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Mittwoch, 11. November 2015

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Die aufgeweckte Stimme aus dem Radio erklang um 6:55 Uhr, wie an jedem Tag, wenn ich zur Arbeit ging. Fünf Minuten hatte ich mir gegeben, um die Sieben-Uhr-Nachrichten bei halbwegs klarem Kopf mitzubekommen. Es war bald Mitte November, der Himmel war noch dunkel, und bis das blasse Morgenlicht in mein Schlafzimmer schien, brauchte es noch eine Weile. Aber dann würde ich schon auf dem Weg in die Firma sein.

Als das Licht der Nachttischlampe die Finsternis um mich herum vertrieb, richtete ich mich auf und starrte blicklos auf mein zerwühltes Bett. Die linke Hälfte blieb seit langem kalt, meine unruhigen Nächte weckten niemanden, außer mich selbst. Vor einem Monat war ich vierundvierzig geworden. Eine Schnapszahl, die meinem Zustand gut entsprach. Seit meiner Scheidung vor zwei Jahren war die Einsamkeit meine ständige Begleiterin. Kontakt mit meiner Familie hatte ich kaum, nachdem es um den Nachlass meines Vaters Streit gegeben hatte. Meine Mutter Ursula lebte mit meiner Schwester Karin und deren Mann Richard weiterhin in derselben Kleinstadt, in der auch ich groß geworden war.

Meine Exfrau Erika hatte ich vor dreizehn Jahren im BIFI, dem Berliner Institut für Infektionskrankheiten, kennengelernt. Ich war damals noch neu in der Firma Sündermann, einem bekannten Berliner Pharmaunternehmen, das sich in den Sparten Chemie, Diagnostik und Pharmazeutika aufgestellt hatte. Als Biochemiker mit Spezialisierung auf Neurologie war ich in einem Unternehmen gefragt, das sich im Bereich der Psychopharmaka stärker engagieren wollte. Ich besuchte Kunden, stellte Produkte vor und handelte Rabatte für Großeinkäufer aus. Das BIFI war ein bedeutender Neukunde und Erika Seidler war dort für die Beschaffung von pharmazeutischen Produkten zuständig. Während wir unser Bestes taten, um die Geschäftsbeziehungen zwischen der Firma Sündermann und dem BIFI zu intensivieren, vertieften wir auch unsere privaten Kontakte. Nach ein paar Wochen war aus unserer Verbindung eine feste Beziehung geworden, die wir nach einem Jahr in Form einer Ehe beim Standesamt Schöneberg amtlich besiegeln ließen.

Unsere Ehe lief anfangs gut, wir machten Pläne bis hin zum eigenen Haus. Doch die zuerst als reizvoll empfundenen Unterschiede zwischen uns fraßen an unserer Zweisamkeit, bis nach dreizehn Jahren nichts mehr davon übrig war. Als Erika von Trennung sprach, wollte ich nichts davon wissen. Aber mit dem immer offener gelebten Verhältnis, das sie mit einem Kollegen aus dem BIFI eingegangen war, brachte sie mich dazu, der Scheidung schließlich zuzustimmen.

Kinder hatten wir nicht. In dieser Hinsicht waren wir uns immer einig gewesen. Es gab schon genug Kinder auf der Welt, denen es noch dazu schlechtging. So spendeten wir Geld für Amanda, einem kleinen Mädchen aus Burkina Faso, das uns von einer Hilfsorganisation zugeteilt worden war. Da wir beide finanziell unabhängig waren, brachten wir die Scheidung als letztes gemeinsames Vorhaben ohne Streit über die Bühne. Ich war darüber erleichtert, zumal die Arbeit bei Sündermann meine ganze Kraft erforderte.

Der Kontakt mit Erika riss nach der Trennung schnell ab. Ich hatte das nicht gewollt und war darüber enttäuscht. Sie war zu ihrem Arbeitskollegen und Geliebten gezogen, ich kannte ihre neue Adresse, denn es gab noch ein paar Dinge, die wir regeln mussten, aber mehr auch nicht. Ich vermutete, dass es ihr neuer Freund gewesen war, der Erika dazu gebracht hatte, den Kontakt zu mir abzubrechen. Zumindest tröstete mich diese Vorstellung über ihr Schweigen hinweg.

In der Firma hatte ich von unserer Scheidung nichts erzählt. Dr. Thomas Sündermann legte großen Wert auf stabile persönliche Verhältnisse bei seinen Angestellten. Es hätte meiner Karriere geschadet, wenn ihm das Ende unserer Ehe zu Ohren gekommen wäre, zumal Erika in der Beschaffungsstelle eines unserer Großkunden arbeitete. Zudem besaß ich den Ruf eines zuverlässigen Mitarbeiters. Ein Angestellter, der den Erwartungen gemäß funktionierte, Anweisungen nicht widersprach und auch sonst nicht auffiel. Die Anpassung an die Firmenhierarchie war mir auch nicht schwergefallen. Schon als Kind hatte ich gelernt, mich einzufügen. Als Erwachsener richtete ich meine Einstellung danach, was ich für die Meinung der Mehrheit hielt. Nachdem ich eine Position als Manager im Marketing-Segment erreicht hatte, strebte ich nicht mehr danach, mich beruflich groß zu verändern.

Das ging solange gut, bis Thomas Sündermann den Betriebswirtschaftler Axel Lange als Teilhaber in die Firma aufnahm. Mit dem neuen Firmennamen, der Sündermann & Lange KG, änderte sich fast alles. Meine früheren Verdienste waren Schnee von gestern. Mein Arbeitsplatz, den ich auf einem soliden Fundament wähnte, lag plötzlich auf einer Eisscholle, die immer schneller ins Rutschen geriet.

*

Die Tonsequenz, welche die Nachrichten ankündigte, holte mich zurück aus meinen Gedanken. Ich richtete mich auf, hievte meine Beine aus dem Bett und sah, wie meine nackten Füße in dem Teppichboden einsanken. Müde bewegte ich meine Zehen im weichen Flor. Meine Gedanken drifteten ab ins Uferlose. Ein paar Sekunden verblieben noch bis sieben Uhr.

Die Nachrichten boten meist nicht viel Neues. Trotzdem wollte ich sie nicht verpassen. Von der mir vertrauten Stimme verlesen, erschienen sie mir oft wie losgelöst von der Zeit. Ähnliches hatte ich doch schon vor Wochen und Monaten gehört, verlesen von einer Stimme, deren besorgtes Timbre stets Anlass zur Beunruhigung gab.

Die Versicherten werden sich im nächsten Jahr auf eine deutliche Erhöhung der Krankenkassenbeiträge einstellen müssen. Unter den gesetzlichen Krankenversicherungen haben bereits die ...“

Nach einer unmerklichen Pause erfolgte die nächste Meldung. „Die Bundesregierung kann eine Verlängerung des Solidaritätsbeitrages über den ursprünglich geplanten Termin hinaus nicht mehr ausschließen ...“

Nach einer Atempause fuhr die Sprecherin fort. „Halter von Dieselkraftfahrzeugen müssen im nächsten Jahr mit höheren steuerlichen Belastungen rechnen ...“

Mir war leicht übel, als würde mir das Abendessen immer noch im Magen liegen. Die Erhöhung der Sozialabgaben, der Versicherungsbeiträge, und die Kraftfahrzeugsteuer für meinen 5er-BMW Diesel, den ich mir nach der Scheidung angeschafft hatte, würden meine finanzielle Lage verschlechtern. Auch mit einer Mieterhöhung für die Dreizimmerwohnung, in der ich nach der Scheidung geblieben war, musste ich im nächsten Jahr rechnen.

An eine Gehaltserhöhung war zudem nicht zu denken. Auf der letzten Betriebsversammlung hieß es, die Firma hätte durch die EU-Sanktionen gegen Russland erhebliche Einbußen erlitten.

„Die Sündermann & Lange KG fühlt sich in erster Linie ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verpflichtet. Aus diesem Grund zieht das Unternehmen den Erhalt von Arbeitsplätzen etwaigen Gehaltsanpassungen für die Mitarbeiter vor.“ Der Juniorchef hatte bei diesem Satz seinen Blick auf mich gerichtet, bevor er die Versammlung in den Feierabend schickte.

Ich begann auszurechnen, wie viel Geld mir im kommenden Jahr noch zur Verfügung stand. Bevor ich damit fertig war, durchschnitt die Stimme aus dem Radio meine Gedanken. „Der demographische Wandel wird nach Ansicht führender Finanzexperten Deutschland in den nächsten Jahrzehnten erheblich zusetzen ... spätestens in zwanzig Jahren wird das Altersvorsorgesystem nicht mehr finanzierbar sein. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters ist nach Ansicht von Wirtschaftsweisen kaum noch auszuschließen.“

Ich zog meinen Pyjama aus, faltete ihn zusammen und legte ihn aufs Bett. Mein Blick fiel auf meinen winterblassen, untrainierten Körper und die deutlichen Anzeichen einer Gewebeerschlaffung um den Bauchbereich herum. Ein Gefühl der Resignation zwang mich dazu, meine Augen zu schließen, um diesen Eindruck auszublenden. Der Zeitraum, für den der Kollaps der Altersvorsorge vorhergesagt wurde, entsprach meinem Eintritt ins Rentenalter. Dann war es ziemlich egal, wie viel ich vorher in die Rentenversicherung eingezahlt hatte.

Ich zog einen frischen Slip an und stieg in meine Jogginghose. Während ich meine Hausschuhe suchte, die irgendwo unter dem Bett lagen, trug mir der Radiowecker das Elend der Welt in mein achtzehn Quadratmeter großes Schlafzimmer: „Die syrische Regierung hat offiziell zugegeben, Chemiewaffen wie Tabun, Sarin und Senfgas besessen zu haben. Die letzten Bestände davon wurden unter Aufsicht von UNO-Inspektoren zerstört. Giftige Rückstände gehen an Spezialbetriebe in Deutschland zur Weiterverarbeitung.“

Chemiewaffen waren durch die Genfer Konvention weltweit geächtet. Aber einige Länder hatten sich nie darum geschert. Sarin und Tabun standen für tödliche Nervengifte. Ich kannte mich gut damit aus, denn ich hatte mich in meinem Studium intensiv mit neurotoxischen Substanzen beschäftigt. Die Mechanismen der Erregungsübertragung an den Nervenbahnen waren faszinierend. Zudem gab es jede Menge Pharmaka, die das Nervensystem in der einen oder anderen Weise beeinflussten.

Der Krieg im Nahen Osten hat sich weiter verschärft, mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen nach Europa ist zu rechnen.“

Man sprach von über einer Million Flüchtlingen, die bereits in Deutschland waren. Die meisten sollten aus Syrien stammen, doch genaue Angaben über ihre Zahl und die Herkunftsländer gab es nicht. Die Beliebigkeit, mit der immer wieder neue Zahlen in den Raum geworfen wurden, versetzte mich jedes Mal in Erstaunen. In der Firma hätten sie mich entlassen, wenn ich ihnen mit solchen Unstimmigkeiten gekommen wäre. Doch für die Politik und die Medien galten andere Regeln. Man dachte global, hatte Visionen und solche Kleinlichkeiten störten dabei nur.

Es war fünf Minuten nach sieben. Mit der Zeitansage endeten auch die Frühnachrichten. Ich ging ins Bad, in das wir bei unserem Einzug viel Geld investiert hatten. Über der Wanne hatte ich ein Radio befestigt, das mit einer Spritzschutzeinrichtung versehen war. Ich füllte meinen Zahnputzbecher. Das summende Geräusch der elektrischen Zahnbürste mischte sich mit dem Frühkommentar aus dem Radio.

Während ich mich rasierte, war die Journalistin zur Hochform aufgelaufen: „Deutschland hat die moralische Pflicht, sich um die Situation der Menschen im Nahen Osten und in Afrika zu kümmern ... trägt man hierorts ein gehöriges Maß an Schuld an den Zuständen, die in den Entwicklungsländern herrschen … der demographische Wandel zwingt Deutschland zum Umdenken. Wir müssen offener werden für die Migration aus den von Krieg und Armut betroffenen Ländern …“

Ihre weiteren Worte wurden vom Rauschen des Wasserstrahls übertönt, unter dem ich meinen Rasierer ausspülte. Doch ich brauchte nicht mehr zu hören, um zu wissen, worum es ihr ging. Wie jedes Mal nach einem solchen Weckruf blieb in mir ein Gefühl, als sei ich verantwortlich für den Schlamassel, der sich jeden Tag neu auf der Welt ereignete.

Während ich die Ergebnisse des Zähneputzens und meiner Rasur im hellen Licht des Spiegels überprüfte, breiteten sich Schuldgefühle in mir aus. Warum machte ich mich so verrückt, mit meinen kleinlichen Sorgen um die Miete, um mein Auto und um eine Rente, die ich, wenn überhaupt, erst in mehr als zwanzig Jahren bekommen würde? Wir schaffen das, hieß es. Ich nahm mir vor, den heutigen Tag unter diesem Motto zu beginnen. Deutschland ging es doch gut! Mir ging es doch gut! Wenn ich meine Probleme mit dem Elend in den Kriegsgebieten und mit der Lage der Flüchtlinge verglich, waren das doch Kinkerlitzchen. So hörte man es aus den meisten Medien. Und in den Talkshows waren alle, bis auf ein oder zwei Dödel, die man nur zum Abwatschen eingeladen hatte, auch dieser Meinung.

Natürlich sollte man noch mehr gegen die Missstände in der Welt unternehmen. Ich spendete Geld an Hilfsorganisationen, blieb aber trotzdem auf meinem schlechten Gewissen sitzen. Für mein Leben im Luxus, für meine egoistischen Bequemlichkeiten, und nicht zuletzt für den Zufall, dass ich in einem reichen Land geboren war und dort gut lebte.

Als ich mich einmal bei meinem alten Schulfreund Harry Teubner darüber beklagte, hatte er darüber nur den Kopf geschüttelt: „Hast du dich einmal gefragt, was das alles mit dir persönlich zu tun hat, Herbert? Was kannst du denn für die Probleme in der ganzen Welt? Mach dir lieber Gedanken über Dinge, die du selbst ändern kannst.“

Für einen Moment glaubte ich, nicht recht zu hören. Aber Harry war es schon in der Schule egal gewesen, was andere von ihm dachten. Nach dem Abitur hatte er Philosophie und Psychologie studiert, seinen Kopf mit theoretischem Krimskrams vollgestopft. Vielleicht bekam er deswegen so eigensinnige Ansichten. Ich hielt mich lieber an die Naturwissenschaften. Da gab es feste Bezugspunkte, Fakten und Zahlen.

Als ich mich über seine Worte aufregte, winkte er nur ab: „Ach Herbert! Du schlechtes Gewissen im Lande der Freudlosigkeit!“

Ich warf ihm vor, sich über mich lustig zu machen. Doch er meinte, es wäre wegen meiner naiven Vorstellungen über das, was in der Welt ablief.

Das empörte mich umso mehr. „Harry, du kannst doch nicht die Augen vor den bestehenden Ungerechtigkeiten verschließen! Wir sind durch die Kolonialzeit und die Ausbeutung der Dritten Welt mitschuldig an dem Elend dort!“

„Wieso wir? Man will uns als Bürger dieses Landes gerne für das alles verantwortlich machen. Hast du dir einmal überlegt, wer das behauptet und warum? Wir beide haben persönlich doch keine Schuld an diesen Zuständen. Außerdem gibt es Länder mit kolonialer Vergangenheit, die heute ebenso gut dastehen, wie manche der ehemaligen Kolonialmächte. Nimm China, Südkorea, aber auch Malaysia, Vietnam, Singapur …“

Zugegeben, ich hatte mich nie besonders mit Kolonialgeschichte beschäftigt. Aber es gab viele arme Entwicklungsländer und es war doch bekannt, dass die Europäer für das Elend in der Dritten Welt verantwortlich waren.

„Und warum können manche Länder, obwohl sie enorm viele Reichtümer besitzen, nicht einmal ihre Bevölkerung ernähren?“, bohrte Harry.

Ich zuckte mit den Achseln. Woher sollte ich das wissen?

„Weil diese Länder in einem korrupten Feudalsystem verharren und die Menschen sich dort in Bürgerkriegen seit Jahrzehnten massakrieren. Und dann sagt man, das sei alles unsere Schuld. Natürlich macht unsere Regierung schmutzige Geschäfte, Waffenlieferungen und noch viel mehr. Aber dafür kannst du doch nichts, Herbert. Hat man dich je gefragt, ob du damit einverstanden bist? Vieles kann nur von den Menschen in diesen Ländern selbst geändert werden! Auch wir mussten das in unserer Geschichte tun, sonst lebten wir heute noch im Mittelalter!“

„Trotzdem fühle ich mich dafür mitverantwortlich!“

„Hör doch auf, dich für alles Elend in der Welt anzuklagen, Herbert! Du kannst diese Konflikte nicht lösen, also werden sie dir ewig ein schlechtes Gewissen bereiten. Damit erzeugst du in dir Schuldgefühle, die dich krankmachen. Vielleicht will man das auch!“

„Wieso sollte das jemand wollen?“

„Ganz einfach. Wenn wir uns mies und schuldig fühlen, lassen wir uns leichter manipulieren. Wir lassen uns zu Worten und Handlungen beeinflussen, hinter denen wir nicht stehen und die für uns manchmal nachteilig sind! Aus einem schlechten Gewissen heraus verspricht und tut man häufig etwas, das man später bereut!“

*

Ich ertappte mich dabei, wie ich in Gedanken versunken vor dem Spiegel stand. In meiner Jugend war es der Pfarrer gewesen, der uns ein schlechtes Gewissen vermittelte. Doch das war nur am Sonntag und hielt nie lange vor. Heute hatten diese Funktion die Journalisten übernommen, die rund um die Uhr viel mehr Menschen erreichten, die sich dafür auch nicht extra in eine Kirche bequemen mussten.

Ich weiß nicht mehr, wie Harry und ich damals auseinandergegangen waren, doch haben wir uns bei solchen Diskussionen nie ernsthaft gestritten. Ich stellte mir nur gerade vor, wie das Gespräch verlaufen wäre, wenn mein Studienfreund Frank dabei gewesen wäre.

Frank Koestner hatte ich an der Uni in Berlin kennengelernt. Wir waren beide im gleichen Studiengang und trafen uns regelmäßig in Seminaren und Vorlesungen. Frank war außerdem politisch aktiv und trat bald in eine Partei ein, die sich dem Umweltschutz und den Menschenrechten verschrieben hatte. Sie fußte auf den Wurzeln der Studentenbewegung von 1968, zu deren Erben sich Frank und viele in seiner Partei zählten.

