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Es kann nicht jeder glücklich sein

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An einem warmen Junimorgen klopfe es an Milas Tür. Mila unterbrach das Gespräch mit ihren beiden Söhnen Marko und Brandil und sah Brandil fragend an, der aufstand um die Tür zu öffnen. Draußen stand ein ihnen unbekannter Mann mittleren Alters. Er war mittelgroß, hatte dichte dunkle Augenbrauen, war schlank und trug ein grau gestreiftes Jackett zu grauen Hosen. Er wirkte nicht, als sei er aus der Gegend. Ein Hauch von Großstadt haftete ihm an.

Ohne Umschweifen kam er zum Thema: »Ich heiße Ranko. Meine Cousine Dusanka sagte mir, dass ihr schöne Töchter habt. Ich bin gekommen, um für eine Ihrer Töchter zu werben. Ich möchte sie heiraten.« Drei Augenpaare schauten ihn verwundert aus dem Inneren des Hauses an.

Lenas Bruder Marko war, ebenso wie Brandil, volljährig und bedeutete dem Unbekannten mit einer Handbewegung, herein zu kommen. Er bat ihn, sich zu setzen und fragte: »Woher kommst du Ranko?«

Ranko räusperte sich und antwortete: »Ich lebe und arbeite in Rijeka.«

Mila, Lenas Mutter, betrachtete den Fremden skeptisch »Wie alt bist du Ranko?«, wollte sie von ihm wissen. Dabei sah sie ihn aufmerksam an.

Ranko schwieg eine Weile, als müsste er erst darüber nachdenken wie alt er sei, dann antwortete er mit rauer Stimme, dass er dreiundzwanzig Jahre alt sei. Dabei senkte er den Blick, um Milas auszuweichen.

Erst viele, viele Jahre später sollte Lena nach einer langen und schweren Zeit erfahren, dass er gerade gelogen und rund fünfzehn Jahre älter war, als er es der Mutter erzählt hatte. Zu Lenas Unglück war von allen Mädchen heute nur sie zu Hause. Lena war erst siebzehn Jahre alt.

Der Fremde beäugte Lena von allen Seiten. Sie war jung, schön und naiv. Lena war schlank, hatte langes blond gelocktes Haar und grüne Augen. »Eine sehr attraktive junge Frau«, dachte Ranko und leckte sich kaum sichtbar die Lippen.

Milas Stimme klang brüchig als sie schließlich sagte, dass sie keine heiratsfähigen Kinder hätte.

Ihre neunzehnjährige Tochter Maja hatte erst vor zwei Wochen geheiratet und Lena sei noch zu jung.

»So jung ist sie gar nicht«, erwiderte Ranko schnell, »und sie ist sehr schön!«

Lena bekam große Angst und wollte so schnell es ging aus dem Haus. Sie lief zur Tür, um das Gespräch nicht weiter anhören zu müssen, doch Marko rief sie zurück. Mit hängenden Schultern und Tränen in den Augen machte Lena auf dem Absatz kehrt. Sie hoffte inständig, dass ihre Brüder zu ihr halten und den Fremden wegschicken würden.

Mila lebte mit ihren Kindern auf dem Dorf und sie waren sehr arm. Rankos Cousine hatte ihm bereits erzählt, dass die Familie mittellos war und er bemerkte es sofort beim Eintreten ins Haus. Wie es auf dem Land üblich war, brachte er Almosen mit und zog sodann aus seiner Hosentasche 500 Dinare. Wortlos legte er das Geld auf den Tisch. Die beiden Brüder sahen sich fragend an, dann blickten sie zu Ranko.

»Das soll für Lena sein und ich nehme sie mit nach Rijeka«. 500 Dinare waren Ende der 1960er Jahre sehr viel Geld.

»Lena«, sagte die Mutter nach einer Weile in das Schweigen, »Ranko möchte, dass du ihn nach Rijeka begleitest. Es scheint, als sei er ein guter Mann und er wird sicher gut für dich sorgen. Zieh dich an und kämme dich, pack ein paar Sachen und begleite Ranko.«

Lena war wie vom Donner gerührt. Die Mutter wollte sie fortschicken! Das konnte sie doch nicht tun?

