin Catcherin«, sagte ich.
»Catcherin?«, sagte sie. Ich konnte nicht erkennen, ob das Gesicht hinter der Maske »Spitze« oder »Scheiße« sagte.
»Hat Ma dir das nicht erzählt?«
»Ich habe ihr nur mit Mühe und Not deine Adresse abschwatzen können«, sagte sie. »Sie ist nicht sehr hilfsbereit, hm?«
»Hilfsbereit!« In meiner Brust machte es peng, und dann saß ich schon wieder auf dem Hintern. »Ich beknie sie seit Jahren«, sagte ich. »Seit Jahren. Seit Ewigkeiten. Ich war immer überzeugt, dass sie wusste, wo du wohnst. Aber meinst du, sie hätte es mir gesagt? Sie hätte sich lieber eine hungrige Ratte in den Schlüpfer gesteckt. Nenn das Weib nicht Mutter. Sie ist keine Mutter.«
»Ach, Eva«, sagte sie. »Nimm’s nicht so schwer.« Sie gab mir ein Taschentuch. »Jetzt sind wir doch wieder zusammen.«
Zusammen hatte sie gesagt. Das hätte mir fast den Rest gegeben. Ich putzte mir die Nase.
»Wir wollen uns das Wiedersehen nicht durch Ma verderben lassen«, sagte sie. »Komm, gehen wir etwas trinken. Gehen wir feiern.«
Der richtige Satz zur rechten Zeit. Ich konnte es kaum erwarten, vom Schrottplatz zu kommen. Seit Simone da war, kam es mir wirklich so vor, als ob ich auf einer Müllhalde wohnte. Außerdem hatte ich Durst, und ich brauchte eine kleine Stärkung.
Sie fand meine wattierte Jacke. Das machte mich irgendwie traurig. Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn wir uns eines Tages wiederfänden, würde ich ihr helfen und nicht umgekehrt. Außerdem hätte ich es lieber gesehen, wenn es meine schöne Lederjacke gewesen wäre, die Motorradjacke mit den vielen Fransen und Schnallen, die ich irgendwo verloren hatte. In der Jacke machte ich etwas her, darin sah ich nicht so aus wie »Made in Taiwan«.
Weil die Regentropfen wie Pistolenkugeln vom Himmel prasselten, zogen wir den Kopf ein und rannten die Mandala Street hoch bis zum Fir Tree Pub. Erst als wir ankamen, fiel mir wieder ein, dass Simone ein Auto hatte. Aber sie schüttelte bloß die Tropfen aus den Haaren und lachte. »Das habe ich vor lauter Aufregung ganz vergessen«, sagte sie. »Weißt du noch, dass ich mich als Kind vor Gewittern gefürchtet habe? Wir haben uns immer unter dem Bett versteckt. Dabei hattest du gar keine Angst.«
»Nein«, sagte ich. »Ich kann Blitz und Donner gut leiden.« Das stimmt. Das war schon immer so. Ich mag es, wenn es rumst und kracht. Früher mochte ich es sogar noch mehr. Wenn das Wetter echt beschissen war, konnte Ma keine Kerle anschleppen, und wenn wir aufwachten, torkelten keine besoffenen Penner im Netzunterhemd und mit der Kippe im Mundwinkel durch die Wohnung. Und wir brauchten nicht die Geräusche zu hören, die wir so hassten. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken.
»Hast du dich eigentlich noch nie vor etwas gefürchtet?«, fragte Simone. »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass du irgendwann Angst hattest.« Da fühlte ich mich wieder groß und stark. Weil Simone mich richtig in Erinnerung hatte. Fast richtig zumindest. Wenn ich mich früher tatsächlich einmal gefürchtet hatte, wäre ich lieber gestorben, als es zuzugeben. Wer sich seine Angst anmerken ließ, wurde fertiggemacht. Als wir noch sehr klein waren und das erste Mal ins Heim gesteckt wurden, war da ein Junge, der eine panische Angst vor Gummibändern hatte. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich verstehe es selber nicht, dass man sich davor fürchten kann. Nicht zu glauben, eigentlich. Was soll denn an einem Gummiband so schrecklich sein? Aber dieser Junge fing schon an zu schlottern, wenn er nur durchs Fenster eins gesehen hat. Und er war so blöd, sich seine Angst anmerken zu lassen, und da haben die anderen Kinder … Den Rest können Sie sich denken. Er hat die Gummibänder überall gefunden, in seinen Hosentaschen, im Bett, im Essen. Als er es nicht mehr aushalten konnte, ist er abgehauen. Aber sie haben ihn eingefangen und wieder zurückgebracht, in unser trautes Kinderheim.
Danach haben die anderen Kinder jedes Gummiband gesammelt, das sie in ihre dreckigen Pfoten kriegen konnten.
