Читать книгу Muttis Erben - Lothar Beutin - Страница 5
Donnerstag, 12. November 2015
ОглавлениеIch schlief tief und fest, bis mich die Stimme aus dem Radio weckte. Schon seit langem hatte ich mich nicht mehr so ausgeruht gefühlt. Traumfetzen von der Nacht geisterten mir noch durch den Kopf. Da war Erika, schwarz gekleidet wie eine Ninja-Kämpferin. Sie sagte, sie würde an meiner Stelle mit Axel Lange nach Aleppo fliegen, da ich dort sowieso nicht zurechtkommen würde.
Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. Aleppo war kein Traum. Nachdem ich aufgestanden war, schaltete ich mein Handy ein. Unter den Mails, die langsam eintrudelten, gab es auch eine Nachricht von Frank. „Ruf mich heute um 11:00 Uhr unter 030 952 ... an.“
Mehr schrieb er nicht. Aber das war typisch für seine Geheimnistuerei. Er war der Meinung, man müsse sich bei E-Mails sehr bedeckt halten. Spätestens seit dem NSA-Skandal wusste man ja, die Nachrichtendienste lasen alles mit. Mich selbst kümmerte das nicht so sehr. Was sollte man bei mir schon Besonderes finden? Aber Frank musste in der Zwischenzeit etwas für mich erreicht haben, sonst hätte er sich nicht gemeldet.
Im Radio liefen gerade die Sieben-Uhr-Nachrichten. Die E-Mail von Frank hatte mich in Aufregung versetzt und ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Es ging um den Konflikt in der Ukraine und um Spannungen zwischen Russland und der Türkei. Der Strom der Flüchtlinge, die über die Balkanroute nach Norden strömten, schien nicht abzureißen. Der Finanzminister kündigte neue Vorschläge zur Bewältigung der Schuldenkrise an …
Plötzlich zweifelte ich daran, ob es gut für mich war, mir gleich am Morgen auf diese Art den Tag verderben zu lassen. Zum Glück hatte ich heute ausreichend geschlafen. Wenn ich länger im Büro blieb, konnte ich mein Zeitkonto ausgleichen. Ich wollte keine Schulden anhäufen, selbst wenn es sich um Arbeitszeitminuten handelte.
Beim Wetterbericht hörte ich wieder aufmerksamer zu. Böiger Westwind, vereinzelt Schauer, die Temperaturen knapp um die null Grad. Ich öffnete das Schlafzimmerfenster und die hereinströmende, kalte Luft wirkte erfrischend. Sterne gab es nicht mehr zu sehen, die Wolkendecke hatte sich über Nacht zugezogen. Mein Blick fiel auf den Innenhof. Auf die vom trüben Lampenlicht schwach erhellte Rasenfläche, die vom Weg zu den Mülltonnen parallel durchschnitten war. Dort standen zwei gelbe, zwei blaue und drei graue Tonnen.
Mir fiel ein, wie Erika und ich uns manchmal über Mülltrennung gestritten hatten. Nun lebte sie in einem dieser Hochhäuser, die sie früher immer so scheußlich fand. Sie ging nicht mehr zur Arbeit, was ihr doch immer so viel bedeutet hatte. Ob sie nach dem Aufstehen gleich Gebete sprach oder zuerst ihren Mann bedienen musste? Ich versuchte diese Bilder, die klischeehaft in meinem Kopf auftauchten, zu verdrängen. Fest stand, ich wusste nichts mehr über Erika. Doch was immer sie auch tat, ich war froh, dass ich frei von derartigen Verpflichtungen war.
Während ich mir die Zähne putzte, lief im Radio eine Sendung über die Integration von Flüchtlingen. Das müsste man sehr ernstnehmen, sagte ein Regierungsbeamter, sonst blühe der Gesellschaft Gewalt und Kriminalität. Ich spuckte den Rest der Zahnpasta ins Waschbecken. Bei den vielen Einwanderern, die schon seit Generationen in Deutschland lebten, hatten Integrationsbemühungen kaum stattgefunden. Da sprach man inzwischen von Parallelgesellschaften. Von Männern, die sich die Ehefrauen aus ihren Herkunftsländern importierten, ohne dass sie weder in die Sprache noch in die deutsche Gesellschaft integriert wurden.