»Nein«, antwortet Lena bestürzt. »Ich gehe nicht mit Ranko! Ich kenne ihn nicht und ich weiß nicht einmal wo Rijeka ist!«

»Doch, Lena. Es ist besser so, Ranko wird für dich sorgen.« Mutters Stimme klang müde, als sie das sagte. Die Brüder waren damit nicht einverstanden, doch Mila dachte, sie tue ihrer Tochter etwas Gutes. Sie kannte Rankos Cousine und hoffte, das Lena in Rijeka ein besseres Leben führen würde, als hier verarmt auf dem Land. Lena begann zu weinen.

Es schien Lena, als würde sich das Schicksal ihrer Mutter für sie wiederholen. Nun musste auch sie gegen ihren Willen mit einem fremden Mann in eine ihr unbekannte Stadt gehen. Den ganzen weiten Weg nach Rijeka weinte Lena im Zug. Ranko schwieg und sah Lena freudig bei ihrem Leid zu, er genoss ihre junge Verzweiflung. Lena verließ ihr elterliches Haus ohne Hochzeitsfeier und ohne Eheversprechen, ohne Glück. Und Ranko hatte nichts davon gesagt, dass er eine Frau und ein Kind in Otoccu, nahe dem Meer hatte. Als sie in Rijeka ankamen, mussten sie in den Autobus umsteigen und fuhren wieder eine scheinbar endlose Zeit, um an einer Haltestelle weitab des nächsten Ortes auszusteigen. Nach einem anstrengenden Fußmarsch bergan, standen sie schließlich in einer einsamen alten Holzhütte mitten im Wald, die Ranko angemietet hatte. Die Hütte war nur sehr spärlich mit einem Bett und ein Gasherd eingerichtet. Aber es schien, als hätte diese Hütte schon vieles gehört und gesehen und würde diese sprechen können, was hätte sie alles zu erzählen?

Für Lena schien die »Hochzeitsnacht« niemals enden zu wollen. Es war das Grauenhafteste, was sie je erlebt hatte. Ein schweres Schicksal erwartete sie. Das wusste sie nun nach dieser Nacht! Lena kannte bis daher keine Küsse und wusste nicht, was Liebe war. Sogleich wurde sie schwanger und erwartete ihr erstes Kind. Sie durfte niemanden von ihren Sorgen und Nöten erzählen; weder ihrer Mutter, noch ihren Brüdern. Niemand erfuhr, was sie alles ertragen musste.

Der Postbote brachte oft Briefe mit Bildern von Rankos Frau und Kind. Aber er leugnete immer wieder, dass er verheiratet sei. Und jedes Mal, wenn Lena nach der Frau und dem Kind auf den Fotos fragte, verprügelte Ranko sie. Erst viele Jahre später, kurz vor der Trennung von ihrem Mann, erfuhr Lena, dass er oft bei seiner Frau und ihrem Kind gewesen war und sogar mit seiner eigenen Tochter ein Kind gezeugt hatte. Seine erste Frau hatte er wiederholt so sehr geschlagen, dass sie an den Folgen der Verletzungen verstorben war.

Lena bekam mit Ranko zwei Kinder und hatte in fünfundzwanzig Jahren neun Abtreibungen. Ranko war es egal, ob sie ein Kind austrug oder es abtreiben ließ. Als ihre Kinder groß waren, konnte Lena dieses Leben nicht mehr ertragen. Sie wollte sich scheiden lassen. Um die Scheidung einzureichen, benötigte sie den Trauschein. Als sie in der Behörde ihrer Heimatstadt anrief und danach fragte, teilte man ihr mit, dass es keinen Trauschein gibt. Sie wurde als unverheiratet geführt. Es hatte keine Eheschließung gegeben. So erfuhr Lena auf bittere Weise, dass sie fünfundzwanzig Jahre lang unverheiratet ein Martyrium ertragen hatte. Sie verließ diesen Mann – dieses Monster – noch am gleichen Tag.

Nach der Trennung suchte sie Arbeit in einem Haushalt und hoffte einen Mann zu finden, der sie verstand und mit dem sie den Rest ihres Lebens zusammen sein konnte. Aber sie sollte kein Glück haben.