»Was hast du?«, fragte Simone. »Du machst so ein grimmiges Gesicht.«
»Nichts«, sagte ich. »Ich musste nur gerade an den Jungen denken, der Angst vor Gummibändern hatte. Ich hätte zu gern gewusst, was aus ihm geworden ist.«
»Aber das weißt du doch«, sagte Simone. »Du hast doch gesehen, was aus ihm geworden ist. Er hat sich an einem Kleiderhaken erhängt. Wir haben es alle gesehen. Mit einem Gürtel. Und die großen Kinder haben gelacht und gesagt, es hätte eigentlich ein Gummigürtel sein müssen. Aber er war aus Leder.«
»Ja, stimmt«, sagte ich. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Man sollte doch meinen, dass ich mir so eine Geschichte gemerkt hätte. Aber ich wusste nichts mehr davon.
Dafür erinnerte ich mich noch gut daran, dass ich einmal mitten in der Nacht in Simones Schlafsaal geschlichen war und gesagt hatte: »Ich will nach Hause.« Worauf sie sagte: »Das geht doch nicht.« Aber ich habe sie überredet mitzukommen. Das war das erste Mal, dass wir zusammen ausgerückt sind. Aber sie haben uns wieder zurückgeholt. Natürlich habe ich es trotzdem noch mal versucht. Und noch mal. Und noch mal.
Ich ging an die Theke, um uns was zu trinken zu holen. Eine Weißweinschorle für sie – was das nun schon wieder war – und ein großes Bier für mich. Während ich wartete, kippte ich noch schnell einen Rum, für die Nerven und gegen die Kälte.
»Ach, Eva«, sagte sie, als ich mich wieder zu ihr an den Tisch setzte. »Du musst mir alles erzählen. Ich fühle mich so …«
Ja, wie fühlte sie sich wohl? Ins Abseits gestellt? Traurig, weil wir so viel Zeit verloren haben? Ängstlich? Nein, ängstlich nicht. Ich kenne keine Angst. Aber der kleine runde Tisch zwischen uns kam mir wie der Nordpol vor, wie eine kilometerdicke Eisschicht über kilometertiefem Wasser, und ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, Simone wieder dahin zurückzubringen, wo wir aufgebrochen waren. Ich wollte sie wiederhaben. Jetzt hatte ich sie wieder, aber es war, als ob ich ihr über das Eis hinweg zuwinkte, über die Zeit hinweg, in der sie nicht bei mir sein konnte. Es sollte wieder wie früher sein, als wir uns bei Gewitter zusammen unter dem Bett verkrochen und uns zusammen zur Hintertür rausgeschlichen hatten. Wir zwei gegen den Rest der Welt, gegen das Universum.
Meine Zunge fühlte sich wie ein Schaumgummipfropfen an.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Nichts«, sagte ich. »Ich bin Catcherin geworden. Ich bin die Größte und Beste von allen. Ich habe sogar einen Privattrainer. Du musst dir unbedingt mal einen Kampf von mir ansehen. Ich besorge dir Plätze direkt am Ring. Der Promoter ist ein Freund von mir. Er behandelt dich wie eine Königin, wenn er weiß, dass du meine Schwester bist. Für meine Schwester ist das Beste gerade gut genug.«
»Ich würde dich gern einmal kämpfen sehen«, sagte sie. »Aber sicher. Ach, Eva, du brauchst doch nicht gleich so aus dem Häuschen zu sein. Natürlich komme ich. Ist ja schon gut. Alles ist gut.«
»Natürlich ist es gut«, sagte ich. »Es ist bloß … Es ist bloß, ich habe etwas aus mir gemacht, Simone. Ich habe es geschafft.
»Aber ja«, sagte sie. »Ich bin stolz auf dich.«
Da. Sie hatte es gesagt. Was ich hören wollte. »Ich bin stolz auf dich.« Einfach so.
»Möchtest du noch so ein Weißweindingsbums?«, fragte ich und ging zur Bar.
Diesmal bediente mich die Wirtin. Als ich mir noch einen Rum hinter die Binde goss, sagte sie: »Trink nicht so viel, Eva.
Wenn du dich wieder so aufführst wie letzte Woche, setze ich dich vor die Tür. Ehrenwort. Mein Mann hat dich schon im Visier.«
»Wie habe ich mich denn aufgeführt?«, sagte ich. »Dein Alter soll lieber die Klabusterbeeren ins Visier nehmen, die dir aus dem Hintern wachsen. Was geht mich dein Alter an?«
»Hüte deine Zunge, Eva. Sei froh, dass ich so ein Gemütsmensch bin. Wenn ich nicht so eine Engelsgeduld mit dir hätte, hättest du schon seit Monaten Lokalverbot.«
»Sie können mich nicht einfach rausschmeißen«, sagte ich. »Mein Geld ist so gut wie jedes andere.«
»Wo wir gerade beim Thema sind«, sagte sie. »Wo …?« Aber ich wollte nichts mehr hören. Diese verschrumpelten Quatschtanten haben immer noch ein anderes Thema auf Lager. Die geben nie Ruhe.
