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Bindungsfähigkeit
ОглавлениеWie man inzwischen weiß, ist der Riechkolben des Menschen direkt mit dem Hippocampus verbunden. Gerüche werden ohne Umwege mit Emotionen verknüpft und Erinnerungen an die Geruchssituationen natürlich auch. Das wusste Marcel Proust längst vor der Neurowissenschaft und mein Großvater ebenso. Er war Angestellter bei den städtischen Werken, als „Experte“, wie er später gerne erzählte. Riech-Experte war er, und das, was er erschnüffeln sollte, war Gas. Opa war Gasriecher. Er hielt ein langes Rohr, das aus einem in den Straßenbelag gebohrten Loch entsprang, am an-deren Ende an eines seiner erstaunlich großen Nasenlöcher und prüfte, ob es verdächtig roch. Wenn ja, wurde die gesamte Gegend abgesperrt, wie er manchmal genüsslich und sehr ausführlich im Familienkreis berichtete, und das Loch in den unter dem Belag verlaufenden Rohren gesucht. Das war eine große Verantwortung. Auch das betonte er immer wieder.
Für mich als Enkelkind ohne Vater war Opa der bedeutendste Angestellte der Welt. Seine Erzählungen, die häufig nur mir galten, entführten mich in eine spannende, gefährliche Welt, in der es sicher nicht einfach war zu bestehen. Sorgen müsse ich mir nicht um ihn machen, sagte Opa ab und zu, er sei ein geübter Riecher. Ich machte mir auch keine Sorgen um ihn, sondern um mich. Ich fragte mich, ob ich jemals in einer so gefahrvollen Arbeitswelt bestehen könnte. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Jedenfalls war Opa so wichtig, so bedeutend, so wollte ich auch mal werden. Und so mutig. Es hätte ja immer was passieren können, es hätte explodieren können, bevor er das Gas roch.
Was der erste Erzähler aus der Arbeitswelt, dem ich zuhörte, verschwieg, wurde mir erst spät klar, als Erwachsener: Die menschlichen Gasriecher wurden bereits in den 20er-Jahren durch Leck-suchgeräte und Hunde ersetzt. Seine Arbeit als Gasriecher wird nicht mehr als ein paar Jahre gedauert haben. Was hat Opa eigentlich danach gemacht? Es muss öde gewesen sein, langweiliger in jedem Fall, denn er redete nie davon.
Das Riechen spielt in meinem eigenen Beruf eine große Rolle, wenn auch nicht die größte, wie bei Opa. Ich bin Florist. Hier ist das Binden wichtiger als der sich ergebende Duft, der ja meist ein Mix ist. Beliebt sind derzeit natürlich wirkende Sträuße, die an Ländlichkeit erinnern, Bodenständigkeit suggerieren. Die Opulenz der 80er und 90er kommt vielleicht bald wieder – noch ist sie unbeliebt, und ich bin ganz froh, dass dem so ist. Als junger Florist kamen einmal Leute in unseren Laden, recht nett wirkend, aufgeschlossen, offen für Neues, die wollten, nachdem sie die roten, weißen und gelben Rosen im Laden betrachtet hatten, blaue haben und fragten, ob wir die weißen nicht färben könnten. Das brachte mich innerlich in Rage, äußerlich musste ich die Fassung bewahren, wie immer im Laden, verneinte also, so trocken ich konnte. Die Leute gingen unbefriedigt raus, ich hatte sie wohl schlecht beraten. „Ein Kunde, der ohne alles den Laden verlässt, kommt nicht wieder“, pflegte mein Chef zu sagen. „Für immer verloren.“ Der erste Verlust zieht weitere nach sich – ein kaufmännisches Desaster.
Mein Fehler war lange Zeit, dass ich mich falsch orientierte. Nicht der nahe, kurzfristige Gewinn war meine Stärke (den wollten aber meine Arbeitgeber), auch nicht die schnelle Eroberung der Kunden und Kundinnen, sondern der langfristige ästhetische Anspruch, den ich bei ihnen zu provozieren lernte. Das dauert schon mal Monate. In-zwischen habe ich einen eigenen Laden, bin um-geben von einfachen Blumen, die ich vergesellschafte, zu Familien, Freundesgruppen. Die Kunst besteht darin, all das natürlich wirken zu lassen, was aus Menschenhand entstand. Ein selbstverständliches Entstehen der Schönheit ist das Ziel im Auge des Betrachters – in Wirklichkeit steckten Stunden Arbeit im dann so attraktiven Produkt.