Eine kurze Bekanntschaft, die sie nach dem Elend mit ihrem Mann durch ihre einzige Freundin Marina schloss, hätte für Lena durchaus tödlich enden können. Doch nicht umsonst heißt das bekannte Sprichwort: »Glück im Unglück gehabt.«

Es war Nachmittag. Das Unwetter ließ langsam nach, der Regen prasselte noch auf die Dächer, gegen die Scheiben und auf die Bäume, doch der Himmel hellte sich auf und das Krachen des Donners wurde leiser. Der Wind fegte über die vorgelagerten kleineren Inseln und trug die dunklen Wolken mit sich fort, hinaus auf das Meer. Nachdem auch der Regen langsam nachließ, lag ein intensiver Duft von Oleander in der Luft. Die Straßen der Stadt Rijeka waren leer, nur aus den umliegenden Cafés hörte man Stimmen und Musik.

Rijeka ist eine große, sehr schöne Hafenstadt in Kroatien, eine Stadt der Reichen und der Armen und mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Die Menschen versuchten zu überleben, jeder auf seine eigene Weise.

Trotz Tourismus – oder gerade deswegen – erlebte die Stadt eine Vielzahl von Einbrüchen, Überfällen und Diebstählen. Der Schwarzmarkt blühte. Wegen dieser großen Armut und des damit verbundenen kärglichen Daseins, fühlte sich Lena oft sehr unglücklich. Sie meinte, noch nie in ihrem Leben von jemandem geliebt worden zu sein. Sie empfand auch, dass alle sie verlassen hatten. Alle, auch ihre Familie, ihre Freunde, ihre Bekannten.

Sie lief oft ziellos durch die Stadt, suchte Arbeit, egal was, ob in einer Firma oder in einem Privathaushalt. Sie würde jede Arbeit annehmen, hatte das mangelnde Geld doch ihre Familie zerstört. Nach und nach gingen sie alle ihrer eigenen Wege. Auf der Suche nach Arbeit stoben sie in alle Richtungen auseinander.

Lena hatte die Scheidung eingereicht. Die Nerven ließen sie im Stich, immer öfter griff sie zu Tabletten, um den Tag überstehen zu können.

Die einzige gute Bekannte, die noch in Rijeka geblieben war, war Marina. Lena vertraute ihr und glaubte, dass sie ihr alles erzählen kann – alle familiären Probleme, Krankheiten oder ihren Kummer über das Verlassen werden durch ihren Mann. Marina hörte immer aufmerksam zu – lauernd. Die Scheidung hatte viel Geld verschlungen. Sie musste deswegen die schöne Dreizimmerwohnung verlassen und zog in ein sehr altes, nicht renoviertes Haus, weit draußen außerhalb Rijeka, in einem Ortsteil von Gorski Kotar.

Auch nach ihrem Umzug blieben die Freundinnen in Kontakt. Marinas Ehemann war Alkoholiker. Oft behauptete er, dass er nur trinken würde, weil seine Frau so schlecht sei. Vor allem aber, weil sie der falschen Religion angehörte. Der Krieg hatte viele Ehen zerstört, denn die Angehörigkeit zu einer Religion wurde plötzlich zu einem zentralen Thema. Es herrschte Krieg – auch in den Ehen und Familien.

Marina hatte einen Sohn. Ein stattlicher junger Mann. Doch zur Schule oder in eine Ausbildung wollte er nicht gehen. Lieber fläzte er sich den ganzen Tag auf der Couch, rauchte und las Zeitung. Seine Tage waren ziellos und er war faul. Oft sprach er davon, dass er keine Arbeit bräuchte. Das einzige, was ihm wirklich Erfolg brachte, war der innerstädtische Krieg. Er brachte Goldschmuck, Ringe und Ketten nach Hause, die er erbeutet hatte und verkaufte diese auf dem Schwarzmarkt. Ihm war offenbar nicht bewusst, gegen wen er da kämpfte, denn er selbst stammte aus einer ethnisch gemischten Ehe.