Warum sollte das auf einmal besser funktionieren? Und worin sollten sich die Flüchtlinge in Deutschland denn integrieren? Menschen, die überwiegend aus Großfamilien und Stammesgesellschaften kamen, trafen auf ein Heer von Individualisten, die sich gegenseitig Konkurrenz machten. Menschen mit einem in Traditionen verhafteten, einfach gestrickten Weltbild, konnten unsere Gesellschaft schnell als kaputt und verdorben ansehen. Bei manchen löste das ein Gefühl von Überheblichkeit aus. Aggressionen gegen die, aus ihrer Sicht dekadente Mehrheitsgesellschaft, konnten dann nicht ausbleiben.
Auch ich gehörte zu diesem Heer von Einzelgängern. Noch mehr, seitdem ich geschieden war. Was war meine Richtschnur, die mir den Weg durch das Leben wies? Jeder Einzelne setzte die Maßstäbe für sich selbst. Axel Lange hätte sie vielleicht beschrieben als Fitness und Effizienz, Thomas Sündermann als Wohlstand und Luxus, Friedhelm Berger als Globetrotter und Genussmensch und Torben Tüsselhover als Selbstverwirklichung und freie Sexualität. Und was war mit mir? Ich war der Angepasste. Einer der nicht auffallen und bloß seine Ruhe haben wollte. Doch ich spürte, dass ich diese Rolle nicht länger spielen konnte, ohne an den neuen Herausforderungen zu zerbrechen.
*
In der Firma nutzte ich den Vormittag, um die Vorgaben für den Artikel zur sexuellen Dysfunktion fertigzustellen. Während ich über sexuelle Befriedigung schrieb, wurde mir bewusst, wie lange ich schon nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen war. Nach dem Gespräch mit Giovanna waren meine verschütteten Gefühle wieder zutage gekommen. Kurz nach der Scheidung von Erika hatte ich über Agenturen nach einer neuen Partnerin gesucht. Doch die wenigen Treffen, die sich daraus ergeben hatten, waren enttäuschend verlaufen. Bei der letzten Begegnung hatte ich mich gefühlt wie ein Artikel, der begutachtet, aber dann zurück ins Regal gestellt wurde. Danach hatte ich diesen Weg der Partnersuche aufgegeben und mich auf die Möglichkeit einer Zufallsbekanntschaft vertröstet.
Vielleicht bot mir das Schicksal aber jetzt eine Chance. Seit Torben Tüsselhover das Gerücht gestreut hatte, ich plane, mir einen Zwergpudel anschaffen, war Frau Kamischke in ihrem Verhalten zu mir wie ausgewechselt. Auch heute früh hatte sie mich wieder so überschwänglich begrüßt. Ich nahm sie zum ersten Mal bewusst als Frau und nicht nur als die Kollegin vom Empfang wahr. Sie war etwa in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Ein anderer Typ Frau, als Erika es gewesen war, jedoch nicht unattraktiv. Ihre blonden Haare waren hochgesteckt und ich bildete mir ein, sie hätte sich stärker geschminkt als gewöhnlich. Wollte ich mir damit einreden, dass sie meine Aufmerksamkeit suchte?
Ich kannte nicht einmal ihren Vornamen. Ich konnte sie danach fragen, als Aufhänger, um ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, offiziell galt ich als mit Erika verheiratet. Thomas Sündermann hätte mein Verhältnis mit einer Betriebsangehörigen nicht gerne gesehen. So etwas war auf Dauer auch kaum zu verheimlichen. Mit solchen zwiespältigen Gefühlen lief ich die Wendeltreppe hoch. Doch das Verlangen in mir ließ sich auch nicht von meinem Verstand abweisen.
