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Georg und Frieda

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Wir Limnologen nehmen Proben, prüfen, messen, berechnen Schichten der Gewässer, in denen andere schwimmen oder an denen sie achtlos vorbeispazieren. Wir denken an all die Gesteine, an denen Quellwasser vorbeizieht, an Zuflüsse und Regengüsse. Wir beobachten Geschehnisse, die die anderen nicht sehen können. Verhältnisse, Beziehungen von Elementen, die anderen verborgen bleiben, sie finden unterirdisch und unter Wasser statt. Längst verstorben geglaubte Tiere tauchen wieder auf, wie aus dem Nichts, unvermittelt, beeinflussen das System, benötigen so viel Sauer-stoff, dass andere zugrundegehen. Wieder andere breiten sich aus, brauchen Platz, den vorher ältere eingenommen hatten. Die werden nun verdrängt. Evolution ist eine schöne Erzählversion unseres Daseins. Wir, die Experten für Gewässerkunde, erleben sie jeden Tag. Wir könnten viel davon erzählen – doch das interessiert niemanden. Ich jedenfalls habe noch keinen gefunden.

Auch wenn ich Ferien habe, zieht es mich zum Wasser, es lässt mich nicht los. Und jetzt kann ich was erzählen: Ich schlidderte, sagt man das so?, ich schlidderte – „geriet“ ist wohl das bessere Wort – in eine komische Geschichte. Ihr Ausgangspunkt: Flussufer. Jetzt erzähle ich – ein Anfänger im Geschichtenerzählen – einfach drauflos:

Ich fand den Mann an den Anhöhen mit ihrem schwachen Grün liegen. Völlig außer Atem, total nass, ein paar Blutspuren waren zu sehen, er weinte, schrie, war zerzauselt und irgendwie verbogen wirkend. Sprechen war nicht drin, Gucken wohl auch nicht, er blinzelte, schaute mich blind an, sah mich nicht. Verstand er? „Hallo, was ist denn geschehen?“ Der Mann rührte sich, und als er wieder langsamer atmet, zu sich kommt, lächelt er, ganz zuversichtlich. Ich reiche ihm meine Jacke, und ja: Er lässt sich bedecken, abtrocknen auch. Wirkt bedürftig, anlehnungsbedürftig. Doch dann schmeißt er plötzlich alles von sich, die Sachen fallen eher ab, und er schleppt sich den Hügel hoch, eine Art Krabbeln ist das eigentlich. Als er oben ankommt, streckt und reckt er sich, wirkt viel größer als je zuvor und geht los. Ungeheuer schnell ist er nun. Ich folge mit meinem Fahrrad, anders ginge es gar nicht, sein Tempo ist atemberaubend. Sein Weg? Scheinbar ziellos, er geht mal rechts ab, dann wieder rechts, und noch einmal rechts, sodass er dort landet, wo er bereits war. Das lernt er offenbar, nimmt nicht mehr jede Seitenstraße, muss nicht alles sehen, bleibt geradliniger, seltener geht er unnötige Nebenwege, doch dann landet er in einer Sackgasse. Er findet heraus, klettert über eine Mauer und ist nun alleine. Ich abseits, keine Chance, ihn weiterzuverfolgen. Studiere meine Karte, um herauszufinden, was hinter der Mauer ist und wie ich dorthinkomme, denke, dass mein kleiner Uferspaziergang ausgerechnet vor einer Mauer endet und die Offenheit, die ich suchte, in einer Sackgasse mündet, da gibt es dieses Geräusch, wie wenn ein Dachziegel sich löst. Und tatsächlich: Der Typ klettert auf einem First, weit nach oben, und ich sehe noch, wie er in ein Fenster steigt. Er kommt an – ich stecke fest.

Wenige Wochen später erzählte ich einem neuen Mitarbeiter in unserem Büro von dem Vorfall, einfach weil ich ihn nicht vergessen konnte und das Ende offengeblieben war, aber auch, weil man ganz neuen Leuten in seinem Leben manchmal liegengebliebene Dinge erzählt – solche, die man anderen verschweigt. Ein komischer Vorgang: Der Adressat weiß nichts von einem, soll aber ganz Wichtiges anhören, annehmen, einen Rat geben vielleicht, manchmal sogar verzeihen. Wir sprachen dann auch über die Probleme, aus dem Russischen ins Deutsche zu übersetzen, über Dostojewski und neue russische Autoren – und auch über St. Petersburg, jene Stadt, aus der er gekommen war.