Marina wollte – angeblich aus Mitleid – so schnell wie möglich einen neuen Lebenspartner für Lena finden. Aber war dieser Wunsch ehrlich und gut gemeint? Lena brauchte Hilfe und sie musste Arbeit finden oder einen anderen guten Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens zusammen bleiben konnte. Eines Tages überraschte Lena Marina mit ihrem Besuch. Marina kochte Kaffee und gerade als die beiden sich ins Gespräch vertieft hatten, klopfte es an der Tür. Marina begrüßte einen jungen Mann und stellte ihn dann Lena vor. Lena war ein wenig überrascht, reichte dem Mann die Hand und dachte: »Du meine Güte, ist das ein sympathischer Mann!«

Marina klopfte dem Mann auf die Schulter und fing an, ihn zu loben. Was für ein guter Handwerker er wäre, wie ehrlich und ernsthaft. Und so verging die Zeit und es schien, als würde sich aus der flüchtigen Bekanntschaft eine tiefere Freundschaft entwickeln. Blagoje, so war sein Name, bot Lena an, mit ihr in ein Café zu gehen. Natürlich nahm Lena die Einladung sofort freudig an und war in diesem Augenblick der glücklichste Mensch. Sie verabschiedeten sich und verabredeten sich für den kommenden Tag um 14 Uhr an einer Tankstelle in Rijeka. Lena freute sich sehr auf dieses Treffen, in der Hoffnung, endlich den richtigen Mann gefunden zu haben.

Am nächsten Tag ging sie mit einem Lächeln auf den Lippen zum verabredeten Treffpunkt. Sie wartete geduldig. Aber er kam nicht. Die Zeit verrann, aber er kam nicht. Sie begann sich Sorgen zu machen, ob ihm etwas passiert sei, denn er hatte versprochen, pünktlich zu sein. Es waren schon zwei Stunden vergangen. Sie bekam Zweifel, hatte Bedenken, dass Marina ihm von ihren familiären Problemen erzählt haben könnte und er deshalb nicht kommen wollte. Sie war doch geschieden und da gab es noch diesen netten, hilfreichen Nachbarn, Anto, in ihrem Dorf, der sich ihrer angenommen und geholfen hatte, als sie dorthin zog. Auch davon wusste Marina.

Sie zweifelte immer mehr und begann, sich darüber Gedanken zu machen, ob es richtig war, Marina von all ihren Problemen und Wünschen erzählt zu haben.

Doch dann erblickte sie Blagoje. Er näherte sich ihr, wie ein Boot, das nicht weiß, ob es in den Hafen einlaufen oder noch auf dem Meer verweilen soll. Er grüßte sie freundlich und entschuldigte sich dafür, dass er sie so lange habe warten lassen, »Entschuldige, Lena, es tut mir sehr leid. Du wirst noch einen Augenblick auf mich warten müssen. Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Er ging schnellen Schrittes hinter die Tankstelle. Lena wartete wieder geduldig. Die Zeit verging, doch von Blagoje war nichts zu sehen. In ihren kühnsten Vorstellungen konnte sie nicht ahnen, was da vor sich ging. Dann plötzlich, tauchte er wieder auf.

»Ich muss mich erneut entschuldigen, Lena! Aber statt ins Café zu gehen, möchte ich dich jetzt gerne nach Hause bringen.«

Lena war irritiert und lehnte ab. Doch während er die Autotür für sie öffnete und sie am Arm fest hielt, wiederholte er seine Forderung. Diesmal etwas schärfer. Es klang beinahe wie ein Befehl – oder ein Drohung.

Lena setzte sich gehorsam ins Auto, erschrocken von der plötzlichen Wende in seiner Stimme und überlegte, warum sich Blagoje so verhielt. Warum hatte er seine Meinung geändert und wollte sie nach Hause bringen? Mit wem hatte er sich vorher getroffen?

Dann plötzlich unterbrach Blagojes Stimme ihre Gedanken:

»Wie ist dein Nachbar Anto?«, wollte er wissen. »Ich habe gehört, er soll sehr nett sein, dir viel helfen und dich zur Frau nehmen wollen?«

»Oh! Wer hat dir diesen Blödsinn erzählt? Marina etwa?« Sie konnte sich vorstellen, aus welcher Richtung der Wind wehte.

»Er ist nur mein Nachbar und nichts weiter.«

»Was ist das für ein Mensch, dieser Anto?«, wollte Blagoje wieder wissen.