Um zehn Uhr klopfte der Bürobote an der Tür. Er brachte die Ampulle mit dem Buthantiol. Ich brauchte es jetzt nicht mehr, wollte es aber auch nicht zurückgeben, um bei Herrn Schauhin nicht als kopfloser Spinner zu gelten. Also wickelte ich das Glasgefäß sorgfältig in Papier und legte es vorerst in meine Schreibtischschublade.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus einem Tagtraum, in dem Frau Kamischke die weibliche Hauptrolle spielte. Den Anrufer, einen Herrn Brennecke, kannte ich nicht. Woher er denn meine Telefonnummer hätte, fragte ich.
„Na was denken Sie denn? Natürlich von der Polizei!“
Herr Brennecke ließ mir keine Zeit zum Überlegen. Er stellte sich als Enkel der alten Dame vor, deren Hund ich gestern überfahren hatte. Seine Großmutter wäre mit den Nerven am Ende und benötigte möglichst schnell einen Ersatz für den überfahrenen Zwergpudel. Gegen Zahlung von 1.500 Euro würde sie auf eine Klage vor Gericht verzichten. Ich wog ab, ob mir diese Zahlung weitere Schwierigkeiten mit der Polizei und ein Gerichtsverfahren ersparen könnte. Dazu brauchte ich aber eine schriftliche Bestätigung von Brennecke und gab ihm meine Adresse. Brennecke betonte nochmals, dass es schnell gehen müsste. Wenn seine Großmutter zusammenbräche, wären die Kosten für mich um ein Vielfaches höher. In mir blieb ein Gefühl der Ungewissheit. Nun gab es noch eine Baustelle, um die ich mich kümmern musste. Ich sah auf die Uhr. Es blieb noch genug Zeit für einen Kaffee, bevor ich Frank anrief.
Frank fragte gleich, ob jemand mithören könnte. Was wir zu besprechen hätten, wäre streng vertraulich. Er müsse sich auf meine Verschwiegenheit verlassen können. Nachdem ich das bestätigt hatte, rückte er mit seiner Nachricht heraus: „Du hast Glück, Herbert! Wir haben jemanden ausfindig gemacht, der dir in der Syriensache beiseite stehen kann. Was sagst du dazu?“
Ich sagte nichts. Mit einer so schnellen Entwicklung hatte ich nicht gerechnet. Aber ich war natürlich froh, dass alles so gut lief.
„Unser Mann ist Chemieingenieur und kommt zudem aus Aleppo. Er kennt auch diese Firma Erkalaat, die du gestern erwähnt hast.“
„Na, wunderbar! Soll ich mit Sündermann darüber reden, ob er ihn für die Dauer des Syrienprojekts einstellt?“
„Nicht so rasch, Herbert. Deiner Firma scheint es ja egal zu sein, mit Assads Mörderregime Geschäfte zu machen. Wir müssen unseren Mann schließlich schützen. Außerdem wäre das mit einer Anstellung nicht so einfach. Er hat noch keine richtigen Papiere.“
Das gefiel mir nicht. „Was meinst du damit, er hat noch keine richtigen Papiere?“
„Er ist mit den Flüchtlingen gekommen, auf der Balkanroute. Viele von denen haben ihre Papiere auf der Flucht verloren.“
„Willst du damit sagen, er ist illegal hier? Nicht registriert?“
„Kein Mensch ist illegal, Herbert! Wie oft soll ich das noch sagen! In Syrien gibt es keine Zukunft, und Europa kann nicht zur Festung werden. Wenn sie die Grenzen schließen, kommen die Flüchtlinge über das Meer. Wenn sie das Meer absperren, finden sie noch einen anderen Weg.“
Was sollte ich ihm darauf schon erwidern?
„Und wie stellst du dir das nun mit ihm vor?“, fragte ich stattdessen.
„Unser Mann wartet auf seine Anerkennung als Bürgerkriegsflüchtling. Das wird noch eine Weile dauern. Aber er könnte dir auch jetzt schon helfen, wenn du …“
Frank sprach nicht weiter. Ich war gespannt darauf, womit er herausrücken würde.