Doch seit 1968 waren bald fünfzig Jahre vergangen. Frank und seine Partei hatten sich längst in dem damals bekämpften System eingerichtet. Mit der Zeit war er zu jemand geworden, der ich schon immer gewesen war, ein an die Gesellschaft Angepasster. Als ich das einmal andeutete, behauptete er, es wäre genau umgekehrt. Nicht er, sondern die Gesellschaft hätte sich inzwischen an seine Ideen und die seiner Partei angepasst. Ich widersprach ihm nicht, es war mir auch egal. Man konnte das von dieser oder jener Warte sehen. In jedem Fall hatten wir gemeinsam, zu den Anständigen der Gesellschaft zu gehören.

Harry hingegen hatte sich nie einer Partei angeschlossen. Über den vielerorts beschworenen Aufstand der Anständigen hatte er nur gelästert. Die das propagierten, seien Heuchler, meinte er. Ihre Phrasendrescherei diene nur dazu, kritische Meinungen abzuwerten und zum Schweigen zu bringen. Harry und ich waren im gleichen Jahr zum Studium nach Berlin gezogen. Kaum war er in der Stadt angekommen, machte er schon seinen Taxischein. Im Laufe der Jahre wurde er zu einem typischen Langzeitstudenten, der seinen Lebensunterhalt mit Taxifahren verdiente. Harry war noch an der Uni, als ich bereits verheiratet war und für Sündermann auf Geschäftsreisen ging. Erika hatte für Harry nie etwas übrig gehabt. Sie hielt ihn für einen Versager, der einen schlechten Einfluss auf mich hatte.

Neben seiner Arbeit als Taxifahrer betrieb Harry eine Internetseite mit dem Titel Ansichten eines Droschkenkutschers. Es war eine andere Welt, verglichen mit dem, was man in den offiziellen Medien hörte. Doch Harry war es egal, ob das, was er schrieb, politisch korrekt war oder nicht. Mir dagegen war es immer sehr wichtig gewesen, was andere über mich dachten.

Die Welt ist so, wie man sie sieht“, hatte der Paartherapeut mir damals in der Scheidungsphase gesagt. Doch das hatte mich nicht besonders angesprochen. Für mich war wichtiger, wie die Welt mich sah. Dazu gehörte auch, dass man sich nicht durch politisch unkorrekte Ansichten gesellschaftlich ins Abseits stellte.

Ein erneuter Blick in den Spiegel erinnerte mich daran, dass ich dringend zum Friseur musste. Ich fuhr mir mit den Fingern durch meine hellbraunen Haare und kämmte die Strähnen nach hinten. Eigentlich waren meine Sorgen lächerlich, wenn man sie mit den Problemen vieler Menschen verglich. Ich hing das nasse Handtuch zum Trocknen über die Zentralheizung. All das hier, die große Wohnung, das überheizte Bad, waren purer Luxus. Es erinnerte mich daran, wie Frank mir mein Konsumverhalten vorgeworfen hatte. Als ich noch mit Erika verheiratet gewesen war, hatten wir uns regelmäßig mit Frank getroffen und über Gott und die Welt diskutiert.

Erika fand Franks Ansichten am Anfang ziemlich daneben, sie liebte den Luxus. Doch Frank hatte sie irgendwann soweit gebracht, dass sie von sich aus auf politische Veranstaltungen ging. Sie begann sich verstärkt für Frauenrechte zu engagieren. Schließlich wurde sie in ihrer Dienststelle zur Gleichstellungsbeauftragten gewählt. Damit war sie von ihrer monotonen Arbeit in der Beschaffungsstelle freigestellt und hatte noch dazu im BIFI an Einfluss gewonnen.

Im Jahr vor der Scheidung hatte ich Frank aus den Augen verloren. Ich hatte mich damals von allen zurückgezogen und litt still vor mich hin. Von den gemeinsamen Freunden aus der Zeit unserer Ehe ließ kaum noch einer etwas von sich hören. Als Reaktion darauf hatte ich mich immer mehr in die Arbeit gestürzt.

Doch dann hatte ich Frank eines Tages zufällig auf der Straße wiedergetroffen. Wir gingen auf ein Bier in eine Kneipe, die wir noch von früher her kannten, sprachen über alte Zeiten und wie es uns seitdem ergangen war. An der Uni war es damals für mich wichtig gewesen, von dem bewunderten, zwei Jahre älteren Frank Koestner anerkannt zu werden. Frank besaß vieles, was mir fehlte. Er war selbstsicher, konnte gut reden, und mit seiner Art hatte er bei Frauen schnell Erfolg. Auf irgendeine Weise ließ er mich immer spüren, was für ein kleiner Durchschnittstyp ich selbst war.

Als wir uns wiedersahen, war ich über Franks bürgerliche Erscheinung überrascht. Statt des üblichen Rollkragenpullovers und der ausgewaschenen Jeans trug er ein weißes Hemd unter einem modischen Sakko mit einer dazu passenden Hose. Nur seine weißblonden Haare hingen noch genauso strähnig auf beiden Seiten seines Gesichts herunter, wie in früheren Zeiten. Ich hatte mir daher nichts weiter dabei gedacht, als ich Frank von meinem 5er-BMW vorschwärmte und von den Annehmlichkeiten, die ich mir als leitender Angestellter bei Sündermann & Lange leisten konnte.

Doch Frank reagierte ganz anders, als ich es erwartet hatte. „Deine egoistische Bequemlichkeit und dein Konsumverhalten gefährden die Existenz anderer Menschen. Mit der Energie, die du für dein angenehmes Leben verpulverst, kann in Afrika ein ganzes Dorf leben!“

Er beschrieb lebhaft die Situation von Menschen, denen der Klimawandel die Ernte vernichtete und deren Heimat durch das Ansteigen des Meeresspiegels und immer häufigere Dürreperioden bedroht war. Und irgendwann kam die Frage: „Und was tust du dagegen, Herbert?“

Frank hatte mich dabei so eindringlich angesehen, dass mir ganz mulmig wurde. Er hatte seinen zweiten Halben geleert, und mit seinen Gesten unterstrich er seine anklagenden Worte. Seine grauen Augen, die hinter den Brillengläsern verkleinert wirkten, hatten mich nicht aus ihrem Blick gelassen.

Ich kannte diesen Blick noch von früher. Es war besser, in diesem Moment nichts zu sagen. Ich dachte daran, was Harry mir über das schlechte Gewissen und dessen psychische Folgen gesagt hatte und umklammerte mein Glas. Ich hatte nur ein kleines Bier bestellt, denn ich musste ja noch mit dem Auto fahren.

In diesem Moment hatte ich es bereut, Frank von meinem schicken BMW und meiner großen Wohnung vorgeschwärmt zu haben. Doch woher hätte ich wissen können, dass er immer noch die gleichen Ansichten teilte wie früher? Wo er doch von seinem Äußeren auch als Angestellter bei Sündermann & Lange problemlos durchgegangen wäre.

Als ich ihm erzählte, ich würde Greenpeace und andere Hilfsorganisationen regelmäßig mit Spenden unterstützen, fiel er mir ins Wort: „Petitionen zu unterschreiben und Hilfsprojekte zu unterstützen, das allein reicht nicht! Du fährst einen überdimensionierten Spritfresser und lebst allein in einer zentralbeheizten, komfortabel eingerichteten Dreizimmerwohnung. Gerade jetzt, wo immer mehr Flüchtlinge ankommen, die kaum noch untergebracht werden können. Du könntest zumindest einen oder zwei davon bei dir aufnehmen!“

Als er das gesagt hatte, hielt ich lieber den Mund, bevor ich in ein neues Fettnäpfchen trat. Frank hatte sicherlich recht. In letzter Zeit war der Andrang der Flüchtlinge ja noch viel größer geworden. Aber so einfach war das trotzdem nicht. Inzwischen hieß es überall, man müsste den Flüchtlingen helfen, aber für mich war schon das Zusammenleben mit Erika nicht einfach gewesen. Wie sollte das erst mit Menschen gehen, für die ich, wie es offiziell hieß, zwar verantwortlich, die mir aber völlig fremd waren?

Nachdem ich zu einem anderen Thema wechseln wollte, verlor unsere Unterhaltung an Fahrt. Nach einer Weile hatte Frank auf die Uhr geschaut und gemeint, er hätte noch eine Verabredung.

„Wir könnten uns ja wieder mal treffen, wenn du Zeit hast“, schlug ich vor. In diesem Moment war ich froh, dass er überhaupt damit einverstanden war.

Doch Frank ließ mich gleich wissen, dass er wenig Zeit hatte: „Ich bin oft auf Achse und ziemlich ausgebucht. Aber du kannst ja meine Facebook-Seite abonnieren. Dann bist du auf dem neuesten Stand, was bei mir so läuft. Vielleicht engagierst du dich auch einmal für eine gute Sache!“ Bevor er ging, hatte er mir noch seine E-Mail-Adresse auf einen Bierdeckel geschrieben.

Ich nahm mein Handy und suchte gleich bei Facebook nach Frank Koestner. Es gab mehrere, doch er war der Einzige, der über zehntausend Facebook-Freunde hatte. Auf seiner Seite standen Ankündigungen seiner Partei und Aufrufe zu diversen Veranstaltungen. Doch Persönliches von ihm fand ich nicht. Sein Profilfoto zeigte ihn in erster Reihe bei einer Demonstration gegen die Braunkohlenwirtschaft.

Bei Facebook war ich damals nur wegen Erika eingestiegen. Es war in dem Jahr, bevor wir uns scheiden ließen. Erika nahm seit einiger Zeit an der Volkshochschule Bauchtanzkurse und war abends oft mit ihrer Tanzgruppe unterwegs. Ich hatte mitbekommen, dass sie regelmäßig mit anderen chattete. Es machte mich eifersüchtig, und als ich sie fragte, mit wem sie sich da die ganze Zeit unterhielt, hatte Erika nur unwillig reagiert: „Salima und die anderen von der Bauchtanzgruppe sind alle bei Facebook. Sie postet uns Links zu Tanzvideos und zu Veranstaltungen. So wissen alle aus der Gruppe zur gleichen Zeit Bescheid.“

Als ich ihr vorschlug, ob wir uns nicht auch über Facebook verlinken sollten, hatte sie schallend gelacht: „Aber wozu denn, Herbert? Wir sehen uns doch jeden Tag!“

Ich hatte mich dann, ohne ihr davon zu erzählen, bei Facebook angemeldet. Auch wenn es auch nur dazu diente, mir von Zeit zu Zeit die Seite von Erika anzusehen. Aber da wir nicht als Freunde verbunden waren, konnte ich nicht viel daraus entnehmen. Nur, dass sie zahlreiche Bekanntschaften mit Leuten hatte, von denen ich so gut wie keinen kannte. Eigene Bekannte hatte ich nicht viele und keiner von denen war bei Facebook. Auch Harry nicht. Er müsste schon genug Anfeindungen wegen seines Blogs ertragen, meinte er, als ich ihn danach fragte.

Das hatte meine Neugierde geweckt. Als ich einmal allein in meiner Wohnung saß, hatte ich mir ein paar seiner Aufsätze durchgelesen. Das meiste davon fand ich ziemlich schräg. Doch nun war mir klargeworden, warum Harry den Unmut so vieler Leute auf sich zog. Seinen Aufsatz über den Klimawandel hatte ich sogar ein paarmal gelesen. Hauptsächlich deswegen, weil Frank mir meine miese CO2-Bilanz vorgeworfen hatte. Harry stritt die Möglichkeit eines Klimawandels nicht ab. Trotzdem waren seine Ausführungen dazu ziemlich provokant. Irgendwann kam mir zu Ohren, dass ein Meteorologe vom französischen, staatlichen Fernsehen fristlos entlassen worden war, nur weil er Zweifel am Klimawandel geäußert hatte. Als ich Harry davon erzählte, hatte er gelacht. So etwas könne ihm zum Glück nicht passieren, denn er sei ja Freiberufler und nicht beim Staat angestellt.

*

Nachdem Frank gegangen war, war ich noch eine ganze Weile in der Kneipe geblieben. Ich hatte die Biere bezahlt und über mein Leben nachgedacht. Irgendetwas machte ich falsch. Warum wurde ich von allen immer so kritisiert, wo ich doch versuchte, jedem möglichst gerecht zu werden? Frank schien ein Musterbeispiel dafür zu sein, wie man verantwortungsvoll lebte. Wahrscheinlich fuhr er das ganze Jahr über nur Fahrrad und wohnte in einer Wohngemeinschaft, in der jeder mit jedem alles teilte. Ich hatte mich aber nicht getraut, ihn danach zu fragen.

Wahrscheinlich hätte er mir auch nichts darüber verraten, denn er tat ziemlich geheimnisvoll. Später las ich in einer Analyse, dass die Wähler von Franks ökologischer Partei häufiger das Flugzeug benutzten, als die der anderen Parteien. Frank gehörte bestimmt zu den Vielfliegern. Nach seinen Einträgen bei Facebook war er weltweit auf Konferenzen und Protestversammlungen unterwegs. So einen Terminmarathon konnte man nur mit dem Flugzeug bewältigen. Seine Reise zum Whale Watching in Patagonien, von der er Fotos gepostet hatte, konnte er nicht zu Fuß angetreten haben. Es hätte mich gereizt, ihm dazu einen kritischen Kommentar auf seine Facebook Seite zu schreiben, von wegen seiner CO2-Bilanz. Aber ich ließ es doch lieber sein. Wahrscheinlich hätte er mich gleich geblockt, und ich wollte unseren neu aufgenommenen Kontakt nicht abreißen lassen.

An dem besagten Abend in der Kneipe war mir meine Kompromissbereitschaft naiv und unbeholfen vorgekommen. Egal, was ich tat, ich lag sowieso falsch. Der Gedanke, ich könnte mich ebenso gut umbringen, ging mir durch den Kopf. Glücklicherweise hielten solche Anwandlungen bei mir nicht lange vor. Auf dem Weg nach Haus war ich nur noch froh, mit meinem kleinen Bier die Promillegrenze nicht überschritten zu haben.

Im Spiegel sah ich mein von der schlaflosen Nacht gezeichnetes Gesicht. Wenn Selbstmord die richtige Lösung wäre, hätten sich andere längst vor mir von der Welt verabschieden müssen. Schließlich hatten Erika und ich mit dem Verzicht auf eigene Kinder dafür gesorgt, die Spirale der Konsumgesellschaft nicht weiter fortzusetzen. Ich hätte gerne gewusst, ob Erika auch in ihrer neuen Beziehung so konsequent dabei geblieben war.

Natürlich hatte der demographische Wandel etwas mit den sinkenden Geburtenraten zu tun. Erika und ich hätten uns Kinder leisten können. Für die Jüngeren wurde es aber immer schwieriger, Beruf und Familie zu vereinbaren. Unsichere und schlechtbezahlte Jobs, steigende Mieten und die Konkurrenz mit Menschen, die für ihre Berufskarriere auf alles andere verzichteten, machten das zu einem persönlichen Risiko.

Doch nun hieß es, die demographische Katastrophe könnte durch die vielen Flüchtlinge vermieden werden. Die meisten von denen waren noch jung genug, um eine Familie zu gründen. Die Regierung und die Leitmedien begrüßten den Zustrom der Flüchtlinge als ersehnten Ausstieg aus einer vergreisenden Gesellschaft. Schon deswegen sollte man die Neuankömmlinge nicht nur aus humanitären, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Gründen herzlich willkommen heißen. Auch wenn ich in dieser Sache zwiespältig fühlte, so sollte mein Verstand es doch begrüßen, sagte ich mir. Vielleicht war damit auch meine Rente nicht so sehr gefährdet, als wie es im Moment erschien.

Mich fröstelte, wie ich halbnackt vor dem Spiegel stand, und ich warf einen kritischen Blick auf mein Gesicht. Über das Altwerden hatte ich bis vor kurzem kaum nachgedacht. Doch im ungetrübten Licht des Badezimmers erschien mir meine Haut nicht mehr so glatt wie noch vor ein paar Jahren. Es gab Flecken und Unebenheiten, die vorher nicht dagewesen waren. Die Falten hatten sich tiefer in die Winkel meines Mundes eingegraben, der mit den Jahren immer schmaler geworden war.

Ich mochte mein Spiegelbild nicht sehr. Es hatte zu wenig mit der Vorstellung von mir selbst gemein. Ich wandte mich ab und versuchte mich an eine Zeit zu erinnern, in der ich mein Antlitz noch gemocht hatte. Wann das genau gewesen war, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. Nur, dass es viele Jahre her gewesen sein musste. Jetzt war ich weder jung noch alt. Eigene Kinder heranwachsen zu sehen, hätte mich zu sehr an die eigene Vergänglichkeit erinnert. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Es war schon spät. Ich musste bald los, wenn ich rechtzeitig zur Sitzung in der Firma erscheinen wollte!

Ich zog mich rascher an als gewöhnlich und ging in die Küche, um noch etwas zu essen. Wie jeden Morgen machte ich mir zwei Brote, eins mit fettarmem Schinken und das andere mit Käse. Die Kaffeemaschine hatte ich schon gestern befüllt. Während sich das heiße Wasser mit leisem Gurgeln den Weg durch das Kaffeepulver bahnte, dachte ich an die heutige Sitzung. Sie war unter dem Thema AG Neue Märkte als außerordentlich wichtig angekündigt worden. Ich ließ mich auf einen Küchenstuhl sinken und stützte meinen Kopf in meine Hände. Die Müdigkeit kroch an mir hoch, während ich die Tropfen der schwarzen Flüssigkeit zählte, die sich in der Glaskanne sammelten.

Die Flusen auf dem Boden erinnerten mich daran, dass es längst an der Zeit war, gründlich Staub zu saugen. Schlechtgelaunt fegte ich mit der Hand die Brotkrümel vom Tisch. So hatte ich wenigstens mehr Veranlassung, endlich sauberzumachen. In Gedanken verschob ich die Putzaktion auf das Wochenende. Lustlos auf meinem Brot kauend, notierte ich mir die heutigen Besorgungen auf einem Zettel.

Als wir noch zusammenlebten, hatte Erika meine Versuche, sie für eine gesunde Ernährung zu gewinnen, schon zur Kenntnis genommen. Doch sie scherte sich nicht besonders darum, wenn es im Widerspruch zu ihren Vorstellungen stand. Ich fand es bedenklich, dass sie jeden Abend zwei Gläser Rotwein trank. Einmal hatte ich ihr eine Broschüre zur Alkoholprävention auf den Teller gelegt, während sie noch mit den Essensvorbereitungen beschäftigt war. Erika hatte einen Blick darauf geworfen und sie mir dann mit einem amüsierten Lächeln über den Tisch zurückgeschoben. „Warum legst du mir so etwas hin, Herbert?“ Ich sah sie noch vor mir und erinnerte mich an ihren spöttischen Blick. An jenem Abend trank sie absichtlich drei Gläser Rotwein.