Ich bin ja kein Schreiber, ich kann von orangen Tulpen, die manche unglaublicherweise mit Violett koppeln, schreiben, von unsauber gelegten Bindestellen oder von Ringelblumen, die eine Zeit lang gerne auf Plastik geklebt wurden, vorzugsweise in Kindergärten. Doch um all diese widerlichen Dinge geht es mir gar nicht. Sondern?
Ich war alleine im Laden, als sie ihn betrat. Wir waren alleine. Sie ließ mich gleich an die schönsten Tulpenfelder der Welt denken, so empfinden, als stünde ich vor ihnen. Sie trug ein rotes, ja knallrotes Oberteil, das eng genug war, um die Form des Darunterliegenden konturiert zu sehen, und einen weißen Rock aus dünnem Stoff, Leinen vielleicht, der, als sie eintraf, leicht hochwehte, wie ein junges Rosenblütenblatt im Spätsommer, ein Anblick, der mich nie wieder losließ. Es war tatsächlich Sommer, ihre Beine waren nackt, ihr Gesicht hübsch, braune Augen darin, braunes gelocktes Haar drumherum, sie lächelte meist, als sie sich nach der ersten Begrüßung umschaute. Nie zuvor und nie mehr wieder habe ich eine Kundin oder einen Kunden dabei beobachtet. Sie benötigen Muße, um sich einzufühlen in die Pflanzenwelt, vielen sind die besonderen Eigenschaften der Wesen darin nicht geläufig. In diesem Fall war alles anders. Dass ich ihre Schritte, ihre Blicke verfolgte, nachvollzog, war mir selbst gar nicht klar – es geschah einfach. Ich konnte nicht von ihr lassen. Diese Frau bewegte sich, wiegte sich selbst in ihren Hüften, so sicher, so selbstgewiss, wie ich es für mich selbst niemals für möglich hielt und halte. Ein Körperbewusstsein wie eine Turnerin, eine Selbstsicherheit wie eine Schauspielerin. Doch sie turnte und spielte nicht, sie war sie selbst. Als sie den morgens von mir gebundenen Strauß betrachtete – das war mein neuester Lieblingsstrauß, die beste Kreation seit Monaten –, lächelte sie, ich sah das und lächelte auch, hätte am liebsten geschrien vor Lachen und Glücksempfinden.
Von meinem alten Chef habe ich gelernt, auf entscheidende Situationen zu achten, etwa wenn eine Kundin den Gesichtsausdruck ändert oder sich ihre Bewegungen lockern. Diese Frau änderte nichts. Zugleich änderte sie alles. Ich empfand mehr, als ich bewusst wahrnehmen konnte. In mir entwickelten sich Bilder des Aufspreizens, jenes Bindeprinzips, das die Schönheit des Darunterliegenden offenbart. Unter der äußeren, offensichtlichen, soll alles so wirken, als ginge man durch einen verwilderten Garten und finde weit unten, in der Tiefe, wunderschöne Blüten einer verborgenen Tulpenzwiebel. Das ist dann das Ergebnis der ganz hohen Kunst des Bindens, eines Niveaus, das nur sehr wenige Floristen erreichen. Ich weiß, dass ich an diesen großen, ja erregenden Bindekunst-Moment dachte, aber nicht, warum.
Sie ging mit einem vielsagenden Lächeln. Wir hatten zwischen den Begrüßungs- und Verabschiedungsworten kein einziges gewechselt, und doch schien mir niemals ein Mensch näher als sie gewesen zu sein. Als sie mich und meinen Laden verließ, nahm ich ihren Duft wahr. Nichts, keine einzige Blume duftete so einmalig bitter-süß wie sie. Für immer verloren. Was mir, als sie bei mir war, gefehlt hatte, war das, was ich an meinem Großvater einst so bewundert hatte: Mut. Und ich blieb, wie immer, allein in meinem Laden, mit einem staunenden Schweigen.
Und so ging es regelmäßig, immer wieder. Sie war nicht die einzige Schöne, die wortlos und unange-sprochen meinen Laden verließ. Was mir bei den Blumen so gut gelang, klappte bei mir selbst gar nicht. Und wenn mir das bewusst wird – das ist immer häufiger der Fall –, wäre ich jedes Mal gerne eine Tulpe oder eine Nelke in meinem Laden. Dann täte ein anderes Wesen das mit mir, das mir selbst nie gelingt.