„Ja, wenn ich?“
Doch Frank führte seinen Satz nicht zu Ende. „Über alles Weitere reden wir besser persönlich. Ich schlage vor, wir treffen uns heute Nachmittag um fünf im Café Heinzelmann in der Zossener Straße. Also, um 17:00 Uhr im Café Heinzelmann, okay?“
Frank hatte bereits aufgelegt, als ich mir noch die Adresse des Cafés und die Uhrzeit aufschrieb. Bis zum Mittagessen schlug ich mich mit der Kampagne gegen die sexuelle Dysfunktion herum. Doch ich war schon zu nervös, um damit weiter voranzukommen.
Franks Vorschlag war immerhin eine Möglichkeit. Doch es wäre mir lieber gewesen, wenn die Firma den Syrer offiziell beschäftigt hätte. Schließlich hatte Tüsselhover auch personelle Unterstützung für sein Projekt bekommen. Ich konnte doch Thomas Sündermann um ein Vieraugengespräch zum Syrien-Projekt bitten. Vielleicht bot sich dabei die Gelegenheit, über die Mitarbeit von syrischen Fachkräften zu reden. Vielleicht würde Sündermann, wenn Axel Lange nicht dabei saß, mehr Verständnis für mein Anliegen aufbringen.
Die Leichtigkeit, die mir das Wiedersehen mit Giovanna und Rico verschafft hatte, war der Beklommenheit gewichen, die schon lange meine treue Begleiterin war. Ich ertappte mich dabei, wie ich an den Nägeln kaute. Eine Angewohnheit, die mich in Stressmomenten überkam. Kurz vor der Mittagspause hatte ich mich dazu durchgerungen, im Büro von Thomas Sündermann anzurufen. Seine Sekretärin, Frau Fettgenheuer, nannte mir 14:00 Uhr als möglichen Gesprächstermin.
Bevor ich mit dem Seniorchef gesprochen hatte, erschien es mir unmöglich, konzentriert zu arbeiten. Zuviel ging mir durch den Kopf. Franks wenn enthielt eine unausgesprochene Bedingung. Sie musste so bedeutend sein, dass er am Telefon nicht darüber reden wollte. Dann war da noch dieser Brennecke, der 1.500 Euro von mir forderte. Ich wusste nicht so recht, wie ich dem allen begegnen sollte.
Inzwischen war es halb eins. Ich klappte die Mappe zum Projekt sexuelle Dysfunktion zu. Am besten, ich ging in die Kantine und wartete dort so lange, bis der Termin bei Sündermann in greifbare Nähe gerückt war. Als ich unten bei Frau Kamischke vorbeikam, zog sie sich gerade ihren Mantel an. Ich fragte, ob sie vorhatte, Essen zu gehen.
„Heute wollte ich ausnahmsweise in die Kantine, Herr Hintersinn.“
Sie lachte. Wenn man Essen gehen wollte, gab es keine andere Möglichkeit als die Kantine. Ich sagte wie zum Spaß, eigentlich würden wir uns jeden Tag im Haus begegnen, doch wüsste ich nicht einmal ihren Vornamen. Darüber musste sie erneut lachen. „Sie sind eben immer so sehr mit Ihrer Arbeit beschäftigt, dass Sie sich für nichts anderes interessieren!“
„Aber das stimmt doch gar nicht!“
Ich nahm das zum Anlass, um sie zu fragen, ob wir nicht zusammen in die Kantine gehen wollten. An der Essensausgabe ließ ich Elsa, die mir ihren Vornamen bereitwillig verraten hatte, in der Schlange vor. So konnte ich sie in Ruhe ansehen, ohne dass es auffiel. Unter ihrem taillierten Regenmantel trug sie ein weinrotes Kostüm. Ich dachte an Erika, die mit Kopftuch und einem unförmigen Umhang vor der Supermarktkasse gestanden hatte. Elsas blonde Haare waren mit einer Spange kunstvoll zu einem Knoten hochgesteckt. Vor vier Jahren war sie als Nachfolgerin von Frau Meidhardt bei Sündermann eingestellt worden. Wie hatte ich sie so lange Zeit nicht richtig bemerken können?