Nach der Scheidung hatte ich meinen häuslichen Speiseplan den Empfehlungen der Gesundheitsverbände angepasst. Die Neueinstufung der Cholesterinwerte hatte in der Firma für viel Aufsehen gesorgt. Der alte Grenzwert von 130 Milligramm LDL-Cholesterin war um fast die Hälfte herabgesetzt worden. Damit eröffnete sich ein neuer Markt. Mit den neuen Grenzwerten konnte man jeden vierten Deutschen als therapiebedürftig einstufen. Durch den Verkauf von Statinen, neu entwickelten Medikamenten zur Senkung des Blutfettspiegels, lockten Millionenumsätze. Die Sündermann & Lange KG war dabei, wenn es darum ging, sich von diesem Kuchen ein dickes Stück abzuschneiden.

Trotz meiner guten Vorsätze war es mir nie leicht gefallen, mein Gewicht zu halten. Als wir noch verheiratet waren, geizte Erika nicht mit spitzen Bemerkungen. Gerne in Situationen, wo es mich am meisten traf, wenn wir am Strand oder zusammen im Bett waren. Ich schränkte mich dann mit dem Essen ein, bis ich mir ein oder zwei Kilo abgehungert hatte. Doch nach unserer Trennung stand Erika mir nicht mehr als personal coach zur Verfügung. Das häufige Kantinenessen, Restaurantbesuche mit Kunden und ein Heißhunger auf Süßigkeiten, der mich in manchen Momenten wie aus dem Nichts überfiel, ließen die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung nur theoretisch auf mich wirken. Ich hatte vier Kilo zugenommen. Wenn ich mein Jackett auszog, war der Ring über meinem Hosenbund nicht zu übersehen. So behielt ich die Jacke bei Sitzungen lieber an, selbst wenn ich dabei ins Schwitzen geriet.

Dabei waren körperliche Fitness und eine entsprechende Erscheinung Kennzeichen für erfolgreiche Menschen. Axel Lange war ein asketischer Typ. Seine Größe von einem Meter neunzig und seine muskulöse Erscheinung verschafften ihm schon äußerlich den nötigen Respekt. Meine Kollegen Friedhelm Berger und Torben Tüsselhover waren beide ehrgeizig, sportlich und Workaholics. Dr. Berger hatte mit jenseits der Fünfzig sogar noch Preise bei Segelregatten gewonnen. Damit konnte ich nicht mithalten, obwohl ich zwölf Jahre jünger als Berger war.

Das Konkurrenzverhältnis zu meinen beiden Kollegen war auch der Hauptgrund für meine Schlafprobleme. Dahinter stand das in der Firma kursierende Gerücht, eine der drei Leitungspositionen im Bereich Einführung und Distribution von Pharmazeutika würde in absehbarer Zeit gestrichen. Es war noch nicht klar, wen von uns es treffen würde, doch ich hatte das Gefühl, die Zeichen standen gegen mich.

Dr. Berger war bereits Manager bei Sündermann gewesen, als ich vor fünfzehn Jahren eingestellt worden war. Es hieß, er wäre vorher im Ausland an der Durchführung von medizinischen Studien beteiligt gewesen. Angeblich hatte es Probleme gegeben, die ihn zwangen, nach Deutschland zurückzukehren. Als ich ihn daraufhin ansprach, riet er mir, ich solle mich nicht um Gerüchte kümmern, wenn ich bei Sündermann Karriere machen wollte. Fortan hielt ich mich daran und behielt zu Berger über lange Jahre ein kollegiales Verhältnis.

Das änderte sich jedoch, als Torben Tüsselhover unserem Team zugeteilt wurde. Die Anstellung Tüsselhovers war die erste Handlung des neuen Teilhabers Axel Lange gewesen. Mit ihm hatte er mir einen zehn Jahre jüngeren Konkurrenten gegenübergesetzt. Ich hatte nie verstanden, welche sachlichen Gründe für die Einstellung Tüsselhovers gesprochen hatten. Neben einem abgebrochenen Chemiestudium und einem Master in Betriebswirtschaft wies Tüsselhover keine Berufserfahrung auf. So konnte ich mir nur erklären, dass Langes Schwäche für Tüsselhover persönlicher Natur war. Tüsselhovers feminines Auftreten, seine dunkelblonden Locken, sein geschwungener Mund und die auffallend langen Wimpern hatten etwas Laszives. Von Anfang an hielt ich ihn für schwul. So locker, wie die beiden miteinander umgingen, nahm ich an, dass er mit Axel Lange ein Verhältnis hatte.

Torben Tüsselhover lehnte zudem den Verzehr von tierischen Nahrungsmitteln ab. Wie er betonte, machte er das aus ethischen und ökologischen Motiven. In der Firma kam so etwas gut an. Ich selbst hatte es nie geschafft, auf Fleisch zu verzichten. Ich dachte dabei an Franks Vorhaltungen zu meiner CO2–Bilanz. Doch die fiel gegenüber der Tatsache, dass in Deutschland über achtzig Millionen Rinder, Schweine und Hühner gehalten wurden, deren Gasausdünstungen erheblich zum Klimawandel beitrugen, kaum ins Gewicht.

Ich nahm mir trotzdem vor, meinen Fleischkonsum einschränken. Auch in der Firma konnte ich ein paar Worte darüber fallenlassen. Den letzten Bissen vom Schinkenbrot ließ ich auf dem Teller. Ich griff stattdessen zu einem Kugelschreiber, um meine Einkaufsliste um zwei Büchsen mit vegetarischem Brotaufstrich zu erweitern.

*

Es war höchste Zeit aufzubrechen, wenn ich nicht zu spät zur Sitzung kommen wollte. Bevor ich ging, vergewisserte ich mich ein paarmal, alle Lichtquellen und elektrischen Geräte ausgeschaltet zu haben. Das war so eine Manie von mir, die sich aus der Furcht entwickelt hatte, es könnte sich während meiner Abwesenheit in der Wohnung etwas entzünden. Ein letzter Blick auf die Uhr trieb mich zur Eile. Ich schloss die Tür und lief die Treppe hinunter.

Im Hausbriefkasten steckten die Wochenzeitung und ein Brief von der Hausverwaltung. Draußen vor der Haustür wehte mir der Wind einen feinen Sprühregen ins Gesicht. Mein Blick glitt über die Dächer der Häuser. Die rötliche Farbe des Himmels wechselte am Horizont in ein diffuses Grau. Ich bedauerte es, wieder den ganzen Tag im Büro verbringen zu müssen. Auf dem Weg zur Garage riss ich den Briefumschlag auf. Der böige Wind zerrte an dem Papier, es war die Ankündigung einer Mieterhöhung für das kommende Jahr.

Die metallene Garagentür schwang mit einem knarrenden Geräusch nach oben. Ein Druck auf den Schlüssel und die Zentralverrieglung meines 5er-BMW öffnete sich mit einem satten Klacken. Vor dem Einsteigen trat ich auf etwas Weiches. Ich sah auf meinen Schuh, es war Hundekot. Der Rest davon lag plattgetreten auf dem mit Laub übersäten Grünstreifen vor der Garage. Verzweifelt versuchte ich, die klebrigen Fäkalreste von der Schuhsohle abzustreifen. Ein Geruch nach Verwesung stieg hoch. Doch ich musste los, wenn ich nicht zu spät zur Sitzung erscheinen wollte.

Aus dem Augenwinkel sah ich Frau Steckenborn ganz in der Nähe. Sie stand auf einem Rasenstück und verfolgte interessiert mein Tun. Frau Steckenborn wohnte drei Etagen unter mir. Sie war eine kleine, gedrungene Person um die fünfzig mit auffallend hellrot gefärbten Haaren. Ihr weißer Kleinhund rannte auf mich zu, wobei sie die Leine meterweise abspulen ließ. Sie besaß noch einen zweiten Hund ähnlichen Kalibers, den ich aber im Moment nicht ausfindig machte. Als sie nicht aufhörte, mich anzuglotzen, wusste ich Bescheid. Sie hatte ihre Hunde absichtlich vor meine Garage geführt, damit sie dort ihr Geschäft verrichteten. Vermutlich machte sie das, weil ich mich bei der Hausverwaltung über sie beschwert hatte. Ihre Hunde bellten jedes Mal, wenn ich auf der Treppe an ihrer Wohnungstür vorbeilief.

Ich bedachte diese infame Person mit einem vernichtenden Blick. Daraufhin zog sie ihren Hund mit kräftigen Zügen an der Leine zurück, als hole sie einen Anker ein. Mit den Resten der Exkremente, die ich mit einem Aststück aus der Sohle kratzte, hatte sich auch Frau Steckenborn verkrümelt. Mein Schuh war immer noch schmutzig, doch ich durfte nicht zu spät kommen und setzte mich ans Steuer.

Ich gab Gas, um die verlorene Zeit wieder einzuholen. Franks Worte über das Auto als Klimakiller hatten mir eine Zeitlang das Fahrvergnügen vermiest. Doch nur solange, bis ich mich genauer mit Kohlendioxid-Emissionen beschäftigt hatte. Aus einer Bedarfsanalyse der Firma für ein Zeckenspray wusste ich, dass in Deutschland elf Millionen Katzen und sieben Millionen Hunde gehalten wurden. Schon eine Katze gab ebenso viel an schädlichem Treibhausgas in die Umwelt, wie einer dieser Heizpilze, mit denen Restaurants die Plätze auf dem Bürgersteig für ihre Kundschaft warmhielten. Doch darüber sprach man auch in Franks Partei nicht. Man war zwar gegen Autos, doch vermutlich hielten sich viele ihrer Wähler Kleintiere und man wollte sie mit solchen Geschichten nicht verprellen.

Der Nieselregen hatte glücklicherweise aufgehört. Nach fünfhundert Metern bog ich ab, um auf der Geraden wieder zu beschleunigen. Es dauerte nicht lange, da endete mein Sprint hinter einem blauen Kleinwagen. Die Tachonadel pendelte zwischen vierzig und fünfzig. Angespannt wartete ich auf die nächste Gelegenheit, um an dem blauen Nissan vorbeizuziehen. Je länger es sich hinzog, desto klarer wurde, dass ich den neun Uhr Termin verpassen würde. Ich dachte an den hämischen Blick aus Tüsselhovers Augen, die so blau waren, wie der Nissan vor mir. Meine Kopfschmerzen pulsierten. Ich rieb mir die Augen, um die aufkommende Müdigkeit zu vertreiben.

Endlich bot sich eine Lücke. Ich überholte, grinste der empörten Frau im Nissan ins Gesicht, um knapp vor ihr wieder einzuscheren. Sie blieb schnell hinter mir zurück. Die Straße vor mir war frei. Mein Auto beschleunigte mit einem satten Brummton. In diesem Moment fühlte ich mich von allem losgelöst, was mich vorher bedrückt hatte.

Den Hund sah ich erst, als es zum Bremsen zu spät war. Das Tier mit dem wolligen Fell und dem Stummelschwanz, der in einem putzigen Haarbüschel endete, rannte zielgerichtet vor mein Auto. Als es vom rechten Vorderreifen erfasst wurde, machte sich das nur als ein leichtes Ruckeln bemerkbar. Im Rückspiegel sah ich die schwarze Silhouette des Hundes regungslos auf dem Asphalt, von hinten näherte sich der blaue Nissan. Ich beschleunigte, und das blaue Viereck des Kleinwagens schmolz zu einem kleiner werdenden Fleck zusammen. Für einen Moment hatte ich Abstand gewonnen, doch die nächste Ampel war nicht weit. Ich bog in eine Nebenstraße ein, um den schwarzen Hund und den blauen Nissan endgültig Vergangenheit werden zu lassen. Doch es kostete Zeit, bis ich mich aus dem Geflecht der Nebenstraßen auf der mir bekannten Strecke wiederfand. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte inzwischen auf fünf Minuten nach neun.

Ich unterdrückte den Impuls, wieder zu beschleunigen. Das Bild des reglos auf der Straße liegenden Hundes stand mir noch vor Augen. Ich hoffte, dass sich das Tier nicht gequält hatte. Ich hatte den Unfall nicht gewollt. Doch war es nicht fahrlässig, wenn jemand seinen Hund an einer dichtbefahrenen Straße frei herumlaufen ließ? Wahrscheinlich entlaufen oder ausgesetzt. Ein streunender Hund, der früher oder später elender gestorben wäre, als durch den kompromisslosen Druck eines Neunzehn-Zoll-Reifens mit Flachbettfelge in die ewigen Jagdgründe geschickt zu werden.

Im Radio lief der Wetterbericht; es war zu warm für die Jahreszeit. Auch die Winter in den Jahren davor waren eher mau gewesen. Es hieß, der globale CO2-Ausstoß wäre schuld an der Klimaerwärmung und das Auto sei der Klimakiller an sich. Doch schon ein mittelgroßer Hund war ebenso klimabelastend wie ein SUV mit Allradantrieb, der zehntausend Kilometer im Jahr verfuhr. Wenn man das mit den achtzehn Millionen Hunden und Katzen in Deutschland multiplizierte, kam eine Menge zusammen. Ohne es zu wollen, hatte ich diese Belastung um den Faktor X minus eins reduziert.

*

Die Uhr am Portal der Firma Sündermann & Lange KG zeigte auf 9:25, als ich mich mit meiner Chipkarte einloggte. Die Kollision mit dem Hund hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen, wie mir ein kurzer Blick auf mein Auto bestätigte. Mit der Aktentasche unter dem Arm betrat ich die Eingangshalle des dreistöckigen Hauptgebäudes. Frau Kamischke, unsere Empfangsdame, begrüßte ich im Vorbeigehen, um über die bogenförmig nach oben verlaufende Treppe in den zweiten Stock zu eilen. Eine Helix, so hatte Thomas Sündermann diese Treppe anlässlich meiner Einstellung genannt. Sie sollte an die DNA-Stränge erinnern, die Bausteine des Lebens.

„Herr Hintersinn, die Herren warten bereits auf Sie“, hörte ich Frau Kamischke noch sagen, als ich die ersten Stufen bereits hinter mir gelassen hatte. Es klang, als läge ein Vorwurf in ihrer Stimme. Wahrscheinlich hatten sie sich schon nach meinem Verbleib erkundigt. Bei diesem Gedanken beeilte ich mich noch mehr. Ich nahm jeweils zwei Stufen auf einmal, bis ich außer Atem vor dem Konferenzraum im zweiten Stock stand.

Das Schild mit der Aufschrift Sitzung hing an der geschlossenen Tür. Ich klopfte und nachdem sich nichts tat, öffnete ich vorsichtig. Mein erster Blick fiel auf Thomas Sündermann, der pfeiferauchend neben Axel Lange am ovalen Konferenztisch saß. Ich schrak zusammen. Wenn beide Chefs an der Besprechung teilnahmen, musste es sich um eine Sache von höchster Wichtigkeit handeln.

Ich machte einen zaghaften Schritt in den Saal und entschuldigte mich dabei für die Verspätung. Meine Augen richteten sich auf einen freien Platz, der abseits von meinen Kollegen Tüsselhover und Berger lag. Als ich darauf zusteuerte, deutete Thomas Sündermann mit seiner Pfeife auf den freien Stuhl zwischen meinen beiden Kollegen. Dort lag eine hellblaue Mappe. Sie glich denen, welche die anderen bereits aufgeschlagen vor sich zu liegen hatten. Ich setzte mich und fand mich im Blickfeld der grauen Augen von Axel Lange wieder.

Er tat, als hätte er mich erst in diesem Moment bemerkt. „Na da sind Sie ja endlich, Herr Hintersinn! Wir dachten schon, Sie kommen nicht mehr. Sie haben sich wohl beim Joggen mit der Zeit vertan?“

Torben Tüsselhover, der links von mir saß, begann zu prusten. Er hörte erst damit auf, als Thomas Sündermann sich vernehmlich räusperte. Doch es war nicht Tüsselhover, den er jetzt vorwurfsvoll ansah. „Schlagen Sie nun bitte Ihre Mappe auf, Herr Hintersinn. Da wir nun vollzählig sind, können wir beginnen. Es ist schon spät und die Zeit wird knapp, meine Herren. Alle anderen haben sich das Dossier bereits angesehen und kennen die wichtigsten Punkte. Ich weise nochmals auf das Gebot der Verschwiegenheit hin. Herr Hintersinn …“,

Sündermann deutete auf meine Mappe, die ich aufgeschlagen hatte. „Sündermann & Lange KG, AG Neue Märkte“, stand in dicken Lettern auf der ersten Seite, darunter der Zusatz streng vertraulich.

„… um es für Sie noch einmal zusammenzufassen, es geht hierbei um den internationalen Ausbau unserer Kapazitäten. Sündermann & Lange muss in neue Weltmärkte vorstoßen, bevor uns die Konkurrenz zuvorkommt.“

Ich nickte zu seinen Worten. Er sollte wissen, dass ich, wenn auch verspätet, aufmerksam bei der Sache war. Immerhin ließ er sich dazu herab, mich zum Sachstand persönlich zu briefen. Gerade wollte ich mich bedanken, da hob der beleibte Sündermann die Hand, um sich jede Unterbrechung zu verbitten. „Neue Märkte können nur dort erschlossen werden, wo zurzeit niemand anderes hingeht, aus Gründen die, sagen wir mal, vielfältig sein können.“

Wahrscheinlich wollte die Firma wieder an den russischen Markt anknüpfen, dachte ich. Gestern hatten sie in der Tagesschau berichtet, dass sich die Situation in der Ukraine entspannt hatte. Ich lächelte wissend und Sündermanns Blick ruhte auf mir, als hätte er meine Gedanken erraten. „Wahrscheinlich denken Sie sofort an Russland, aber da gibt es immer noch die EU-Sanktionen, um die wir leider auch nicht herumkommen. Aber uns …“

Er räusperte sich und zog ein weißes Seidentuch aus seiner Reverstasche. Nachdem er sich damit den Mund abgewischt hatte, fuhr er fort: „Aber uns schweben dabei ganz andere Partner vor.“

Er lehnte sich zurück, zog genüsslich an seiner Pfeife und gab Axel Lange mit einem Kopfnicken zu verstehen, den Faden aufzugreifen. Im Konferenzraum war es still, doch die von mir erwartete Spannung lag nicht in der Luft. War ich der Einzige unter den Anwesenden, der nicht wusste, was nun kam?

„Bei den Partnern handelt es sich um drei Länder, die wir ins Auge gefasst haben, nämlich Kuba, den Iran und Syrien.“ Axel Langes Worte waren kurz und abgehackt. Ich bekam das Gefühl, Zuschauer in einem Theaterstück zu sein, bei dem jeder seine Rolle genau kannte. Die Stille und die lächelnden Gesichter der Anderen bestätigten, dass sie längst Bescheid wussten und nur darauf warteten, dass Lange weitersprach.