„Sag mal, ich bin sehr dankbar, dass du bei uns angeheuert hast, ein großer Fortschritt könnte das sein für unsere kleine Klitsche, aber: Warum bist du eigentlich von St. Petersburg weg?“

„Die Geschäfte liefen nicht mehr. Und außerdem war ein Freund von mir gestorben, hat sich umgebracht. In die Moldau, und dann, tja ... Nie wurde er wieder gesehen. Sein Vater schrieb mir. Er wollte einen leeren Sarg beerdigen. Er selbst starb übrigens drei Tage später. Sie liegen jetzt nebeneinander, naja: zumindest die Särge.“

„Und du bist dann hiergeblieben?“

„Ja, ich merkte, dass mir eure Mentalität doch näher ist. Musste ja die Formalitäten regeln, der Mann, also der Vater, war ja ganz allein. Keine Verwandtschaft, keine Freunde.“

Es trat eine kleine Pause ein. „Dann spürte ich, dass das passt zu mir hier. Jetzt bin ich immer noch da.“ Seine letzten Wörter hörte ich nur noch, verstand sie gar nicht mehr – längst rechnete ich nach und fragte, wie lange das alles her sei. „Die Beerdigungen? Mmh, so vier Wochen, knapp fünf die erste.“ Komisch sei gewesen, dass die Freundin des Ertrunkenen gar nicht zur Beerdigung erschienen war. „Das fällt mir jetzt wieder ein. Hatte mich damals schon gefragt, wieso. Ich fandʼs komisch. Ich selbst hatte ihr noch die Karte geschickt – der Vater wollte nicht. Der wollte sie überhaupt nicht sehen. Was hat der geflucht über die.“ Die Adresse der Freundin gab er mir ohne Scheu oder Stirnrunzeln. Der Name kam mir bekannt vor, ich war aber nicht sicher, ob ich ihn wirklich schon kannte.

Es ist erstaunlich, wie oft wir in jenen Momenten schweigen, die für den anderen – für den, dem wir etwas verschweigen – lebensverändernd wirken könnten. Wir sagen nichts, und der andere bleibt unwissend. Kurz davor, etwa ein Geständnis oder eine Aufklärung eines lange dunkel gebliebenen Geschehens abzuliefern, verzichten wir darauf, da wir befürchten, dass der andere sich in der Folge zu einer radikalen Entscheidung, einer Trennung im Extremfall, provoziert fühlt, verletzt oder irritiert, wie er ist.

Auch ich schwieg nun, obwohl ich ahnte, mit wem ich hier eigentlich sprach und von wem er gesprochen hatte. Kaum hatte ich die Adresse, war ich schon da. Als ich an der Haustür stand und das Namensschild „Brandenfeld“ suchte und ein anderes fand, wurde mir etwas schummrig. „F. und G. Bendemann“ stand da, und als ich hinter mir ein Frauengelächter hörte – es war nicht eines dieser aufdringlichen, alle Grenzen überschreitenden, sondern ein eher privates, wie kodiert wirkendes – und mich umdrehte – was war da? Ein Paar stolperte auf mich zu, noch einigermaßen kontrolliert, offenbar gerade vermählt. Die beiden lachten, sie waren beneidenswert überschwänglich, gingen Arm in Arm, eng beieinander, sehr verliebt wohl, da reißt der Mann sich los mit den Worten (die er eher schrie als sagte): „Weil sie die Röcke so und so und so gehoben hat“, wozu die Frau tanzt, ihr Hochzeitskleid lüftet und ihre Beine zeigt, wie eine Can-Can-Tänzerin. Schöne weiße Strümpfe hatte sie an, die ihre Beine sehr schlank und wohlgeformt erscheinen ließen. Sie kreischte vor Lachen, ausgelassen. Toll war sie – und toll sah sie aus. Der Mann lachte laut und rief: „Wir sind da! Wir sind am Ziel!“ Sie küssten einander sehr innig.

All das geschah, als ich vor ihnen stand, doch sie beachteten mich ja gar nicht. Sahen sie mich überhaupt? Er fummelte an ihrem Kleid herum, sie: „Nee, jetzt doch nicht. Gleich. Komm, wir gehen hoch.“ „So und so hat sie ...“, rief er lachend, sang es fast wie einen Refrain. Lachend, singend, tanzend kamen sie ins Haus, nicht ohne auf mein „Guten Abend“ freundlich ein „Dobry den“ zu erwidern. Er erkannte mich nicht. Wie auch? War viel zu sehr neben sich gewesen damals, zu berauscht vom Geschehen auch. Die Haustür schloss sich, ich blieb außen vor.

Niemand weiß von irgendwas und irgendwem – nur ich. Ich verwalte das Geheimnis, hüte es. Wieder einmal. Immerhin. Doch jetzt, jetzt wollte ich das dann doch mal erzählen. Ob diese kleine Geschichte den Blick auf die Weltliteratur verändert, bezweifle ich aber.

Kallistos Familie

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