Elsa wartete hinter der Kasse, bis ich mein Wechselgeld bekommen hatte. Mit unseren Tabletts in den Händen standen wir uns gegenüber. Ich war unschlüssig, vielleicht gab es noch andere Kollegen, mit denen Elsa heute zum Essen verabredet war. Elsa durchbrach die Spannung, indem sie sagte, dass wir beide Spaghetti Bolognese gewählt hatten. Ich schlug ihr vor, an den runden Tisch zu gehen, der an der Fensterfront stand. Das war mein Stammplatz. Gewöhnlich saß ich dort allein und sah, wer sich mit wem zusammensetzte. Mit der Zeit konnte ich Rückschlüsse über die Kontakte zwischen den Betriebsangehörigen ziehen. Das war mir lieber als der tägliche Firmentratsch. Dort zog man meistens nur über jene her, die gerade nicht zur Stelle waren.
Bis auf seltene Ausnahmen hatte ich Thomas Sündermann nie in der Kantine gesehen. Er blieb auch mittags in seiner Gründerzeitvilla, die sich in einem abgelegenen Teil auf dem Firmengelände befand. Im Erdgeschoss des Backsteingebäudes befanden sich sein Büro und das Sekretariat. Im ersten Stockwerk hatte er eine komplette Gästewohnung einrichten lassen.
Axel Lange war dagegen häufig in der Kantine. Er war meistens von Mitarbeitern und häufig von Firmengästen umgeben. Auch Berger und Tüsselhover waren oft dabei. Gewöhnlich saß die Gruppe an einem der Mitteltische. Dann und wann zog sie durch lautes Gelächter die Aufmerksamkeit der anderen Kantinengäste auf sich.
Ich war froh, dass weder Axel Lange, noch meine Kollegen Berger und Tüsselhover gerade anwesend waren. Es hätte mich gestört, wenn sie mich mit Elsa gesehen hätten. Eine halbe Stunde Pause war sowieso zu kurz, um mit ihr in ein ausführlicheres Gespräch zu kommen. Ich knüpfte an ihre Bemerkung von vorhin an, ich würde nur für die Arbeit leben. Da ich für die Firma immer noch als verheiratet galt, konnte ich ihr schlecht sagen, dass ich längst geschieden war. So erzählte ich, meine Ehe wäre völlig zerrüttet, und deswegen hätte ich mich so sehr in die Arbeit geflüchtet. Damit wollte ich ihr einen Hinweis geben, dass ich für eine neue Beziehung prinzipiell offen war.
Sie ging darauf ein. Allerdings auf andere Weise, als ich es erhofft hatte. „Dann ist es doch schön, wenn Sie sich einen Zwergpudel anschaffen, Herbert. Ihrer Frau wird das bestimmt auch gefallen. Ich kenne sie ja nicht persönlich, aber vielleicht tut das Ihrer Ehe gut. Außerdem, mit so einem süßen Hundchen bekommt man leicht Kontakt zu anderen Menschen. Ich lebe allein und ohne meinen kleinen Timmy, so heißt mein Yorkshireterrier, würde mir wirklich etwas fehlen!“
Damit hatte ich immerhin erfahren, dass Elsa auch nicht mit jemanden zusammenlebte. Ich musste ihr nur noch deutlicher vermitteln, dass meine Ehe nicht mehr zu retten war. Doch zuerst galt es, die Geschichte mit dem Zwergpudel richtigzustellen. Es wäre ein Missverständnis. Ich hätte nie die Absicht gehabt, mir einen Hund anzuschaffen.