„Kuba und der Iran sind kürzlich von der internationalen Sanktionsliste gestrichen worden. Beide Länder haben schon eine eigene pharmazeutische Industrie. Da müssen wir unbedingt rein. Syrien als Staat scheint nach dem Eingreifen der Russen wieder soweit stabilisiert zu sein, dass wir zu den Ersten in Damaskus gehören können. Eine heikle Mission, aber vergessen wir nicht den guten Ruf, den made in Germany in dieser Region immer noch hat.“

Thomas Sündermann hatte seine Pfeife aus dem Mund genommen. Er strahlte, als hätte Lange ihm gerade zum Geburtstag gratuliert. Sein Blick fiel auf Berger, dann auf Tüsselhover und blieb zuletzt bei mir hängen. „Nun, Herr Hintersinn? Was sagen Sie dazu?“ Sündermann hatte sich vorgebeugt und stützte seinen massigen Oberkörper auf den polierten Konferenztisch. Ich wusste, dass ich mit meiner Antwort nicht lange zögern durfte.

„Kuba“, entfuhr es mir. Allerdings eine Spur zu leise, als ich es beabsichtigt hatte. In meinem Kopf mischten sich Bilder aus Latino-Klängen, einem Strand in der Karibik und hübschen, dunkelhäutigen Frauen. Ohne Zweifel, Kuba war von den drei gebotenen Möglichkeiten bei weitem die Angenehmste.

Habla español?“, klang wie durch einen Nebel die Stimme von Dr. Berger, der mir zur Rechten saß. Ich glaubte nicht recht gehört zu haben und starrte den Mediziner mit halboffenem Mund an. Ich wusste nicht, dass Berger Spanisch sprach, und schüttelte nur hilflos meinen Kopf.

„Wir freuen uns, dass Dr. Berger langjährige Berufserfahrungen aus Südamerika mitbringt und damit auch fundierte Kenntnisse in Spanisch. Es zeichnet sich damit ab, wer von Ihnen sich um den kubanischen Markt kümmern wird.“ Sündermann schaute wohlgefällig in die Runde und steckte sich seine Pfeife wieder in den Mund.

Also hatte Berger seine medizinischen Studien, die er damals so plötzlich abbrechen musste, in Südamerika durchgeführt. Das wusste ich nun, doch es brachte mir nichts. Der Verlauf der Sitzung ließ mir auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

„Gibt es Fragen, Einwände dagegen?“

Axel Langes Stimme verklang. Seine Frage war ohnehin nur rhetorisch gemeint, denn er wandte sich gleich wieder an mich. „Ich danke Ihnen für Ihr Engagement, Herr Hintersinn. Aber wie Sie sehen, ist Kuba bei Herrn Dr. Berger schon in guten Händen. In Anbetracht Ihrer langjährigen Berufserfahrung kann ich mir aber vorstellen, dass Sie bereit sind, jede Herausforderung unter den neuen Märkten anzunehmen?“

Ich nickte beklommen. Was meinte Lange damit? Den Iran oder Syrien? Das Tempo, mit dem sich die Geschehnisse abspulten, hatte mich so schnell überrollt, wie ich den schwarzen Hund mit meinem Auto. Die ganze Sache war längst abgesprochen gewesen. Axel Lange musste Sündermann dazu überredet haben, mich vor die Wahl zu stellen. Entweder ich übernahm die mir zugewiesene Aufgabe, oder man würde mich bei der nächsten Gelegenheit vor die Tür setzen.

„Herr Tüsselhover übernimmt das Irangate!“ Langes Stimme hallte durch den Raum. Es blieb still bis auf ein Geraune von Sündermann und Berger, denen das Irangate offenbar noch ein Begriff war. Wie ich später erfuhr, war damit ein Skandal aus der Zeit des US-Präsidenten Reagan gemeint. Es ging um Gelder aus illegalen Waffenverkäufen an den Iran, die den Rebellen in Nikaragua zur Verfügung gestellt worden waren.

Axel Lange spulte nur noch ab, was längst beschlossene Sache war: „Herr Dr. Foorozan, unser bewährter Mitarbeiter aus der Entwicklungsabteilung ist gebürtiger Iraner. Er wird Herrn Tüsselhover bei dieser Aufgabe zur Seite stehen. Ich bin sicher, im Team werden Sie das schaffen und gute Geschäftsbeziehungen zu unseren künftigen Partnern im Iran aufbauen.“

Damit war zwar noch nicht ausgesprochen, aber beschlossen, dass ich das Syrien-Projekt übernehmen musste. Irangate und Syrienconnection gingen mir durch den Kopf, als ich die gemurmelte Zustimmung zu Axel Langes Worten hörte. Syrien war die schlechteste Option überhaupt. Dort herrschte Bürgerkrieg. Mir fiel ein, was sie heute in den Frühnachrichten berichtet hatten. Es gab eine Möglichkeit, mich vor dieser Option zu bewahren. Ich hob meine Hand und suchte den Blickkontakt mit Thomas Sündermann.

„Ja? Bitte, Herr Hintersinn!“

Es kratzte in meinem Hals. Ich musste husten, bevor ich sprechen konnte: „Also, was Syrien betrifft, sehe ich ein grundsätzliches Problem. Soweit ich weiß, ist das Assad-Regime nicht als Verhandlungspartner von der EU anerkannt. Wie sollen wir mit denen denn Geschäftsbeziehungen anknüpfen?“

Axel Langes Blick schien wie durch mich hindurchzugehen. „Ganz so schlimm ist es zum Glück nicht, Herr Hintersinn. Die Beziehungen zwischen Deutschland und der syrischen Regierung bestehen weiterhin, selbst wenn sie zurzeit nicht die besten sind. Wenn andere EU-Staaten in dieser Hinsicht restriktiver handeln, soll uns das doch nur recht sein. Damit werden wir zu den Ersten in Syrien gehören, die den Markt dort wieder neu erschließen.“

Ich fühlte, wie sich etwas in meinem Hals zusammenzog. Kampflos wollte ich nicht aufgeben: „Aber man liest doch auch in den Verlautbarungen der Bundesregierung, um was für ein unmenschliches Regime es sich handelt. Sie setzen Chemiewaffen ein, darüber war heute gerade berichtet worden. Der Machthaber Assad wirft Fassbomben auf die eigene Bevölkerung!“

„Alle werfen dort Bomben, nicht nur Assad!“, tönte Tüsselhover links neben mir. Er setzte noch hinzu: „Für den, der getroffen wird, ist es doch egal, ob die Bombe wie ein Fass oder irgendwie anders aussieht, oder etwa nicht?“ Er sah sich in der Runde um, doch alle hielten ihre Augen auf die blauen Mappen gerichtet, die vor ihnen aufgeschlagen lagen.

Axel Lange strich sich nachdenklich über seinen Vollbart. „Sie können natürlich aus moralischen Gründen ablehnen, Herr Hintersinn ...“

Er fuhr fort und betonte dabei jedes einzelne seiner Worte. „Doch vergessen Sie nicht, Sie arbeiten in einer Firma, die pharmazeutische Produkte und Laborartikel verkauft, und nicht bei Amnesty International oder Human Rights Watch.“

„Herr Hintersinn, vergessen Sie auch nicht, dass Assad über viele Jahre ein geachteter Gesprächspartner der Bundesregierung war“, mischte sich nun auch noch Dr. Berger ein. „Wenn sich die politische Lage in Syrien wieder stabilisiert, wird der deutsche Außenminister ebenso schnell nach Damaskus fliegen, wie er es nach der Aufhebung der Iran-Sanktionen in Richtung Teheran getan hat.“

Pecunia non olet, Herr Hintersinn!“ Thomas Sündermann legte seine Pfeife auf den Tisch. Er sah erst auf mich und dann auf das entgeisterte Gesicht von Torben Tüsselhover. „Geld stinkt nicht, Herr Tüsselhover! Eine zweitausend Jahre alte, römische Spruchweisheit! Ich vergesse immer wieder, dass Ihre Abiturjahrgänge kein Latein mehr hatten.“

Tüsselhover grinste. Auch wenn er in der Schule keinen Lateinunterricht gehabt hatte, war ihm diese Devise als Betriebswirt doch nicht fremd.

Mir brummte der Schädel, es war die Müdigkeit und der Schock. Ich war immer noch dabei begreifen zu wollen, was hier eigentlich ablief. Axel Langes Stimme klang wie durch Watte in mein Ohr. „Also, was ist mit Ihnen? Stimmen Sie unserem Vorschlag zu, Herr Hintersinn?“

Ich leistete mir noch zwei Sekunden, dann gab ich auf. „Ja. Natürlich! Ich wollte nur sichergehen, ob alle Eventualitäten bei diesem Vorhaben auch in Betracht gezogen worden sind.“

Axel Langes Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. „Schön haben Sie das gesagt, Herr Hintersinn! Aber gewiss doch!“

Er wandte sich jetzt wieder an alle. „Die Einzelheiten zu Ihren Projekten finden Sie in der Mappe vor Ihnen. Machen Sie sich bitte in den nächsten Tagen damit vertraut. Wir treffen uns in einer Woche zu weiteren Planungen, den Termin gebe ich noch bekannt. Die Sitzung ist hiermit geschlossen.“

Dr. Berger war bereits an Tür und wedelte mit der Mappe in seiner Hand.

Hasta luego, señores.“ Mit diesen Worten war er verschwunden.

„Der ist in Gedanken schon auf Kuba“, stieß Tüsselhover schlechtgelaunt hervor. Er sah dabei auf den Boden, als suchte er etwas und zog schnüffelnd die Luft ein.

„Irgendwie riecht es hier schon die ganze Zeit so, als hätte jemand ins Glück getreten.“ Er sah mich mit gerümpfter Nase an. „Haben Sie einen Hund?“

Ich sah ihn nur empört an.

„Vielleicht sollten Sie sich einen anschaffen, es ist gut für die Figur und so ein Hund ist zum Joggen doch ganz praktisch.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum.

Ich tat, als hätte ich nichts gehört. Was dieser aufgeblasene Kerl sich für Frechheiten herausnahm! Das erlaubte er sich nur, weil Lange ihn in jeder Hinsicht deckte. Ich stellte mir in diesem Moment vor, wie die beiden es im Doggy Style miteinander trieben. Doch als ich länger darüber nachdachte, empfand ich nur noch Ohnmacht und Eifersuchtsgefühle. Im Gegensatz zu Tüsselhover hatte ich niemanden in der Firma, der mich vor Schikanen in Schutz nahm.

Aus dem Augenwinkel schielte ich zu Thomas Sündermann, der in aller Ruhe seine Pfeife reinigte. Alle anderen waren inzwischen schon gegangen. Schließlich verließ auch er den Raum, ohne mich nur eines Blickes zu würdigen. Ich hatte gehofft, er würde mich vielleicht noch ansprechen, um mir in irgendeiner Weise entgegenzukommen.

Ich erhob mich und schlich lustlos in mein Büro. Es befand sich auf dem gleichen Stockwerk wie der Konferenzraum. Die Büros von Dr. Berger und Torben Tüsselhover lagen nur ein paar Schritte weiter von meinem entfernt. Der Adrenalinschub aus der Sitzung hatte meine Müdigkeit gegen eine dumpfe Anspannung eingetauscht. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, ließ ich mich auf meinen Bürostuhl fallen. Mit der Syriengeschichte hatten sie mich kalt erwischt. Das Irangate hatten sie Tüsselhover doch nur pro forma übertragen. Die eigentliche Arbeit lag bei dem iranischen Entwicklungsingenieur Gholam Foorozan.

Ich versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, doch die Sitzung hatte mir gezeigt, wie isoliert ich inzwischen in der Firma war. Berger war mit dem Kuba-Projekt fein raus. Von Thomas Sündermann konnte ich, so wie es aussah, keine Unterstützung mehr erwarten. Das alles musste ich erst einmal verdauen.

Nachdem ich eine Weile vor mich hingebrütet hatte, öffnete ich widerwillig die blaue Mappe und suchte nach Einzelheiten der geplanten Kooperation. Ich stieß auf den Namen Erkalaat Ltd., ein halbstaatlicher, pharmazeutischer Betrieb in Aleppo. Ausgerechnet mit einer vom syrischen Staat betriebenen Firma wollten Sündermann und Lange Geschäftsbeziehungen anknüpfen. Alles war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Es galt als erwiesen, dass das syrische Regime Chemiewaffen hergestellt hatte. Ein Staatsbetrieb wie Erkalaat war vermutlich daran beteiligt gewesen. Zudem saß diese Firma in Aleppo. Eine Stadt, die unter Dauerbeschuss und zur Hälfte in Trümmern lag. Im Fernsehen hatten sie gezeigt, wie Assads Armee dort Fassbomben auf Zivilisten und Krankenhäuser abwarf. Erwarteten meine Chefs wirklich, dass ich mich auf dieses schmutzige Spiel einließ, womöglich noch dort hinfuhr? Das konnte man mir doch nicht ernsthaft zumuten!

Während ich noch in der Mappe blätterte, stieg mir ein fader Geruch in die Nase. Der Gestank kam unzweifelhaft von meinem Schuh, der immer noch die Hinterlassenschaft von Frau Steckenborns Hunden trug. Tüsselhovers feines Näschen hatte es schon in der Sitzung gerochen. Nachdem meine Anspannung jetzt nachgelassen hatte, merkte ich es auch. Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie so weit weg wie möglich neben die Bürotür. Nachher musste ich sie auf der Toilette gründlich säubern. Ich ekelte mich schon allein bei dem Gedanken. Einen Chemiker sollte man nicht mit Gestank ärgern wollen, dachte ich. Mir war eine Idee gekommen, es Frau Steckenborn mit gleicher Münze heimzuzahlen. Ich rief Herrn Schauhin aus dem Chemikalienlager an und fragte, ob wir Butanthiol vorrätig hatten. Er versprach, mir bis morgen etwas davon zu schicken.

Doch solche kleinen Gemeinheiten brachten mich bei meinem Problem nicht weiter. Ich überlegte, wie ich mich aus dem Syriengeschäft herausziehen konnte, ohne meine Anstellung zu gefährden. Doch mir fiel keine Lösung dazu ein. Ich wusste kaum etwas über die Hintergründe des syrischen Bürgerkrieges, noch über die unterschiedlichen Kräfte, die dort wirkten. Ein paar Tage blieben mir noch, bevor Axel Lange den Businessplan wieder auf dem Tisch haben wollte. Vorher musste ich mit jemand reden, der sich mit den Verhältnissen in diesem Land besser auskannte als ich selbst.

Zuerst dachte ich an Harry. Er war belesen, kannte sich mit Vielem aus und hatte manchmal originelle Ideen. Allerdings war er zu sehr Theoretiker, um mir bei meinem Problem weiterhelfen zu können. Was ich brauchte, war praktischer Rat. Mir fiel ein, dass Frank bei Facebook vor einiger Zeit etwas zu den syrischen Chemiewaffen gepostet hatte. Frank hatte politische Verbindungen, Beziehungen zu Leuten, Hintergrundwissen und Zugang zu Informationen, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Von ihm erhoffte ich mir Insidertipps zur Lage in Syrien und zur Rolle von Erkalaat im syrischen Chemiewaffenprogramm. Ich schickte ihm eine Mail mit dem Stichwort Pharmaunternehmen in Syrien mit der Bitte, mich möglichst bald anzurufen.

Die Müdigkeit aus der durchwachten Nacht hatte mich wieder im Griff. Ich gähnte und ging auf Strümpfen auf den Flur, um mir dort einen Kaffee aus dem Automaten zu holen. Zum Glück lief mir gerade niemand über den Weg. Tüsselhover hätte sofort gewusst, was Sache war. Ich kehrte mit dem Becher Kaffee in mein Büro zurück.

Die blaue Mappe legte ich einstweilen beiseite und nahm die Arbeit wieder auf, mit der ich mich schon in der letzten Woche beschäftigt hatte. Es ging dabei um eine Bedarfsstudie für Medikamente zur Therapie von Sexualstörungen. Der weltweite Umsatz von Potenzmitteln stagnierte seit Jahren um die zwei Milliarden Dollar, mit leicht rückläufiger Tendenz. Um den Umsatz wieder anzukurbeln, standen Frauen als neue Zielgruppe im Fokus. Sündermann & Lange erhoffte sich mit neuen Präparaten speziell für Frauen, in diesen Markt stärker vorzustoßen. Allerdings war es den meisten Frauen nicht bewusst, dass mit ihrer Sexualität etwas nicht stimmte. Zuerst musste daher der Therapiebedarf geweckt werden. Das sollte mit einer großen Kampagne geschehen, für die ich hauptverantwortlich war.

Mit dem Gesundheitsbedürfnis der Menschen und ihrem Bestreben nach Glück ließ sich eine Menge Geld verdienen. Um die dreißig Milliarden Euro gab man jedes Jahr in Deutschland für Medikamente aus. Neben der allgemeinen Gesundheit spielte dabei der Begriff des Richtigen Lebens eine immer wichtigere Rolle. Aus diesem Grund erzielten Lifestyle-Medikamente immer höhere Umsätze. Die Menschen wollten beraten werden. Nicht nur wie man gesund, sondern vor allem, wie man richtig lebt.

Zu jedem Thema gab es Experten, die den richtigen Weg wiesen. Ähnlich wie bei der Einführung der Statine zur Senkung der Blutfettwerte, musste man den Betroffenen zuerst klarmachen, dass sie eigentlich krank und daher behandlungsbedürftig waren. „Wir müssen das Wild zuerst ankirren“, hatte Thomas Sündermann in der Projektbesprechung gesagt. So, als wäre er gerade im Wald auf der Pirsch. Als erfolgreicher Unternehmer und Hobbyjäger verstand er sich gleichermaßen gut auf das Auslegen von Ködern für Mensch und Tier.

Zum Start der von mir gestalteten Kampagne sollte in Gesundheits- und Lifestyle-Magazinen eine neue Volkskrankheit namens sexuelle Dysfunktion vorgestellt werden. Solche werbefinanzierten Blättchen lagen jede Woche neu in Apotheken, Arztpraxen und anderen zielgruppenorientierten Orten zur kostenlosen Mitnahme aus. Die Leserinnen würden in dem Heft einen Fragebogen finden, der auf ihre sexuellen Gewohnheiten, Wünsche und Schwierigkeiten einging. Aus der Beantwortung der Fragen ergab sich zwangsläufig, dass die meisten an sexueller Dysfunktion litten. Im gleichen Heft sollten Anzeigen für die medikamentöse Therapie der sexuellen Dysfunktion geschaltet werden. Natürlich mit Präparaten aus dem Hause Sündermann & Lange. Die Medikamente mussten über Monate, wenn nicht jahrelang eingenommen werden, um die versprochene Wirkung zu erzielen. Damit war der Absatz für den Hersteller auf lange Sicht kalkulierbar.