»Er ist ein guter Mensch«, antwortete Lena einsilbig.

Als sie im Dorf ankamen, erwartete der Nachbar sie herzlich. Er lernte Blagoje kennen und bat die beiden auf einen Kaffee zu sich nach Hause. Etwas hinterhältig und übertrieben freundlich nahm Blagoje die Einladung an. Als Anto beim Anheben der Tasse aus Versehen an Lenas Schulter stieß, durchbohrte Blagoje beide mit dem Blick. Daraufhin folgte betretenes Schweigen.

»Es ist nichts passiert. Die Tasse ist nicht zu Bruch gegangen und selbst wenn, wäre das nicht schlimm gewesen«, sagte Anto, bemüht das Gespräch wieder in Gang zu bringen.

Doch Blagoje sagte kein Wort mehr. Seine Augen waren voller Neugier aber auch Wut.

Nachdem sie den Kaffee ausgetrunken hatten, bat Blagoje Anto, ihm mit dem Fiat ein wenig das Dorf und die Schönheit der Landschaft zu zeigen. Sie könnten auch irgendwo einkehren und etwas trinken. Anto wich aus, als ob er etwas ahnte. Freundlich lehnte er ab.

»Nein, danke, Blagoje. Schau, ich habe hier alles zu trinken, was dein Herz begehrt. Sag mir was du möchtest, ich schenke uns ein.«

Aber Blagoje blieb hartnäckig. Er wolle gerne das Dorf kennen lernen. Anto gab nach.

»Na gut, wenn du unbedingt willst, dann lass uns eine Runde fahren.«

Lena war überrascht und etwas gekränkt, dass Blagoje nicht mit ihr durch den Ort spazieren wollte. Beim Spaziergang hätten sie Gelegenheit gehabt, sich ein wenig besser kennen zu lernen. Als Blagoje und Anto davon fuhren, räumte Lena die Küche auf, spülte und legte sich dann anschließend einen Augenblick hin, um sich auszuruhen – und schlief ein. Als sie wieder aufwachte, lauschte sie, ob die Männer zurückgekehrt waren. Aber man hörte im Haus kein einziges Geräusch. Sie sprang auf. Es war viel Zeit vergangen und sie machte sich Sorgen. Sie hatte Angst, dass ihnen etwas zugestoßen sein könnte. Vielleicht hatten sie einen Autounfall? Ihre Sorge wuchs. Es dämmerte, dann kam die Nacht. Lena wartete am Fenster, von dem aus sie die Straße den Berg hinunter überblicken konnte, aber es war umsonst.

Irgendwann hörte sie Schritte. Dann tauchte Anto in der Tür auf.

»Wo um Himmels Willen, wo wart ihr?«, rief Lena lauter als sie wollte und sah erst dann, dass Anto voller Blut war.

»Oh mein Gott, was ist passiert?«, fragte sie fassungslos. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie lief Anto entgegen und stützte ihn.

»Wo ist Blagoje? Was ist mit ihm passiert?!«, wollte Lena, krank vor Sorge, von Anto wissen.

»Nun sprich schon! Was ist passiert?« forderte sie Anto auf. Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Anto.

»Wie, du weißt es nicht? Ihr seid doch zusammen weggefahren. Wie kannst du nicht wissen, wo er ist?«

Anto trat ins Haus, ließ sich auf die Ottomane fallen.

»Sieh dir an, was dein Blagoje mit mir gemacht hat! Ich kann von Glück sagen, das ich noch am Leben bin«, antwortete Anto schwach.

»Wo ist Blagoje jetzt und wo seid ihr gewesen?«

»Als wir in den Fiat stiegen, bat mich Blagoje, mit ihm nach Prilepic zu fahren. Kaum waren wir dort angekommen, wartete auch schon seine Bande auf uns. Sie schlugen und traten mich und als ich auf der Erde lag, übergossen sie mich mit Benzin und wollten mich anzünden. Sie zertrümmerten mein neues Auto.«

»Ich habe großes Glück gehabt, dass ich noch am Leben bin«, ächzte er. »Wer ersetzt mir den Schaden am Auto? Ich muss die Polizei rufen«, fügte er traurig hinzu.