Als ich wieder an unseren Tisch kam, saß ein Geschirrverkäufer vom Markt auf meinem Platz. Er wollte Simone anbaggern. Kein Wunder eigentlich, aber es passte mir trotzdem nicht, und ich sagte: »Verpiss dich, du Scheich. Musst du nicht langsam nach Hause zu deiner Frau?«
Er sagte: »Wie kommst du denn zu so einem Prachtexemplar von Schwester, Eva?«
Ich sagte: »Zieh Leine, Missgeburt.« Aber insgeheim freute ich mich, weil Simone zu mir gestanden hatte. Wenn sie nach unserer Ma geraten wäre, hätte sie das nie gemacht. Ma gibt ja nie freiwillig zu, dass sie mit mir verwandt ist.
»Männer«, sagte Simone, nachdem er sich verkrümelt hatte. »Immer wollen sie was von einem.«
»Bist du verheiratet?«, fragte ich. Keine Ahnung, wie ich darauf kam. Kaum zu glauben, dass ich nicht wusste, ob meine Schwester verheiratet war.
»Tja …«, sagte sie, und ich hielt den Atem an. Ich wollte nicht, dass sie verheiratet war. Ganz und gar nicht.
»Ich war mal verheiratet«, sagte sie. »Aber die Ehe ging in die Brüche.«
Ich war vielleicht froh, das können Sie mir glauben. Ich wollte sie nicht wieder zurückhaben, nur um sie dann mit jemand anderem teilen zu müssen.
»Nach ein paar Monaten war alles schon wieder vorbei«, sagte sie.
»Wie kam das?«, fragte ich.
»Es ging einfach nicht«, sagte sie. »Es war ein Fehler. Ich bin nicht zum Hausmütterchen geboren.«
»Und wozu bist du geboren?« Es war wirklich merkwürdig. Als wir noch zusammen waren, hätte ich sie so etwas nie fragen müssen. Sie war zu etwas Besserem geboren, das stand fest. Jeder mochte sie. Sie hätte werden können, was sie wollte, außer vielleicht Gehirnchirurg – in der Schule waren wir beide nicht die Besten.
»Ach«, sagte sie. »Ich habe Verschiedenes ausprobiert. Aber es war schwer. Meine andere Familie …«
»Ja?«
»Ruhig, Eva«, sagte sie. »Es lässt sich nicht ändern. Du weißt, dass wir nichts dagegen machen konnten. Wir waren noch Kinder. Wir mussten dahin gehen, wo man uns hingeschickt hat.«
»Aber deshalb musstest du dich noch lange nicht adoptieren lassen«, sagte ich. »Du musstest nicht für immer zu ihnen gehen. Dazu hat dich keiner gezwungen.«
»Es gibt solche und solche Zwänge.«
»Was soll denn das wieder heißen?«
»Ach, Eva«, sagte sie. »Schrei mich nicht an. Bitte, schrei mich nicht an. Ich kann es nicht ertragen, wenn du mich anschreist.«
Das stimmte. Sie musste immer weinen, wenn sie angeschrien wurde. Deshalb hat sie auch nicht halb so viele Schläge kassiert wie ich. Man brauchte sie bloß anzuschreien, damit sie anfing zu weinen.
»Du musstest nicht für immer zu ihnen gehen«, sagte ich.
»Sie hatten Teppiche auf dem Fußboden«, sagte sie. »Und Zentralheizung. Ich bekam ein eigenes Zimmer. Sie wollten mich. Sie haben mir ein Zuhause gegeben, Eva.«
»Ich wollte dich auch«, sagte ich. »Und ein Zuhause hattest du schon.«
»Nein«, sagte sie.
»Doch«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie. »Und du auch nicht. Sei doch mal ehrlich. Und schrei mich nicht an. Wenn du mich anschreist, gehe ich.«
»Wir hatten uns«, flüsterte ich. Mir hatte das genügt. Warum war es für sie nicht genug gewesen? Ich brauchte keinen Teppichboden, wenn ich sie hatte.
»Wir hatten immer nur Ärger, waren ständig auf der Flucht.«
»Aber wir waren zusammen. Es war schön, wenn wir zusammen waren.«
»Scht!«, sagte sie. »Du warst zäher als ich.«
»Ja, und wer hat auf dich aufgepasst?«
»Jetzt schreist du schon wieder.«
»Ich schreie doch gar nicht!«
»Ich gehe«, sagte sie. Und sie ging.