Eine ähnliche Strategie hatte sich vorher schon bei den Blutdrucksenkern und den Blutfettsenkern bewährt. Warum sollten nicht Zielgruppen um das männliche und weibliche Klimakterium für die medikamentöse Therapie der sexuellen Dysfunktion begeistert werden?

Für meine Kampagne hatte ich die Hilfe der Werbeagentur Bongarten & Wohlleben angefordert. Heute früh war ihre Antwort eingetroffen. Die Agentur empfahl, bei dieser Aktion den Schwerpunkt auf Radiowerbung zu setzen und es folgendermaßen begründet: „Radiowerbung eignet sich besonders für Kampagnen, die auf eine direkte Resonanz der Hörer setzen. Das Radiopublikum ist treuer und neigt weniger zum häufigen Umschalten, als das Fernsehpublikum. Darüber hinaus konsumieren Hörer die Radiosendungen häufig in einer Eins-zu-eins-Situation, beispielsweise im Auto auf der Fahrt ins Büro. Sie werden dabei kaum von anderen Einflüssen abgelenkt. Gerade bei sehr emotional besetzten Themen wie der Sexualität ist es von Vorteil, wenn die Werbung auf Menschen trifft, die in diesem Moment mit sich allein sind.“

Das klang vielversprechend. Radiowerbung war zudem billiger als Fernsehspots und in der Programmgestaltung direkt mit den Nachrichtenblöcken verknüpft. Das gab den Werbebotschaften einen Anstrich von Aktualität und objektiver Berichterstattung.

Ich dachte daran, wie ich vergeblich versucht hatte, Erika und später Harry für das Thema Gesundheitsvorsorge zu interessieren. Erika hatte einfach nur abgeblockt. Harry behauptete zudem, diese neuen Erkrankungen wären einfach erfunden, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Als ich ihn fragte, ob er sich regelmäßig beim Arzt auf seinen Blutfettspiegel untersuchen ließ und ihn auf die Neueinstufung der Cholesterinwerte aufmerksam machte, hatte er nur gelacht.

„Wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns zu einem besseren Leben anleiten sollen, werden uns von sogenannten Experten täglich aufs Neue angepriesen. Man will uns weismachen, ohne diese Experten wären wir verloren. Damit wir das auch glauben, wird unsere angebliche Unmündigkeit pseudowissenschaftlich begründet. Wir sollen uns gefälligst informieren, uns von diesen sogenannten Experten beraten lassen. Nur eins sollen wir nicht, nämlich unseren gesunden Menschenverstand benutzen!“

Ich sagte ihm, dass die Welt heutzutage viel zu kompliziert sei, als sich nur auf den sogenannten gesunden Menschenverstand zu verlassen. Der wäre ohnehin durch Vorurteile, Tabus und mangelnde Sachkenntnis geprägt.

Harry hatte dafür nichts übrig. „Das glaubst du nur, weil du da mitmachst und diesen ganzen Werbefirlefanz verinnerlicht hast. Die zu den Themen verfassten Artikel unterscheiden sich doch kaum von Werbeprospekten. Eine Mischung aus ein paar Fakten, mehr oder weniger geschickt vernetzt mit Werbung für bestimmte Produkte. Es handelt sich nicht um objektive Berichterstattung, sondern schlicht um mit Scheinargumenten versetzte Reklame, die bei uns Gefühle wie Angst oder Hoffnung auslösen soll.“

„Das ist doch völlig überzogen, Harry!“

„Beantworte mir bitte eine Frage, Herbert. Wenn ich dafür bezahle, bekomme ich doch jedes gewünschte wissenschaftliche Gutachten, das meinen Standpunkt bestätigt, oder? Wenn ich dabei viel Geld einsetze, kann ich mir auch honorige Wissenschaftler, Professoren, bekannte Experten für ein gewünschtes Gutachten kaufen. Stimmt doch, oder?“

Natürlich war mir das bewusst. Bei Sündermann & Lange arbeiteten wir genauso. Wie sollte man denn sonst einen hochkarätigen Universitätsprofessor dazu bringen, eine wissenschaftliche Expertise für eine Firma zu verfassen, wenn man ihm dafür nicht eine anständige Bezahlung bot? Trotzdem beruhten diese Gutachten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Nur, dass man die eben für Werbezwecke einsetzte.

„Schon möglich Harry, aber mit einer solchen Einstellung müsstest du ja an jedem Gutachten zweifeln. Dann sag mir mal, wie willst du dich denn objektiv informieren?“

Harry setzte so eine Miene auf, die mich befürchten ließ, es käme zu einem philosophischen Diskurs. So war es auch. „Immanuel Kant hat schon 1784 geschrieben: Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Man hat den Eindruck, kaum einer hat das bis heute begriffen. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden uns gerne als Zahlen präsentiert. Als Richtwerte, an denen wir uns orientieren sollen, zum Beispiel, was gesundheitsschädlich ist und was nicht.“

„Eben, und das ist doch objektiv!“, entgegnete ich.

„Na ja. Für viele der heute angepriesenen wissenschaftlichen Erkenntnisse gilt doch: Die Wahrheiten von heute sind die Märchen von morgen.“

„Was willst du damit sagen?“

„Das Problem ist, dass sich diese Erkenntnisse je nach Lage der Dinge ändern. Doch nicht nur durch neue wissenschaftliche Entdeckungen, was durchaus in Ordnung ist, sondern viel häufiger durch politische und wirtschaftliche Interessen. Nur ein aktuelles Beispiel dazu: Wenn nach einem Reaktorunfall eine erhöhte radioaktive Belastung bei Lebensmitteln zu erwarten ist, werden die gesundheitlichen Toleranzwerte einfach nach oben angepasst. Was nicht passt, wird passend gemacht! Also hilft nur, wie Kant schon sagte: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Ich hatte einmal probiert, die Kritik der reinen Vernunft zu lesen, es aber bald wieder aufgegeben. Ich hätte schon deswegen in der Diskussion den Kürzeren gezogen. Allerdings fand ich, dass ich mich sehr wohl meines eigenen Verstandes bediente. Dazu gehörte eben auch, dass man sich entsprechend informierte. Wenn einer das tat, dann war ich es!

*

Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Sollte Frank sich so schnell melden? Ich hatte ihm doch erst vor einer Viertelstunde die E-Mail geschickt!

„Frank!?“ Ich war voller Ungeduld, doch es blieb zuerst still. Dann hörte ich eine Frauenstimme, die energisch, aber nicht unsympathisch klang.

„Spreche ich mit Herrn Hintersinn?“

„Ja! Wer spricht dort bitte?“

Frank musste inzwischen ein Sekretariat oder eine persönliche Referentin haben, die sich um seine vielen Kontakte kümmerte.

„Sie sprechen mit Polizeihauptmeisterin Alice Gördeler, Polizeiabschnitt 47. Herr Hintersinn, Sie fahren einen schwarzen PKW, Hersteller BMW, Kennzeichen B-HH 1 …?“

„Ja?“

Was hatte das zu bedeuten? Mir schwirrte der Kopf. Meine Hand mit dem Telefon glitt langsam herab auf den Schreibtisch.

„Hallo? Herr Hintersinn?“ Ich hörte sie von weit entfernt, sie sprach jetzt lauter. Ich presste das Telefon erneut an mein Ohr. „Entschuldigung, ich war für einen Augenblick abgelenkt.“

„Herr Hintersinn, gegen Sie wird wegen Fahrerflucht nach §142 StGB ermittelt. Laut Zeugenaussage haben Sie heute mit Ihrem Auto gegen 8:45 Uhr in der Fischerhüttenstraße einen Kleinpudel überfahren. Anstatt ordnungsgemäß anzuhalten, haben Sie sich im schnellen Tempo vom Unfallort entfernt.“

„Das stimmt nicht, ich habe keinen Hund überfahren. Ihr Zeuge hat sich geirrt! Da muss eine Verwechslung vorliegen!“

„Das glaube ich kaum. Eine Zeugin bin ich übrigens selbst, die Fahrerin des blauen Nissan Micra, den Sie kurz vor dem Unfall fahrlässig überholt und danach geschnitten haben.“

„Was?“

„Und die Halterin des Tieres hat ebenfalls gesehen, wie Sie ihren Hund mit Ihrem Fahrzeug überrollt haben. Wollen Sie das immer noch abstreiten?“

„Ich habe nichts dergleichen bemerkt, Frau Gördeler. Sie behaupten, es handele sich um einen Hund. In diesem Fall ist es doch keine Fahrerflucht?“

„Doch, Herr Hintersinn. Es kann auch Vorsatz angenommen werden, dann fällt die zu erwartende Strafe noch schwerer aus.“

„Aber, es handelt sich doch …, wie sagten Sie eben, um einen Kleinpudel?“

„Richtig. Nur zu Ihrer Information, es wäre keine Fahrerflucht gewesen, wenn Sie ein Tier überfahren hätten, bei dem von einem geringeren Wert als 25 Euro auszugehen ist. Eine Katze zum Beispiel. Tiere unter diesem Wert fallen nicht unter den §142 StGB.“

Was sollte ich dazu sagen? Kleinpudel hatte die Polizistin gesagt, und den Zwergpudel damit gleich ein Stück größer gemacht. Mir fiel nur ein, dass sich der Kohlendioxidausstoß einer Katze und der eines Zwergpudels nicht sonderlich unterschieden. Zwar musste man für den Pudel Hundesteuer entrichten, aber ich bezweifelte, dass diese für den Klimaschutz eingesetzt wurde.

Doch mit solchen Erwägungen konnte ich der Polizistin nicht kommen. Eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung oder Vertuschung einer Straftat wäre das mindeste gewesen.

Sie ließ mir auch keine Zeit für weitere Überlegungen. „Kommen Sie bitte mit Ihrem Fahrzeug noch heute zu uns auf den Polizeiabschnitt am Lichtenrader Damm 211, damit wir Ihren PKW besichtigen und den Tathergang protokollieren können. Spätestens bis 17:00 Uhr.“

Um achtzehn Uhr hatte ich einen Termin bei der Bank, um den Bausparvertrag zu kündigen, den wir zu Beginn unserer Ehe abgeschlossen hatten. Der Traum vom Glück im eigenen Heim war mit der Scheidung geplatzt. Ich hatte lange damit gezögert, aber nun war es finanziell notwendig geworden. Während ich noch überlegte, wie ich das alles unter einen Hut bekam, hörte ich erneut ihre Stimme: „Widrigenfalls bekommen Sie eine Anzeige wegen vorsätzlicher Fahrerflucht und eine schriftliche Aufforderung, mit Ihrem Fahrzeug bei uns zu erscheinen. Guten Tag.“

Hilflos legte ich mein Handy vor mich hin. Vielleicht sollte ich alles abstreiten und einen Rechtsanwalt hinzuziehen? Doch da war nichts zu machen, es gab zwei Zeugen, darunter eine Polizistin. Besser, ich gab alles zu, so teuer konnte der Schaden doch nicht sein. Schuld an der Sache war Frau Steckenborn, die mit ihrer arglistig platzierten Tretmine mein Unglück erst ins Rollen gebracht hatte. Sie sollte sich noch wundern!

Neugierig geworden, was an Kosten auf mich zukommen konnte, suchte ich im Internet nach Angeboten für Zwergpudel. So ein Hund konnte doch nicht die Welt kosten. Nach ein paar Mausklicks kam ich in einer Kleinanzeigenseite auf die Rubrik Zwergpudel kaufen

Ich rieb mir die Augen, die Preise bewegten sich von sechshundert Euro an aufwärts. Einer Anzeige war ein Foto beigefügt: „Wir haben aus unserem letzten Wurf noch einen wunderschönen und aufgeschlossenen Zwergpudel Rüden ... Der Preis beträgt 1.200 Euro.“ Auf dem Foto war ein wolliges Etwas zu sehen. Es glich dem aufs Haar, das ich heute früh mit meinem Neunzehn-Zoll-Breitwandreifen plattgemacht hatte.

Ich bekam einen Schreck, als Torben Tüsselhover plötzlich wie aus dem Nichts neben meinem Schreibtisch auftauchte. Schneller, als ich die Internetseite schließen konnte, hatte mein ausgefuchster Kollege deren Inhalt bereits erfasst.

„Ein Zwergpudel!? Ach, wie süß! Haben Sie sich doch zu dem entschlossen, was ich Ihnen vorhin in der Sitzung geraten habe? Und soll es denn ein Zwergpudel sein?“ Seine Stimme war zuckersüß.

„Sie hätten anklopfen können, bevor Sie hier hereinplatzen, Herr Tüsselhover!“ Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopf stieg. Meine Augen huschten zwischen Tüsselhover und dem Mauszeiger, mit dem ich nach dem Datei schließen Symbol suchte, hin und her.

Tüsselhover grinste. „Aber ich hatte doch angeklopft, Herr Hintersinn. Doch Sie waren wohl so sehr in Ihre Suche nach dem Hundchen vertieft, dass Sie es nicht gehört haben.“

Indem er das sagte, drückte er mir ein Schriftstück in die Hand. „Deswegen bin ich überhaupt gekommen. Ich soll Ihnen das Dokument von Herrn Lange persönlich übergeben! Es gibt noch weitere Informationen zu Ihrem Syrien-Projekt, die hatte Herr Lange noch auftreiben können.“

So schnell, wie er hereingekommen war, stand Tüsselhover wieder an der Tür. Sein Blick fiel auf meine Schuhe, die dort abgestellt waren. Er grinste erneut. „Haben Sie es also auch gerochen, Herr Hintersinn! Na dann, viel Spaß mit Ihrem Hündchen!“

Ich blieb verdattert auf meinem Platz und starrte auf die Tür, durch die er gerade entschwunden war. Ausgerechnet in diesem Moment musste Torben Tüsselhover hier hereinplatzen! Ich war felsenfest davon überzeugt, dass er nie und nimmer angeklopft hatte.

Dann besah ich mir das Schriftstück. Es enthielt eine Aufstellung über die Einkäufe der Firma Erkalaat bei deutschen Pharmaunternehmen in der Zeit vor Beginn des syrischen Bürgerkrieges. Ich fragte mich, wie Axel Lange da herangekommen war, und vertiefte mich in die Liste der von den Syrern importierten Produkte. Es handelte sich um Arzneimittel und Chemikalien. In der Tabelle waren die bestellten Mengen und die Einkaufspreise aufgelistet. Die Namen der Exportfirmen waren geschwärzt. Vielleicht, weil die Firma Sündermann auch dazugehört hatte?

Dann ging ich akribisch die einzelnen Posten durch. Erkalaat hatte auffallend große Mengen an Isopropanol und Flusssäure bestellt. Einige Chemikalien waren nur durch Abkürzungen benannt. Manche davon waren mir geläufig, doch mit DMMP konnte ich nichts anfangen. Nach einer gezielten Suche hatte ich schnell die Antwort gefunden. DMMP war ein Akronym für Dimethylmethylphosphonat, ein Ausgangsstoff für die Synthese des Nervengiftes Sarin, wofür auch die Lösungsmittel Isopropanol und Flusssäure gebraucht wurden.

Mir kam zugute, dass ich mich an der Universität mit der Funktion der Erregungsleitung in den Nervenbahnen beschäftigt hatte. Bei der Übertragung an den Synapsen spielt ein Stoff namens Acetylcholin eine wichtige Rolle. Das Nervengift Sarin hemmt den Abbau von Acetylcholin und sorgt damit für eine Dauerregung der Nervenzellen, was zur Atemlähmung und schließlich zum Tod führt. Hatte Frank nicht auf seiner Facebook-Seite geschrieben, dass Assads Soldaten Nervengiftgranaten auf Zivilisten abgefeuert hatten? In diesem Moment hoffte ich inständig, dass Frank sich bald bei mir meldete.

Nach einer Weile fing mein Magen an zu knurren. Es war bereits kurz vor eins. Gewöhnlich ging ich eine halbe Stunde früher zum Mittagessen, doch ich war so vertieft gewesen, dass ich die Zeit vergessen hatte. Ich zog meinen Mantel an und schlüpfte mit einem Ekelgefühl in meine Schuhe. Dann lief ich hinunter ins Erdgeschoss, um in die Kantine zu gehen.

Frau Kamischke stand am Empfangsschalter und strahlte mich aus ihren großen blauen Augen an. „Ach, Herr Hintersinn! Das finde ich ja süß, dass Sie sich einen Zwergpudel anschaffen möchten. Männer mögen ja oft mehr etwas Robusteres, aber Sie werden bestimmt Ihre Freude an dem putzigen Kerlchen haben.“

Bei ihren Worten zuckte ich zusammen, hielt mich aber mit einer schroffen Antwort zurück. Frau Kamischke war immer nett zu mir gewesen. Sie konnte ja nichts dafür, dass Tüsselhover überall herumerzählte, was er in meinem Büro gerade aufgeschnappt hatte. Ich schenkte ihr ein gequältes Lächeln, da sie nicht aufhörte, von ihrem Yorkshireterrier zu erzählen. Kleine Hunde wären doch viel anhänglicher als die großen Exemplare. Ich nickte tapfer zu ihren Worten und krächzte etwas, das nach Zustimmung klang. Dann machte ich mich schnell auf den Weg in die Kantine.

Dort gab es wie an jedem Tag drei Hauptgerichte zur Wahl. Das Labskaus, das ich wohl genommen hätte, erinnerte mich in diesem Moment zu sehr daran, wie es im Inneren des plattgefahrenen Zwergpudels ausgesehen haben mochte. Vegetarischer Karotten-Zucchini Salat mit Räuchertofu wäre vielleicht Tüsselhovers Wahl gewesen und kam schon deswegen nicht für mich in Frage. Außerdem brauchte ich etwas Warmes im Bauch. Somit blieb nur noch das Schweineschnitzel mit Leipziger Allerlei und den Speisekartoffeln übrig.

Nachdem ich meinen Hunger gestillt hatte, holte mich die Müdigkeit aus der durchwachten Nacht wieder ein. Gerne hätte ich mich für eine halbe Stunde hingelegt. Doch in meiner Firma war das nicht möglich. In Erikas Behörde gab es einen Raum im Dachgeschoss, der keinem offiziellen Zweck mehr diente. Dorthin konnte man sich zurückziehen, ohne dass es auffiel. Erika hatte einmal erzählt, einige ihrer Kollegen würden sich dort regelmäßig aufhalten, um eine Auszeit zu nehmen. Ich war ziemlich sicher, dass Erika in dieser Wärmestube die intime Beziehung mit ihrem Arbeitskollegen aufgenommen hatte.