„Ach so!? Das ist ja schade!“ Elsa war die Enttäuschung deutlich anzumerken. „Und Ihre Frau? Möchte die nicht so ein süßes Hundchen?“
„Meine Frau und ich haben uns auseinandergelebt. Sie geht ihre eigenen Wege. Ich rede nicht gerne darüber, besonders in der Firma. Doch wenn Sie mich so direkt fragen, muss ich Ihnen gegenüber ehrlich sein. Außerdem hat meine Frau überhaupt kein Interesse an einem Hund.“
Ich schwieg mich darüber aus, dass ich Hunde nicht besonders mochte. Elsa war eine Hundenärrin und hatte sich wohl nur wegen dieser Zwergpudelgeschichte näher für mich interessiert. Ich fügte noch hinzu, dass meine Arbeitszeiten und die häufigen Geschäftsreisen mir nicht erlaubten, ein Tier zu halten, um das sich sonst niemand kümmern würde.
„Wenn ich bei der Arbeit bin, kümmert sich meine Nachbarin um Timmy“, meinte Elsa unbekümmert. „Sie mag ihn gern. Außerdem arbeite ich nur dreißig Stunden pro Woche und bin nie sehr spät zu Hause.“
Das klang wie ein Vorwurf. So, als würde ich nicht einmal jemanden kennen, der sich um meinen Hund kümmern könnte. Mir fiel in diesem Moment ausgerechnet Frau Steckenborn ein.
Eine Gruppe neuer Gäste kam in die Kantine. Bevor sie in Sichtweite waren, machten sie schon durch lautes Reden auf sich aufmerksam. Jetzt waren Torben Tüsselhover, Friedhelm Berger und Axel Lange doch noch gekommen. Sie machten es sich an einem der Mitteltische bequem. Wenig später kamen noch Sündermanns Sekretärin und zwei Mitarbeiter aus der Entwicklungsabteilung dazu. Einen der Entwicklungsingenieure kannte ich. Es war der Chemiker Gholam Foorozan. Ein kleiner drahtiger Mann im weißen Hemd zur schwarzen Hose, der eine auffällig dicke Hornbrille trug. Er war es, der Torben Tüsselhover im Kooperationsprojekt mit den iranischen Firmen unterstützen sollte.
Ich hatte mit Foorozan bisher nicht viel zu tun gehabt, aber neben Berger gehörte er seit Gründung der Firma zum Mitarbeiterstab. Ich schätzte ihn auf um die sechzig. Sein schmales Gesicht wurde durch einen eisgrauen, kurzgeschnittenen Bart noch betont. Es vermittelte ihm einen eher düsteren Ausdruck, der jedoch durch sein ständiges Lächeln überspielt wurde.
Torben Tüsselhover hatte uns schon beim Hereinkommen bemerkt und blickte dann und wann zu uns herüber. Ich sah, wie er Axel Lange etwas ins Ohr flüsterte. Lange ließ daraufhin eine Bemerkung fallen, über die Tüsselhover schallend lachte. Ich war mir sicher, dass es mit Elsa und mir zu tun hatte.
Elsa deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf Sündermanns Sekretärin. „Es war übrigens Frau Fettgenheuer, die mir die Geschichte von Ihnen und dem Zwergpudel erzählt hat. Deshalb habe ich das auch geglaubt“, fügte sie wie zur Entschuldigung hinzu.
Ich warf einen Blick auf Sündermanns Sekretärin, die sich kleine Häppchen in den Mund schob und dabei keine Miene verzog. Und ich hatte gedacht, Elsa hätte es von Tüsselhover erfahren! Es war ein unausgesprochenes Geheimnis, dass Thomas Sündermann und Frau Fettgenheuer mehr verband, als ein bloßes Arbeitsverhältnis. Die alleinstehende Frau Fettgenheuer hatte ihr Leben ganz der Firma und dem Seniorchef verschrieben. Wahrscheinlich würde Sündermann von ihr auch gleich hören, dass ich neuerdings mit Frau Kamischke in der Kantine zusammensaß.
Mir kamen Zweifel, ob der 14:00 Uhr Termin bei Sündermann überhaupt etwas bringen würde. Elsa hatte bemerkt, dass ich seit einer Weile stumm neben ihr saß. Dafür redete sie umso mehr drauflos. Dabei erfuhr ich auch, dass Axel Lange eine Verlobte hatte, die ihn häufig nach der Arbeit in ihrem Porsche 911 abholte.