»Tu das bitte nicht, Anto! Mir zur Liebe. Rufe bitte nicht die Polizei. Ich werde dir den Schaden erstatten«, flehte Lena Anto an und dachte gleichzeitig, dass sie hoffentlich nie wieder diesem Blagoje begegnen würde. Sie hatte Angst vor der Begegnung mit ihm, weil sie nicht wusste, wie er reagieren würde. Er hätte sie umbringen können. Sie hoffte, ihm nie, nie wieder über den Weg zu laufen. Wie konnte ein Mensch nur so verrückt sein? Sie lebte alleine in diesem Haus. Ihr Verschwinden würde keinem auffallen. Sie war neu im Dorf und kannte außer Anto kaum jemanden.

Anto ging nach Hause um sich zu duschen und seine Wunden zu versorgen. Er fand Verbandszeug, legte es an und fiel alsbald in einen tiefen Schlaf. Lena blieb alleine zurück. Die Tränen liefen ihr über die Wangen – wie kleine Regentropfen fielen sie zu Boden.

Sie stand auf, um Essen zu kochen. Kaum hatte sie damit begonnen, klopfte es an ihrer Tür. Blagojes laute, schneidende Stimme verlangte Einlass. Seine Stimme durchbohrte sie, wie es eine Messerspitze nicht schlimmer tun konnte: »Mach sofort die Tür auf, du blöde Schlampe!«, hörte sie ihn brüllen.

Lena zitterte vor Angst, während Blagoje weiter mit der Faust gegen die Tür hämmerte. Lena dachte, wenn sie ihm jetzt nicht öffnete, würde er die Tür sicher bald eintreten und sie umbringen. Würde sie öffnen, würde er sie bestimmt auch töten. Sie wusste nicht, was sie tun sollte; ihre Gedanken rasten.

Sie ging langsam zur Tür und öffnete. Kreidebleich vor Angst erblickte sie die blutigen Hände Blagojes. Sein Blick war wild und krank und durchbohrte Lena voller Hass. »Gib mir sofort dein ganzes Geld, sonst …«, drohte er mit der blutigen Faust.

»Welches Geld, Blagoje? Ich habe kein Geld. Nicht mal, um mir Brot zu kaufen«, antwortete Lena leise und erschrocken. »Gib mir das Geld! Ich habe nichts womit ich nach Rijeka zurückkehren kann. Ich bringe dich um, ich schwöre es«, sprach er zornig und kam drohend auf sie zu.

»Höre Blagoje, tu das nicht. Ich bin arm, sehr arm. Du kannst das ganze Haus durchsuchen. Du wirst nichts finden. Wenn du was findest – behalte es, aber da ist nichts. Glaube mir.«

Sie sah ihm in die Augen und senkte dann den Blick zu Boden. Sie konnte seinen Anblick nicht ertragen. Er musste geisteskrank sein und sie hatte es nicht gemerkt. Blagoje durchsuchte das Haus, lief hin und her, durchwühlte ihre Sachen, schrie dabei und drohte ihr immer wieder, sie umzubringen. Dann verließ er das Haus, nicht ohne ihr noch einmal zu drohen: »Wenn du die Polizei rufst, komme ich wieder und mache das, was ich dir schon gesagt habe. Also hüte dich«, zischte er durch die Zähne.

Als die Tür endlich hinter ihm ins Schloss fiel, ließ sich Lena auf die Couch fallen und brach in Tränen aus. Sie konnte die letzten Stunden nicht fassen, es schien ihr, als habe sie in einem Krimi mitgespielt. So was konnte es doch nicht geben. Sie war froh, dass ihr Nachbar und sie noch lebten und es dauerte lange, bis sie Anto wieder in die Augen blicken konnte – wegen dieser Geschichte, die sie nicht hatte absehen können. Sie konnte nicht erwarten, dass Anto ihr diesen Vorfall jemals verzieh.

Diese Schmerzen und diese Schmach, die er ihretwegen hatte aushalten müssen. Und sie schämte sich sehr, dass ihr Zuzug in dieses Dorf mit so einer Geschichte begonnen hatte.

Duft von Walderdbeeren

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