Ein Nickerchen am Schreibtisch konnte ich nicht riskieren. So blieb mir nichts weiter übrig, als meine Müdigkeit mit einem doppelten Espresso zu bekämpfen. Bevor ich zurück in mein Büro ging, schloss ich mich auf der Toilette ein. Eine Menge Wasser und eine Rolle Klopapier gingen drauf, bis ich meinen Schuh soweit sauber hatte, um ihn ohne Widerwillen anziehen zu können.

Aus der Nachbarkabine erklangen eindeutige Geräusche. Schweratmend war dort jemand zum Abschluss gekommen. Das Rauschen der Wasserspülung mischte sich mit dem Klingelton meines Handys. Es war eine Textmitteilung. „Ruf mich um 15:00 Uhr unter der Nummer 030 395 … an.“ Das war von Frank. Die Festnetznummer stammte vermutlich aus seinem Büro. Frank hatte mir nie seine private Handynummer geben wollen. Zu viele hätten die schon, hatte er gemeint und sich darüber beklagt, wie wenig Privatsphäre er hätte.

*

Am Schreibtisch fiel es mir schwer, mich gegen mein Ruhebedürfnis wieder in die Arbeit einzufinden. Die Luft war verbraucht, doch wegen der Klimaanlage sollte man die Fenster nicht öffnen. Angespannt blickte ich immer wieder auf die Uhr. Schließlich stellte ich mir den Wecker, um Frank pünktlich anzurufen.

Für die Kampagne zur Therapie der sexuellen Dysfunktion fehlte mir noch ein entsprechender Fachartikel. In der Firma kursierte eine Liste von Universitätsprofessoren, die bereit waren, solche Artikel gegen Honorar anzufertigen. Bevor ich jemanden anschrieb, musste ich mir aber über den Inhalt und die Zielgruppe Gedanken machen. Doch mir fiel nichts dazu ein. Nach ein paar Minuten legte ich die Unterlagen beiseite und starrte, ob meiner Entschlusslosigkeit, Löcher in die Luft.

Die Stille im Büro ließ die Zeit wie eingefroren erscheinen. Ich legte das Strategiepapier zur sexuellen Dysfunktion für heute endgültig in die Ablage. Es gab Wichtigeres zu tun. Bevor ich mit Frank sprach, musste ich mich über Syrien informieren. Ich wollte vor ihm nicht als ahnungsloser Trottel dastehen. Meine erste Suche galt der Firma Erkalaat. Ich wurde prompt auf eine Firmenseite mit einer Kontaktadresse in Aleppo geleitet. Erkalaat präsentierte sich als Hersteller von Arzneimitteln und Agrochemie mit internationalen Geschäftsbeziehungen. Dazu gehörten auch bekannte deutsche Pharmaunternehmen. Die Firma Sündermann & Lange war jedoch nicht darunter.

Ich gab die Suchbegriffe Sarin und Syrien ein und erhielt eine Menge Treffer. Die Kontrahenten im Bürgerkrieg beschuldigten sich gegenseitig, Nervengift gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen. Von den westlichen Staaten wurde nur die syrische Regierung dafür verantwortlich gemacht. Schließlich hatte das Regime schon vor dem Bürgerkrieg chemische Waffen hergestellt. Nach der Drohung mit militärischer Intervention hatte sich Assad bereit erklärt, UN-Waffeninspektionen zuzulassen und alle Vorräte an chemischen Kampfstoffen zu vernichten. Doch der Machtbereich Assads erstreckte sich nur noch auf ein Drittel des Landes. Der größere Teil wurde von verschiedenen Rebellengruppen gehalten, die keine UN-Inspektionen in ihrem Gebieten erlaubten.

Somit konnten sich irgendwo in Syrien noch immer Vorräte an Nervengift befinden, vermutlich in den Händen der Regierungsgegner. Schon aus diesem Grund musste der Regierung daran gelegen sein, sich neue Vorräte an chemischen Kampfstoffen zuzulegen. Aleppo als Sitz von Erkalaat lag an einem geographischen Schnittpunkt, der von drei verschiedenen Rebellengruppen und Assads Armee heftig umkämpft wurde.

Ich notierte mir die Namen und die politische Ausrichtung der Kriegsparteien. Es gab eine Vielzahl von Rebellengruppen, die mir im Einzelnen nichts sagten. Doch Frank sollte wissen, dass ich gut informiert war. Schließlich sollte er mein Anliegen ernstnehmen.

Ich war in meine Suche so sehr vertieft, dass der piepsende Wecker mich erschreckte. Vor mir lag der Zettel mit den Stichpunkten. Ich war froh, Frank gleich zu erwischen. Es war sechs Wochen her, seitdem wir miteinander gesprochen hatten. Damals hatte mich Frank angerufen. Er wollte etwas über die pharmakologische Wirkung von Methamphetamin wissen, bekannter unter dem Namen Crystal Meth. Er kannte die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten nicht, welche die Psychosen auslösende Eigenschaft von Crystal Meth extrem verstärkten. Als ich ihn fragte, warum ihn das so interessierte, erzählte er etwas von Drogenproblemen im Neuköllner Kiez.

Ich meinte damit etwas bei ihm gut zu haben und hielt mich daher auch nicht lange mit Vorreden auf. Beim Erzählen war mir, als hätte ich mich schon seit Wochen mit der Syrienconnection herumgeschlagen. Frank unterbrach mich nicht. Oft langweilte es ihn, wenn ich etwas ausführlicher erzählte. Er hängte sich dann an einem Reizwort auf und glitt ab in längere Monologe über meinen Lebensstil oder die Gesellschaft im Allgemeinen.

Während ich meinen Verdacht äußerte, bei Erkalaat hätten sie schon früher das Nervengift Sarin produziert, blätterte ich in der blauen Mappe. Jede Seite trug den Schriftzug streng vertraulich. Sie würden mich fristlos entlassen, wenn sie erführen, dass ich darüber mit Dritten, noch dazu mit einem Funktionär einer politischen Partei gesprochen hatte. Als ich ihn darauf hinwies, erwiderte Frank, er sei verschwiegen. Aber es ginge hier schließlich um eine größere Sache, als nur um meine berufliche Position. In diesem Moment bereute ich es, mich ihm quasi ausgeliefert zu haben.

„Für mich hängt meine Existenz davon ab, Frank!“

Meine Bitte um Verständnis fasste Frank mehr als den Hilferuf eines politisch Unbedarften auf. „Eine Sache ist dir doch wohl klar, Herbert? Das kannst du nicht allein bewältigen! Wie du es darstellst, sollst du als Verantwortlicher für deine Firma mit dem verbrecherischen Assad-Regime in Geschäftsverhandlungen treten. Sie schicken dich vor, und sollte etwas davon nach außen dringen oder sogar schieflaufen, dann bist du der Sündenbock! Weigerst du dich aber, den Auftrag anzunehmen, dann ist das ein Vorwand für sie, dich loszuwerden. Ist es nicht so?“

„Weiß ich nicht“, stieß ich gequält hervor.

„Weißt du wohl! Wenn dein geschätzter Kollege Tüsselhover für die Geschäfte mit dem Iran die Hilfe von eurem iranischen Kollegen bekommt, dann könntest du doch zumindest das Gleiche verlangen.“

„Du meinst, ich soll Herrn Lange sagen, dass Dr. Foorozan mir auch helfen soll?“ Das war auch schon meine Idee gewesen. Allerdings wäre ich mit dieser Bitte lieber zu Thomas Sündermann gegangen.

Frank stöhnte auf. „Sei doch nicht so naiv, Herbert! Doch nicht einer aus deiner Firma! Du brauchst jemand, der unabhängig ist. Jemand, der sich mit der Situation um die pharmazeutische Industrie in Syrien gut auskennt und außerdem fließend Arabisch spricht.“

„Meinst du?“

„Das meine ich nicht nur, das ist absolut notwendig! Herbert, es ist doch klar, dass das Regime über deine Firma versuchen wird, wieder an Chemiewaffen heranzukommen. Als Einzelperson bist du denen ausgeliefert. Dir muss jemand zur Seite stehen, der da besser Bescheid weiß. Wenn du mit deiner Aktivität dem Assad-Regime hilfst, Chemiewaffen herzustellen, stehst du als derjenige da, der diesen Mördern geholfen hat. Auch wenn du es nicht gewollt hast! Wenn das herauskommt, werden eine Menge Leute deinen Kopf fordern. Und glaube bloß nicht, dass deine Firma dann für dich in die Bresche springt. Das kannst du vergessen. Die wollen Geschäfte machen und es ist ihnen doch schnurzegal, wie und womit. Das ist wie mit den Waffenexporten nach Saudi-Arabien …“

Ich unterbrach ihn. Mit ihm war es so wie mit Harry. Frank kam vom Hölzchen aufs Stöckchen, und ich hatte keinen zusätzlichen Bedarf nach Lektionen in Weltpolitik.

„Schon klar, Frank. Aber weder Axel Lange noch Thomas Sündermann haben mir personelle Unterstützung angeboten.“

„Deswegen überlege ich ja gerade, Herbert. Wie du weißt, sind wir in unserer Partei sehr in der Flüchtlingsfrage engagiert. Unter dem Stichwort refugees welcome läuft eine ganze Menge! Lass mir ein bisschen Zeit, und wir finden jemanden über die Flüchtlingshilfe, der dir da kompetent zur Seite stehen kann. Die meisten der syrischen Geflüchteten sind Fachkräfte und sehr gebildet. Ich bin absolut sicher, wir finden die richtige Person für dich.“

„Aber wie soll ich das meinen beiden Chefs verklickern? Das ganze Projekt ist streng vertraulich. Ich darf nicht einmal etwas darüber verlauten lassen, dass ich mit dir über die Sache gesprochen habe.“

„Sollst du auch nicht! Lass deine Chefs bloß außen vor. Es ergibt sich schon ein Weg. Lass mich erst einmal jemand Geeignetes für dich finden.“

Frank hatte es plötzlich eilig, das Gespräch zu beenden. „Ich habe gleich eine wichtige Besprechung, Herbert. Ich melde mich bei dir, sobald ich etwas Neues weiß. Machs gut und bis dann!“

Das Freizeichen ertönte. Ich blickte auf meinen Computerbildschirm und sah das Ergebnis meiner letzten Suche. Eine Landkarte Syriens, die wie ein Flickenteppich in den verschiedenen Farben der Kriegsparteien unterteilt war. Nach Franks Worten konnte es nicht schwer sein, eine kompetente Person unter den Flüchtlingen zu finden. Er hatte sie Geflüchtete genannt, das hörte man jetzt oft. Bei der Vorstellung, ob man Lehrlinge nun auch Gelehrte, und Prüflinge auch Geprüfte nennen sollte, musste ich lachen. In den Medien sprach man inzwischen von Zuwanderern. Der Begriff Flüchtling war dem politisch korrekten Sprachgebrauch nicht mehr ganz angemessen. Es war jedoch besser, nicht über so etwas zu reden. Worte wurden immer häufiger auf die Goldwaage gelegt. Sprache war verräterisch. Wie schnell konnte man mit der falschen Wortwahl einer politisch nicht korrekten Strömung zugeordnet werden!

Ich setzte meine Suche fort. Mit den Stichworten Syrien und Fachkräfte kam ich auf die Seite des Münchener IFO-Instituts für Wirtschaftsforschung. Dort hieß es, fünfzig Prozent der syrischen Flüchtlinge hätten keine grundlegende Bildung und sechszehn Prozent wären sogar Analphabeten. Das widersprach dem, was man aus der Presse und dem Rundfunk entnahm. Da war die Rede von Fachkräften, die in großer Menge nach Deutschland strömten.

Aber wie es auch immer war, mit einem hatte Frank recht. Ich konnte mich nicht auf Leute verlassen, die mir von meiner Firma oder von Erkalaat zur Seite gestellt wurden. Das konnten nach Maßgabe aller Dinge nur Assadanhänger sein. Es war besser zu warten, bis Frank sich mit neuen Vorschlägen wieder bei mir meldete.

Mit dem Gefühl, in Frank einen starken Verbündeten an meiner Seite zu wissen, machte ich mich wieder an die Werbekampagne zur Therapie der sexuellen Dysfunktion. Meine Energie war zurück und die Zeit verging wie im Flug. Ich machte mich auf den Weg, um rechtzeitig bei der Polizistin auf dem Revier zu erscheinen. Herrn Griese von meiner Bank hatte ich immer noch nicht erreicht.

Bevor ich losfuhr, besah ich noch einmal genauestens mein Auto. Sicherheitshalber wischte ich den rechten Vorderreifen mit einem Lappen ab, der mit einem Desinfektionsmittel getränkt war. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht war das Gerede der Polizistin auch nur ein Bluff. Vielleicht konnte ich es bei ihr kurzmachen, um noch rechtzeitig bei Herrn Griese meinen Bausparvertrag zu kündigen.

Im Auto schaltete ich das Radio ein. Die Nachrichten waren gerade vorbei. Es folgte ein Interview mit der Bürgermeisterin von Tempelhof. Dabei ging es um die Unterbringung von siebentausend Flüchtlingen auf dem Gelände des Tempelhofer Feldes, dem ehemaligen Berliner Stadtflughafen. Ich drehte den Ton lauter und fädelte mich in den Verkehr auf der Hildburghauser Straße ein.

Den Einwand des Reporters, bei so einer großen Anzahl von Menschen könnte es doch zu einer Ghettobildung kommen, mit all den unangenehmen Begleiterscheinungen, ließ die Bürgermeisterin nicht gelten: „Den Leuten dort darf nicht langweilig sein. Sie müssen wissen, was ihnen die Zukunft bringt und sich gut betreut fühlen. Sonst geht’s nicht!“

Ich überlegte, wie man siebentausend Flüchtlinge so bespaßen konnte, dass sie sich nicht langweilten. Dabei malte ich mir aus, dass Axel Lange und Torben Tüsselhover dazu verdonnert wären. Die Vorstellung, wie die beiden auf einer Bühne standen und die Flüchtlinge amüsieren sollten, brachte mich zum Lachen. Zum Schluss wies der Journalist auf Bedenken in der Nachbarschaft des Flughafens hin. „Das wird der Bezirk aushalten“, gab die Bürgermeisterin von sich.

Vor zwei Jahren hatte es einen Volksentscheid zum stillgelegten Flughafen Tempelhof gegeben. Demnach durfte das Flughafengelände nicht bebaut werden. Auch Franks Partei hatte sich dafür eingesetzt. Doch jetzt schien alles, was damals abgestimmt wurde, nur noch Makulatur zu sein.

„Regieren nach Gutsherrenart“, hatte Harry einmal über solche Entscheide gelästert. Mit einem solchen Demokratieverständnis sei Deutschland über den Feudalismus der vergangenen Jahrhunderte nicht weit hinausgekommen. Der einzige Unterschied sei, dass politische Macht früher über eine adlige Geburt, und heute über Geld und Beziehungen vererbt wurde.

*

In dem roten, einstöckigen Backsteingebäude des Polizeiabschnitts 47 traf ich auf die Frau, deren blauen Nissan ich heute früh beim Überholen geschnitten hatte. Polizeihauptmeisterin Gördeler trug eine dunkle Uniform. Sie wirkte auf mich viel Respekt einflößender als noch vor ein paar Stunden. Da hatte ich sie noch als unbedarfte Hausfrau in einem untermotorisierten Kleinwagen eingestuft. Ich versuchte erst gar nicht, meine Schuld an dem Unfall zu bestreiten. Eine Viertelstunde später konnte ich bereits das Vernehmungsprotokoll unterschreiben.

Mein Auto wollte die Polizistin nicht mehr besichtigen, doch was sie mir zu sagen hatte, klang nicht gut. Ich hätte mindestens mit einem Bußgeldbescheid zu rechnen, wahrscheinlich sogar mit einem Gerichtsverfahren. Sie riet mir, mich mit der Besitzerin des Kleinpudels, einer 85-jährigen Dame, außergerichtlich zu einigen. Möglich, dass die Geschädigte ihre Klage auf Schadenersatz gegen eine Entschädigung zurückzog. Meinen Einwand, der Hund wäre nicht angeleint gewesen, tat Frau Gördeler ab. Es ginge hierbei um Fahrerflucht, und die wäre in meinem Fall eindeutig erwiesen.

Als ich das rote Backsteingebäude verließ, war ich froh, meinen Führerschein noch in der Tasche zu haben. Ich rief bei der Bank an, der 18:00 Uhr Termin war nicht mehr zu halten. Herr Griese bedauerte das. Mit Ablauf des heutigen Tages verlängerte sich die Frist für die Kündigung des Bausparvertrages um ein weiteres Vierteljahr. Mir fehlte in diesem Moment die Kraft, dagegen zu protestieren. Den heutigen Tag konnte ich als ein einziges finanzielles Fiasko abschreiben.

Ich musste noch einkaufen gehen und ließ mein Navigationssystem den nächstgelegenen Supermarkt suchen. Das Gerät lotste mich in Richtung der Gropiusstadt, die am Horizont als Muster von weißen Betonrechtecken sichtbar war. Ich kannte diesen Teil Berlins kaum. Die weißen Hochhäuser, deren Fassaden regelmäßig von schwarzen Fensteröffnungen durchbrochen waren, stammten aus den 1970er Jahren. Man hatte damals befürchtet, der Wohnraum könnte in dem eingemauerten Westberlin knapp werden. Nun war die Mauer seit fünfundzwanzig Jahren gefallen und bezahlbarer Wohnraum blieb weiterhin Mangelware.

Meine Fahrt endete auf dem Parkplatz vor einem großen Einkaufszentrum. Ein weiß gekachelter Flachbau, dessen Fassade mit schwarzen Tags besprüht war. Bevor ich ausstieg, versuchte ich aus den Tags etwas zu entziffern. Nachdem mir das nicht gelang, holte ich meine Einkaufsliste heraus. Der Wind war inzwischen abgeflaut, doch der Regen, der am Vormittag nur spärlich gefallen war, war stärker geworden. Von meinem Auto aus beobachtete ich ein paar Jugendliche, die sich unter der Überdachung des Supermarktes am Inhalt einiger Bierbüchsen verlustierten.

Schließlich stieg ich aus und lief über den aufgesprungenen Asphalt zu einem Abstellplatz, wo sich Einkaufswagen befanden. Dort stand jemand und wurde auf mich aufmerksam, als ich näher kam. Kaum älter als die Jugendlichen, hielt er anstelle einer Bierbüchse eine Obdachlosenzeitung vor sich. Trotzdem sah er mir zu gepflegt aus, um nur auf der Straße zu leben. Als ich näher kam, schob er sich in mein Blickfeld und machte mit einem langgezogenen Helloo auf sich aufmerksam. Ich drückte ihm das erste Stück Kleingeld aus meiner Hosentasche in die Hand. Eigentlich tat ich das nur, um von meinem schlechten Gewissen nicht weiter behelligt zu werden.

Wie schon der Einkaufswagen, so war auch das Innere des Supermarktes von größerem Ausmaß, als ich es von meinem Stammdiscounter gewohnt war. Inmitten der Regalreihen überlegte ich, wo man hier vegetarischen Brotaufstrich finden konnte. Aus Lautsprechern in der Decke ertönte unterschwellige Musik, die von Zeit zu Zeit durch laute Werbeansagen unterbrochen wurde. Ich schob den Wagen, in dem meine Einkäufe wie verlorene Reste wirkten, gemächlich an den Regalen vorbei. Das Gedudel machte es mir schwer, mich auf meine Liste und die Auslagen in den Regalen zu konzentrieren. Das, was ich suchte, war über verschiedene Gänge verteilt. So blieb mir nichts anderes übrig, als systematisch alle Regalreihen abzulaufen.

Ein paarmal ertappte ich mich dabei, dass ich nach etwas griff, was nicht auf meiner Liste stand. Dabei kam mir eine Diskussion mit Harry wieder in den Sinn. Sie lag ein paar Jahre zurück. Harry hatte damals von seinem Seminar in Marktpsychologie erzählt: „Du glaubst nicht, welche ausgefeilten Manipulationsmechanismen sich hinter einem scheinbar harmlosen Supermarkt verbergen. Alles dient dem Zweck, dich zu beeinflussen. Die Musik dort ist keineswegs zufällig ausgewählt. Es ist eine funktionelle Musik, Muzak genannt, die auf dein Unterbewusstsein einwirkt, dein Kaufverhalten unbewusst steuert und dich darauf einstimmt, dieses Geschäft beim nächsten Einkauf erneut aufzusuchen!“

Ich fand das übertrieben, wie so manches, was Harry von sich gab. Da war zwar oft etwas Wahres dran, aber musste es denn gleich wie eine Weltverschwörung aussehen?

„Als so schlimm, wie du es darstellst, empfinde ich das nicht“, sagte ich.

„Weil du dich längst an derartige Einflüsse gewöhnt hast! Man stiehlt dir damit nicht nur deine Zeit, sondern auch deine Freiheit. Erwiesenermaßen hält man sich viel länger in solch beschallten Geschäften auf, als es für den Einkauf erforderlich ist. Dazu kommt noch die Flut des Überangebots. Warum gibt es zum Beispiel zwanzig Sorten Kaffeeweißer?“

„Ich weiß es nicht, Harry. Aber wenn du die Wahl zwischen vielen Sorten hast, findest du doch eher, was genau auf deine Bedürfnisse zugeschnitten ist.“

„Quatsch. Das ist doch eine Scheinwahl. Du stehst vor dem Regal, überlegst und vergeudest deine Zeit. Die meisten Produkte unterscheiden sich doch inhaltlich so gut wie gar nicht voneinander, nur in der Verpackung. Am Ende kommst du mit vielen unsinnigen Einkäufen nach Hause, was du spätestens dort bereust. Der ganze Angriff auf unsere Sinne soll uns verwirren. Wir werden unaufmerksam und damit zum gewünschten Kaufverhalten beeinflusst.“

„Ja, soll ich nun mit Watte in den Ohren und einer geschwärzten Brille einkaufen gehen?“ In meiner Vorstellung sah ich mich blind und taub durch den Supermarkt tappen.

Harry lachte. „Warum nicht, wenn das irgendwie ginge? Aber richtig hilft nur eines, deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit für das, was du gerade tust, auch wenn es so etwas Banales wie einkaufen ist. Du musst dir die Zeit nehmen, zu überlegen, was du wirklich brauchst. Spontankäufe belasten zuerst deinen Geldbeutel und danach dein Gewissen. Meistens geschieht das aus Frust und der Sehnsucht nach etwas anderem, das man sich nicht kaufen kann.“

Ich wirkte wohl etwas niedergeschlagen, denn Harry klopfte mir tröstend auf die Schulter: „Ja, so ist das eben, Herbert. Das sind die seelischen Betäubungen der Warenwelt!“

An diesen Satz hatte ich noch manches Mal denken müssen.

Die wahre Welt und die Warenwelt!

Wie oft hatte ich mir aus plötzlichem Heißhunger Süßigkeiten gekauft, sie gierig verzehrt, um nachher enttäuscht festzustellen, dass ich mir damit nur den Magen verdorben und meinen Hüftumfang erweitert hatte. Doch meine Gefühle, die sich nach Liebe und Zuneigung sehnten, gingen dabei jedes Mal leer aus.

Mit diesen Gedanken im Kopf lief ich die langen Gänge zwischen den Regalen entlang. Es stimmte schon, was mir wirklich fehlte, konnte ich nicht im Supermarkt kaufen. Ich würde auch diesen Abend, wie viele andere zuvor, wieder allein verbringen. In meiner melancholischen Stimmung reihte ich mich in die Schlange vor einer der Kassen ein.

Vor mir stand eine Frau. Sie war mit einem braunen, formlosen Mantel bekleidet. Er war ihr mindestens eine Nummer zu groß. Ihre Haare waren unter einem schwarzen, enganliegenden Tuch verborgen. Vor ihr warteten noch zwei weitere Kunden; ein grauhaariger Mann, dessen Einkäufe die Kassiererin gerade über den Scanner zog, und ein junges Mädchen. Sie trug enge Jeans und einem weiten Kapuzenpullover, über den ihre braunen Haare locker nach hinten fielen.

Seit meiner Scheidung musste ich mich zwangsläufig selbst um meine Einkäufe kümmern. Am Anfang hatte ich das nicht gemocht, denn es kostete Zeit. Doch nun fand ich mehr Gefallen daran und verstand, warum Erika in unserer Ehe gerne diese Aufgabe übernommen hatte. Beim Warten an der Kasse registrierte ich, was die Leute so eingekauft hatten. Ich zog daraus Rückschlüsse über deren Einstellung zu einer gesunden Ernährung.

Vieles, was auf den Bändern an mir vorbeizuckelte, war nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ungesund. Es unterschied sich auch nicht sehr vom Discounter bei mir um die Ecke. Die meisten Menschen konsumierten zu viel Fett, zu viel Zucker und zu viel Alkohol. Kein Wunder, dass der Umsatz an Statinen und Betablockern boomte. Thomas Sündermann und Axel Lange konnten sich die Hände reiben, denn die Menschen waren bequem. Viele nahmen lieber Pillen und jammerten ständig über ihre angeschlagene Gesundheit, anstatt ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern.

Die Frau vor mir machte dabei eine Ausnahme. Sie hatte weder Alkohol noch fetten Aufschnitt aufs Band gelegt. Ihr Einkauf bestand aus ein paar Soft Drinks, frischem Gemüse, magerem Fleisch und ein paar Büchsen mit orientalischen Lebensmitteln, die mir nichts sagten. Der grauhaarige Alte packte seine Waren bedächtig ein, bevor er seinen Geldbeutel herausholte und die Münzen einzeln auf den Kassentisch abzählte.

Die Kassiererin nutzte die Auszeit. Sie gähnte ausgiebig mit offenem Mund, als wäre sie mit sich allein. Ich ließ mich von ihrer Müdigkeit anstecken, die verbrauchte Luft und das monotone Gedudel taten ihr Übriges. Für eine Weile musste ich in eine Art Sekundenschlaf gefallen sein. Als ich meinen Blick wieder hob, waren der ältere Mann und das Jeans-Mädchen verschwunden. Die verhüllte Frau vor mir war gerade am Bezahlen. Das Band mit meinen Einkäufen rückte vor bis zur Kasse.

Als die Frau vor mir das Wechselgeld in Empfang nahm, sah ich in ihr Gesicht.

„Erika!?“

Ihr Name entfuhr mir mehr aus Schreck. Die Ähnlichkeit mit meiner Exfrau war überwältigend. Sie sah mich an. Ihre Miene blieb ausdruckslos, doch ihre Augen weiteten sich. Sie hatte mich erkannt und schien zu überlegen, wie sie sich verhalten sollte.

„Herbert?“, fragte sie schließlich.

Der Augenblick der Überraschung war vorbei. Sie hatte sich gefangen, nahm das Wechselgeld in Empfang und packte die restlichen Artikel in ihre Stofftasche.

„Was machst du denn hier in der Gegend?“

„Ich … äh.“

Wir standen uns gegenüber, und mein Blick fiel auf die deutliche Wölbung ihres Bauches. Es gab keinen Zweifel, Erika war schwanger.

„Ich hätte dich in deiner Kleidung so gar nicht erkannt, aber dein Gesicht …“

Sie sagte nichts und lächelte, als hätte sie das schon zum hundertsten Mal gehört.

„Du bist schwanger?!“ Ich stellte es mehr fest, als danach zu fragen.

Erika nickte.

„Neunzehn Euro fünfundzwanzig!“

Die Kassiererin streckte ihre Hand nach dem Zwanzigeuroschein aus, den ich ihr hinhielt, ohne Erika, die sich zum Gehen anschickte, aus dem Blick zu lassen.

Ich packte meine Einkäufe rasch in den Jutebeutel und nahm das Wechselgeld in Empfang. Erika war zum Ausgang vorgelaufen, doch bevor sie das Geschäft verlassen konnte, hatte ich sie eingeholt.

„Wir haben uns zwei Jahre nicht gesehen, Erika. Ich habe wohl einiges verpasst?!“

Erneut standen wir uns gegenüber. Sie hielt die Hände wie zum Schutz vor ihrem Bauch. Ich hatte meine Arme ausgebreitet, als wollte ich sie in ihrer vollkommenen Veränderung erfassen.

Sie nickte und zeigte ein kurzes Lächeln, bevor sie mich erneut mit einem Gesichtsausdruck ansah, als wäre ich ein völlig Fremder. Erika hatte sich so sehr verändert, dass ich Zweifel bekam, ob sie es wirklich war. Ihre Mimik, ihre Stimme hatte keine Spur mehr von der Überlegenheit, die sie mir gegenüber immer gerne ins Spiel gebracht hatte.

„Lebst du noch mit deinem Arbeitskollegen zusammen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin seit einem Jahr wieder verheiratet, aber nicht mit ihm, sondern mit meinem Mann Tarek Almoudi.“

„Wie?“

„Herbert, ich kann hier nicht einfach mit einem fremden Mann stehen und mich mit ihm unterhalten. Das gehört sich nicht.“

„Fremder Mann? Immerhin waren wir dreizehn Jahre verheiratet. Aber bist du denn jetzt zum Islam übergetreten?“

„Ich bin eine Muslima und kleide und verhalte mich, wie es sich für eine Frau geziemt. Mein früheres Ich und die Zeit davor sind tot und begraben, Herbert. Und so soll es auch bleiben.“

„Aber du wolltest in der ganzen Zeit, als wir verheiratet waren, nie Kinder haben!“

Ich zeigte empört auf ihren Bauch.

„Und du etwa? Ich wusste damals noch nicht, was die wahre Bestimmung einer Frau ist. Du hast es mir jedenfalls nie gezeigt, als wir verheiratet waren.“

Sie wandte sich ab. „Ich muss jetzt wirklich gehen!“

„Und was sagen deine Kollegen dazu?“, rief ich ihr hinterher.

„Ich habe mit meiner Heirat aufgehört zu arbeiten. Das entspricht nicht der natürlichen Bestimmung einer Frau.“

In ihrem bodenlangen Mantel schien sie wie auf Kufen durch die Schiebetür zu gleiten, die sich hinter ihr schloss.

„Erika …?“

Nicht einmal umgedreht hatte sie sich. Ich stand mit meinen Einkäufen in der Hand einem plötzlich hereinflutenden Strom von Kunden gegenüber. Auf dem Weg zum Ausgang wurde ich zweimal unsanft angerempelt. Draußen sah ich Erika auf einem der gepflasterten Wege, die zu den Hochhäusern führten. Ich wollte ihr nicht nachlaufen, blickte ihr noch hinterher, bis sie um eine Biegung verschwunden war. Der Regen hatte aufgehört. Ich blickte in den wolkenverhangenen Himmel, der sich über die Silhouetten der Hochhäuser erstreckte, die wie weiße Bauklötze auf einer Wiese standen. Erika musste mit ihrem Mann in einem dieser Häuser wohnen.

Unsere Begegnung hatte vielleicht drei Minuten gedauert, doch mir war, als wäre eine Welt in mir zerbrochen. Eine Welt, die nur in meiner Vorstellung existiert hatte. Erika, die sich immer so progressiv gegeben hatte, war in die Rolle eines untertänigen Weibchens geschlüpft, das seinem Mann Kinder gebar.

„Sie hat mich die ganze Zeit über zum Narren gehalten!“ So betrogen wie jetzt hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Das letzte Mal war es gewesen, als sie mir von der Affäre mit ihrem Arbeitskollegen erzählt hatte.

Ein Dachdecker, der gerade an mir vorbeiging, hatte meine Worte gehört. Er blieb stehen und betrachtete mich mit einem mitleidigen Blick: „Woruff du dich bei die Weiba verlassen kannst!

Ich starrte ihm mit offenem Mund nach, wie er im Wiegeschritt weiterging, die Hände in die Taschen seiner schwarzen Zimmermannsweste gestützt. An seinem Gürtel baumelte ein schwerer Hammer wie ein Revolver bei einem Westernheld. Ich beneidete ihn um die Gelassenheit, mit der er die Dinge des Lebens sah.

Wahrscheinlich heißt sie auch nicht mehr Erika, sondern Fatma oder wie sonst auch immer, grübelte ich. Vielleicht hatte sie ihren Mann - sein Name war mir bereits wieder entfallen - bei einer ihrer Bauchtanzvorführungen kennengelernt. Der hatte sie dann ruckzuck, zu dem Heimchen umgekrempelt, das sie nun war. Zumindest wusste ich nun, dass Erika nicht mehr im BIFI arbeitete. Meine Sorge, jemand aus der Firma könnte sie dort treffen und von ihr erfahren, dass wir seit zwei Jahren geschieden waren, hatte sich damit erübrigt.

Der Zeitungsverkäufer stand immer noch am gleichen Platz. Er telefonierte und blieb dennoch im ständigen Blickkontakt mit den Kunden, die sich an den Einkaufswagen zu schaffen machten. Sein Lächeln, das so echt war, wie der Pelzmantel der Frau, die gerade eines dieser sperrigen Gefährte losmachte, setzte er auch bei mir wieder neu auf. Wenn er mich anspricht, bekomme ich einen Schreikrampf, dachte ich. So aufgewühlt war ich noch von der Begegnung mit Erika. Ich zerrte das Pfandgeld aus dem Schlitz und lief dann rasch zurück zu meinem Auto.

Auf dem Heimweg schwankte meine Stimmung zwischen Enttäuschung und Zorn. Schon unten an der Haustür hörte ich die Hunde von Gerlinde Steckenborn. Sie stand dafür, dass mein heutiger Tag sich zu einer Katastrophe entwickelt hatte. Auch sie sollte einmal erleben, wenn man es vor Gestank in der eigenen Wohnung nicht mehr aushielt. Butanthiol, das Sekret aus der Analdrüse des Stinktieres, würde selbst diese Person verzweifelt auf die Straße treiben. Mir entfuhr ein grimmiges Lachen, während ich zwei Stufen auf einmal nahm, um schnell in meine Wohnung zu gelangen.

Beim Verstauen meiner Einkäufe dachte ich immer noch an die Zufallsbegegnung mit Erika. Ich verstand immer noch nicht, wie sie sich so verändert haben konnte und suchte bei Facebook nach ihrem Namen. Doch es gab niemanden, der dazu passte. Wie hatte ich mich in ihr über so viele Jahre täuschen können? Warum hatte sie ihre politischen Ansprüche für ein Frauenbild getauscht, für das sie früher nur Verachtung oder höchstens Mitleid empfunden hätte?

Am meisten hatte mich ihr Vorwurf getroffen, ich hätte ihr nie gezeigt, was die wahre Bestimmung einer Frau sei. Was sollte das!? Sie hatte sich immer dagegen gewehrt, wenn ich ihr meine Ratschläge geben wollte. Ihr Bild, mit dem eng geschlossenen Kopftuch und der offen gezeigten Schwangerschaft, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wer von unseren früheren Bekannten konnte am ehesten wissen, was in Erika seit unserer Scheidung vorgegangen war? Ich holte mein altes Adressbuch aus dem Schreibtisch und ging die Namen von früheren Freunden durch. Menschen, die längst aus meinem Leben entschwunden waren. Dabei stieß ich auf Giovanna. Sie war damals eine von Erikas engsten Freundinnen gewesen.

Giovanna und ihr Mann Rico führten das Sardegna, ein italienisches Restaurant in der Nähe des Botanischen Gartens. Die beiden mussten jetzt so um die fünfzig sein. Sie hatten drei Kinder, von denen damals noch zwei zur Schule gingen. Ihr ältester Sohn Ernesto wollte gerade mit dem Studium beginnen. Früher hatten wir uns einmal im Monat mit Giovanna und Rico im Sardegna getroffen. Ich erinnerte mich noch gut an diese Abende, an denen wir über alles Mögliche sprachen und die beiden uns von der Schönheit Sardiniens vorgeschwärmt hatten. In den großen Ferien schlossen sie das Restaurant und verbrachten sechs Wochen in ihrer Heimat. Erika und ich hatten vorgehabt, die beiden dort einmal zu besuchen. Doch unsere Scheidung hatte diesem, wie auch unseren anderen Plänen, einen endgültigen Riegel vorgeschoben.

Nach der Trennung von Erika war ich nicht mehr im Sardegna gewesen. Wie vieles gehörten auch die Abende mit Giovanna und Rico zu meinem früheren Leben. Giovanna war eine von Erikas besten Freundinnen und ich glaubte, nach der Scheidung wäre ich dort weniger willkommen. Nach einigem Suchen fand ich die Visitenkarte des Restaurants in meiner Schreibtischschublade.

Ristorante Sardegna“, Giovannas melodische Stimme war immer noch gleich schön. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. „Giovanna? Hier ist Herbert. Der Herbert von Erika! Ist schon eine Weile her, erinnerst du dich?“

Auch ihr hatte es zuerst die Sprache verschlagen, doch dann sprudelte es aus ihr heraus. „Ja! Natürlich! Eriberto! Natürlich erinnere ich mich. Was für eine Überraschung! Wieso hast du dich so lange nicht mehr bei uns sehen lassen? Bist du aus Berlin weggezogen? Erzähl doch mal, wie geht es dir?“

Giovanna war genauso unbefangen und neugierig, wie sie es schon früher gewesen war. Auf mein Gestammel, ich wolle sie nicht von der Arbeit abhalten, fragte sie nur: „Sag mal, hast du schon zu Abend gegessen? Ich hoffe noch nicht! Hör mal, komm einfach vorbei. Unter der Woche ist nicht so viel los. Wir können ein bisschen über alte Zeiten plaudern, d’accordo?“

*

Seit über zwei Jahren betrat ich wieder das Sardegna. Giovanna hatte mich schon durch die Tür erspäht, bevor ich sie öffnen konnte. Sie umarmte mich wie einen alten Freund. „Herbert! So schön, dass du gekommen bist!“

Rico vieni!“, rief sie nach hinten in die Küche. Ihr Mann Rico erschien, mit seiner Kochmütze und der umgebundenen Schürze lachte er über das ganze Gesicht und breitete seine Arme aus: „Ciao Herbert! Alter Freund. Was für eine Überraschung!“

Er zeigte auf einen runden Tisch in der Nähe. „Nimm doch dort Platz! Ich bringe dir erst einmal einen Aperitif.“

Giovanna holte die Speisekarte und ich sah mich derweil im Sardegna um. Vier Tische waren besetzt. In der Nische, wo wir Ehepaare immer zusammengesessen hatten, saßen gerade vier Frauen. Sie machten den Eindruck, als wären sie geschäftlich verabredet. Das Sardegna hatte sich in den zwei Jahren kaum verändert. Hier und dort war wohl etwas renoviert worden, aber die große Längswand schmückte immer noch das mit A. Lorenzo signierte Gemälde einer Meeresbucht mit weißen Häusern und Segelbooten. Ich hatte den Namen des Ortes auf Sardinien, aus dem Giovanna und Rico stammten, vergessen.

Zu meiner Freude hatten sie neue Stühle angeschafft. Sie waren bequemer, als die alten, mit der für meinen Geschmack viel zu steilen Rückenlehne. „Sehr gemütlich bei euch!“ Ich räkelte mich behaglich auf dem Stuhl, als Rico mit drei gefüllten Gläsern zurückkam.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Va bene! Wir werden älter und unsere Stammkunden auch.“ Er zwinkerte mir zu und hob sein Glas: „Salute.

Giovanna kam mit der Speisekarte zurück, gab sie mir jedoch nicht, sondern machte gleich einen Vorschlag. „Als Vorspeise empfehle ich die Fettuccine mit Auberginen und Tomaten und als Hauptgericht vielleicht Ossibucchi di Sardegna?“

Ich wäre mit allem einverstanden gewesen, so überrascht war ich über den herzlichen Empfang. Wir stießen auf unser Wiedersehen an.

„Laura!“, rief Giovanna. Ein junges Mädchen mit dunklen Haaren und ebenso dunklen, großen Augen kam an den Tisch. Sie nahm die Bestellung auf, die ihr Giovanna in Windeseile diktierte.

„Laura ist die Tochter eines Freundes aus Olbia. Seit Anfang Oktober ist sie für drei Monate bei uns. Sie will in dieser Zeit ihre Deutschkenntnisse verbessern.“

„Sie wohnt bei uns, sonst hätten ihre Eltern sie nie alleine nach Berlin gelassen“, flüsterte mir Giovanna zu, als Laura mit der Bestellung in die Küche gegangen war.

„Sag mal Herbert, wie geht es Erika?“ Rico hatte inzwischen eine Flasche Wein geholt und sah mich erwartungsvoll an.

„Tja, das wollte ich eigentlich euch fragen.“ Ich bekam einen Kloß im Hals. „Seit der Scheidung habe ich nichts mehr von Erika gehört!“

Giovanna zuckte mit den Achseln. „Das letzte Mal, wo ich sie gesehen habe, ist bestimmt über ein Jahr her.“ Die Enttäuschung darüber klang immer noch aus ihren Worten heraus. „Vorher haben wir uns etwa alle drei Wochen gesehen. Erikas Facebook Konto existiert nicht mehr, und unter ihrer Handynummer ist sie schon lange nicht mehr zu erreichen. Ich hoffe, ihr ist nichts passiert. Ich hatte gehofft, du wüsstest vielleicht etwas Neues von ihr.“

„Na ja, wie man‘s nimmt!“ Ich trank meinen Aperitif und erzählte von meiner heutigen Begegnung mit Erika und von ihrer Wandlung.

Jemand rief laut etwas auf Italienisch. Rico erhob sich seufzend.

„In der Küche haben wir einen Engpass, einer unserer Köche ist seit gestern krank“, sagte Giovanna bekümmert. Sie warf einen Blick über die besetzten Tische. „Aber heute ist dafür auch nicht so viel los.“

Laura stand abwartend am Tresen. Giovanna gab ihr ein Zeichen, an einen der Tische zu gehen. Dann richteten sich ihre Augen wieder auf mich. „Nun erzähl mal weiter! Was ist mit dir und Erika?“

„Erika hat mir die ganze Zeit etwas vorgemacht. Die ganzen dreizehn Jahre unserer Ehe hat sie so getan, als wäre sie sonst wie emanzipiert und progressiv. Kinder wollte sie nicht, schon wegen ihrer Figur und überhaupt. Sie trank Alkohol, machte Bauchtanz, war eigentlich mehr so ein Partytyp und dann …“

„Und dann?“, fragte Giovanna gespannt.

Rico kam an den Tisch mit einem Teller voller dampfender Fettuccine.

Buon appetito!“

Er wandte sich mit betrübter Miene wieder zum Gehen. „Allora, ich werde noch in der Küche gebraucht. Bis später.“

Ich schaute auf meinen Teller und sah Giovanna fragend an.

„Kein Problem. Lass es dir schmecken. Rico und ich essen sowieso erst später, wenn weniger zu tun ist.“

Ich spürte, wie hungrig ich war, und wandte mich mit Vergnügen den Fettuccine zu. Giovanna beobachtete mich mit Wohlgefallen und schenkte mir etwas von dem Rotwein ein. „Ein Cannonau di Sardegna, der passt gut zu den Ossibucchi.“ Sie schob mir das Glas hin. „Salute! Aber entschuldige, Herbert. Du hattest gerade begonnen, zu erzählen!“

Ich kaute noch an meinem letzten Bissen und ließ meine Hände mit dem Besteck sinken. „Dann kommt da so einer und schwupp, ist sie völlig umgedreht, voll auf dem Islamtrip, vollverschleiert und lebt plötzlich wie im Mittelalter.“

Giovannas Miene wurde ernst. Sie sah mich mit einem fast mütterlichen Ausdruck an. „Ach so ist das!“

Sie überlegte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Trotzdem glaube ich nicht, dass Erika dir etwas vorgemacht hat, Herbert. Erika hat nach eurer Scheidung vielleicht nur nach Halt gesucht, und ihn schließlich in einer traditionellen islamischen Ehe gefunden.“

Ich war empört. „Nach Halt gesucht? Dass ich nicht lache! Sie war doch immer diejenige gewesen, die alles so genau wusste. Diejenige, die so bestimmend war, und mir immer etwas vorschreiben wollte!“

„Sie wollte klare Regeln, willst du damit sagen?“

„Ja genau! Sie hatte immer sehr eigene Vorstellungen, wie alles sein müsste. Ich war mehr der Unschlüssige, der Kompromissbereite gewesen.“

„Dann ist sie sich doch auf ihre Art treu geblieben. Einerseits hat sie das Exotische angezogen, sie hatte ja Berührung mit der arabischen Kultur durch den Bauchtanz ...“

„Ja, aber ich dachte, das war nur Folklore, Sport oder Zerstreuung. Sie hat sich zu Hause immer gelangweilt.“

„Warte! Jetzt hat sie sich vollständig für diese Kultur und ihre Religion entschieden. Sie macht damit der Gesellschaft hier deutlich, wie anders sie ist. Es ist die gleiche Rebellion, die sie schon vorher antrieb. Die Sehnsucht nach klaren Regeln, die sie verspürt, wird durch den Islam und die traditionelle Ehe voll erfüllt. Sie ist viel anlehnungsbedürftiger, als du dachtest. In eurer Ehe hatte sie dieses Gefühl als Schwäche empfunden und sich hinter der Fassade einer modernen, aufgeklärten Frau versteckt.“

„Woher willst du denn das alles so genau wissen, Giovanna? Hat Erika dir denn so etwas erzählt?“ Ich trank etwas Rotwein, um das Gefühl zu bekämpfen, das sich in meiner Kehle zusammenzog.

„Nein! Aber du darfst nicht vergessen, ich komme aus Sardinien. Bei uns ist die Gesellschaft immer noch sehr den Traditionen verbunden. Die Frauen dort sind auch sehr stolz, aber sie wollen trotzdem einen Mann, …“

Sie suchte nach den richtigen Worten, wohl um mich nicht in meiner Ehre zu verletzen, aber ihr fiel nichts Besseres ein: „Einen Mann, an den sie sich anlehnen können, der ihnen ein Gefühl der Stärke vermittelt, verstehst du?“

„Du meinst, ich war einfach zu weich, ein Softie? Sie hat nie auf mich gehört, wenn ich etwas vorgeschlagen habe.“

Giovanna legte ihre Hand auf meinen Arm und sah mir ernst in die Augen. „Hast du ihr jemals gesagt, du hättest gerne Kinder mit ihr?“

Ich wand mich unter ihrem intensiven Blick. „Nein! Also nicht so bestimmt. Also das war immer so eine Sache. Ich habe mich da auch nach ihr gerichtet, und sie wollte doch nicht.“

„Vielleicht, weil sie nicht sicher war, was du wirklich wolltest? Vielleicht, weil du dich nie getraut hast, ihr zu sagen, dass du es wolltest?“

Hätte ich Kinder haben wollen, wenn sie es gewollt hätte? Ich war mir in diesem Moment nicht sicher. „Du stellst sie so schwach dar, so war Erika gar nicht.“

„Da hast du dich vielleicht in ihr getäuscht. Du siehst es jetzt. Nachdem, was du erzählt hast, ist sie jetzt mit einem traditionellen orientalischen Mann verheiratet, der ihr sagt, wo es langgeht. Und solange sie glaubt, dass es der richtige Weg für sie ist, folgt sie ihm.“

Laura kam an den Tisch und flüsterte Giovanna etwas ins Ohr.

Giovanna nickte, seufzte und erhob sich. „Die Arbeit! Ich bin gleich wieder bei dir, lass es dir schmecken.“

Ich dachte über ihre Worte nach, während ich den Teller mit den Fettuccine leerte. In einem hatte Giovanna recht, unsere Gesellschaft war beliebig, was die Orientierung des einzelnen Menschen betraf. Was bot sie denn für Werte, ausgenommen die möglichst schnelle Befriedigung von Konsumbedürfnissen? Gesellschaftliche Strömungen, welche die Menschen früher zusammenbrachten, hatten kaum noch Anziehungskraft. Die großen Organisationen, die Kirchen, die Gewerkschaften, die politischen Parteien, alle klagten doch über Mitgliederschwund.

Giovanna kam nach ein paar Minuten wieder und brachte das Hauptgericht mit. „Ossibucchi a la Sarda. Ich hoffe, unsere Küche gefällt dir immer noch.“ Der Duft des Fleischgerichtes mit Zwiebeln und Sellerie stieg mir verführerisch in die Nase. Giovanna setzte sich wieder zu mir.

„Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast, Giovanna. Du hast sicherlich mit vielem recht. Aber Erikas Neigung zum Islam bleibt mir trotzdem unverständlich. Erika war überhaupt nicht religiös. Solange ich sie kannte, hatte sie mit der Kirche nichts am Hut gehabt.“

Giovanna zog ihre Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. „Ich glaube, gerade Menschen, die feste moralische Regeln für ihr Leben wollen, kommen mit unserer Gesellschaft, wo die meisten sich nur noch pro forma zum Christentum bekennen, nicht zurecht. Für Muslime ist es eine klare Sache: Allah, ein Gott. Für Christen gibt es Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wer ist da was? Wer macht da was? Das ist schon zu unbestimmt für jemanden, der ganz klare Regeln möchte. Und dann trifft sie auf Menschen, wie ihren neuen Mann. Der nimmt, im Gegensatz zu all den Scheinchristen, seinen Glauben allen Widerständen und Anfeindungen zum Trotz sehr ernst. Das imponiert ihr gewaltig. Auch dass man im Islam so viel für den Glauben tun muss, also fünf Mal am Tag Gebete, dann das Fasten, all diese Regeln ...“

In Giovanna Blick lag eine Mischung aus Mitgefühl und leichtem Spott. Sie trank den Rest von ihrem Aperitif und sagte belustigt, als sie das leere Glas auf den Tisch stellte. „Und erst die vielen Verbote im Islam. Die hatte ich ganz vergessen!“ Für einen Moment hing sie ihren Gedanken nach, ihr Blick schien durch die Wände des Sardegna hindurch in die Ferne zu schweifen.

„Weißt du, was alle diese Menschen in ihrem rigiden Gebots- und Verbotskorsett vollkommen ausblenden, ist doch Folgendes. Wir haben heute in unserer Gesellschaft sehr viele Möglichkeiten uns selbst zu verwirklichen, um unsere Bestimmung zu finden. Das ist eine große Chance. Dazu muss man aber reif genug sein, um Verantwortung für sich übernehmen zu wollen.

Ich wusste nicht, was ich zu alldem sagen sollte. Giovanna hatte Erika auf der Gefühlsebene viel besser verstanden, als ich mit meinem Verstand. Die Welt ließ sich eben nicht nur durch Logik und Wahrscheinlichkeiten erklären. Das hatte mir damals auch der Paartherapeut gesagt, und ich hatte ihn nicht ernst genommen. Doch jetzt fühlte ich mich in einer Sackgasse. Was bestimmte eigentlich mein Leben? Ich erschrak, weil mir nichts Richtiges einfiel.

„Eigentlich, Giovanna …“, ich stockte, suchte nach einer Erklärung.

„Ich merke gerade, eigentlich habe auch ich keine festen Wertvorstellungen. Gut, ich will nichts Unrechtes tun und versuche niemanden bewusst Schaden zuzufügen!“ Dabei fiel mir ein, dass ich heute schon reichlich Rachegefühle einer Reihe von Menschen gegenüber gehegt hatte. „Vorausgesetzt, dass man mich nicht ärgert!“, fügte ich daher hinzu.

Giovanna musste lachen. „Immer ein Hintertürchen offen lassen, Eriberto. Vielleicht bist du gerade deswegen stärker als Erika. Menschen mit einem schwachen Ich suchen nach Führung. Sie geraten leicht in die Hände von anderen, die ihnen sagen, wo es lang geht. Oder von Organisationen, die streng hierarchisch sind, wo es kein Wenn und Aber gibt. Wie in vielen Sekten und auch in einem radikalen Islam. Das geht dann bis zur Bereitschaft für den Glauben auch zu sterben, wenn man erst einmal genug dafür bearbeitet worden ist. Und was viele bei uns nicht wahrhaben wollen, die solche rückwärtsgewandten Strukturen für eine Kulturbereicherung halten: Die Stellung der Frauen und das Frauenbild in einer solchen Gesellschaft sagt doch viel mehr über diese Gesellschaft aus, als alles andere.“

Sie hatte sich inzwischen auch ein Glas Rotwein eingegossen.

„Aber ich hoffe nicht, dass Erika sich dermaßen verleugnet. Wenn es dich tröstet, das alles hat viel weniger mit dir zu tun, als du denkst. Sie hat die Unfreiheit gewählt, weil sie nicht reif genug für die persönliche Freiheit ist, die du dir mit all deinen Zweifeln immer noch zugestehst.“

„Das ist nicht mehr die Erika, so wie ich sie kannte!“, platzte es aus mir heraus. Ich sah sie vor mir in ihrer tristen Aufmachung als äußeres Kennzeichen der Unterwerfung.

„Hast du denn jemanden Neues kennengelernt, eine Freundin?“, fragte Giovanna unvermittelt.

Ich schüttelte den Kopf. Giovannas Frage machte mir meine Einsamkeit wieder bewusst. Ich war froh, in diesem Moment in ihrer Gesellschaft zu sein. Im Gespräch mit ihr hatte ich mehr über mich erfahren, als über Erika, die mir jetzt noch fremder erschien, als bei unserem heutigen Zusammentreffen im Supermarkt. Der raffinierte Geschmack der Ossibucchi holte mich aus meinen Grübeleien in die Gegenwart zurück.

Rico erschien wieder an unserem Tisch. Er sah müde aus und trank den Rest von seinem Aperitif. Seine Augen glitten über mich und über Giovanna: „Va bene?“

Nachdem er sich zu uns gesetzt hatte, wollte ich nicht weiter über meine Gefühle reden. Ich nickte und deutete auf meinen leer gegessenen Teller. „Lecker! Ich hatte ganz vergessen, wie gut es bei euch schmeckt!“

„Komm bald wieder zu uns und bring doch jemanden mit, wenn du möchtest.“

Giovanna antwortete ihm etwas auf Italienisch. Obwohl ich nichts davon verstand, konnte ich mir denken, was sie sagte.

Als ich aus der Tür des Sardegna in die Nacht trat, wehte mir der Wind ein paar Regentropfen ins Gesicht. Über die Straße, die im Licht des blassen Novembermondes glitzerte, tanzten ein paar welke Blätter. Ich schaute zum Himmel und sah zwischen den vorbeiziehenden Wolken ein paar Sterne funkeln. Ich meinte, Andromeda zu erkennen, die hellste Galaxie am nördlichen Firmament. In meiner Schulzeit war es mein Hobby gewesen, den Himmel zu beobachten. Vielleicht wäre die Astronomie meine wahre Bestimmung gewesen?

Es war spät geworden. Ausgerechnet heute hatte ich vorgehabt, früher zu Bett zu gehen. Trotzdem fühlte ich mich ausgeruhter als gewöhnlich. Es musste die Herzlichkeit gewesen sein, mit der Rico und Giovanna mich in ihre Arme geschlossen hatten. Mit ungewohnter Leichtigkeit stieg ich die Stufen zu meiner Wohnung empor. Meine Rachegefühle gegen Frau Steckenborn waren verflogen. Als ich an ihrer Tür vorbeiging, musste ich darüber schmunzeln, welche Pläne ich heute Nachmittag noch gegen sie geschmiedet hatte.

Bevor ich einschlief, sah ich in Gedanken Erika in ihrem dunklen Umhang vor mir stehen. So ähnlich sahen die Frauen in den syrischen Dörfern aus, die jammernd vor ihren zerstörten Häusern saßen. Ich dachte an die blaue Mappe, an die Firma Erkalaat und hoffte, Frank würde sich möglichst bald bei mir melden.

Muttis Erben

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