„Eine Verlobte, tatsächlich! In einem Porsche sagen Sie? Und ich dachte, er wäre so ganz anders!“
„Wie denn, anders?“ Elsa schaute mich verständnislos an.
„Ach nichts! Ich meinte damit, dass er nur für die Arbeit lebt.“ Mir war das so herausgerutscht. Ich war froh, gerade noch die Kurve genommen zu haben, was meine Vermutung über Axel Langes sexuelle Orientierung betraf.
Elsa fand meine Bemerkung lustig und schüttelte ihren Kopf. „Oh, da kennen sie Herrn Lange aber wirklich schlecht!“ Sie zögerte, bevor sie hinzufügte: „Es ist lustig, weil andere in der Firma genau das gleiche von Ihnen sagen, Herbert.“
„Was denn?“
„Na, dass Sie nur für die Arbeit leben! Sie sagen ja selbst, dass die viele Arbeit Ihnen nicht einmal Platz für ein Haustier lässt.“ So bekam ich ein Bild davon, wie ich auf die anderen in der Firma wirkte. Elsa schien diesen Eindruck auch mit den anderen zu teilen.
„Warum denken Sie das von mir, Elsa?“
„Nun, Sie sind sehr zurückhaltend, was persönliche Kontakte mit Kollegen betrifft. Ehrlich gesagt, ich war richtig überrascht, dass Sie mich hier an Ihren Tisch gebeten haben. Und dann hörte ich noch die Geschichte von dem Hund, ich dachte …“
Sie wurde rot und hielt mitten im Satz inne.
Sie hält mich für einen verschrobenen Eigenbrötler, dachte ich. Ich musste dabei ein seltsames Gesicht gemacht haben. Wie von weit her hörte ich sie sagen: „Entschuldigen Sie bitte vielmals, Herbert, das alles geht mich ja überhaupt nichts an.“
Eine Weile saßen wir noch stumm beieinander. Elsa schaute auf die Uhr. Sie rückte ihren Stuhl ein Stückchen vom Tisch weg. „Dann ist es wohl wieder an der Zeit.“
Da Axel Lange hier saß, konnte ich schlecht die halbe Stunde Mittagspause überziehen. Elsa stand zuerst auf.
„Dann werden wir mal“, hörte ich meine Stimme, die nicht besonders froh klang. Als ich mit Elsa nach draußen ging, spürte ich die Blicke der anderen wie kleine Stiche. Auf dem Weg zurück zum Hauptgebäude nahm Elsa wieder mehr Abstand von mir. Sie blieb auch unbestimmt, als ich ihr vorschlug, bald wieder gemeinsam essen zu gehen.
*
Ich hatte noch etwas Zeit, um mir zu dem Gespräch mit Sündermann ein paar Notizen zu machen. Ich sah noch vor mir, wie Torben Tüsselhover sich angeregt mit Dr. Foorozan unterhalten hatte. Sündermann konnte mir eine personelle Unterstützung für das Syrienprojekt nicht abschlagen!
Ungeachtet der kühlen Jahreszeit war mir heiß, als ich Sündermanns Villa betrat. Den Zettel mit den Stichpunkten hielt ich in meiner Hand. Das im Industriestil des 19. Jahrhunderts erbaute Haus war der Rest einer alten Gewerbesiedlung, die früher auf dem Gelände gestanden hatte. Thomas Sündermann hatte die gelbe Backsteinvilla innen völlig neu ausgestattet. In der Gästewohnung im Obergeschoss blieb er manchmal auch über Nacht, wenn, wie manche ulkten, er mit Frau Fettgenheuer noch Überstunden ableisten wollte.
Im Sekretariat saß außer Frau Fettgenheuer noch eine brünette Frau, sie war circa Mitte zwanzig. Das musste Frau Dunani sein, die als Fremdsprachensekretärin neu eingestellt worden war. Ohne mir sonderlich Beachtung zu schenken, deutete Frau Fettgenheuer auf die Tür, hinter der sich Sündermanns Büro befand. Frau Dunani sah mich mitleidig an. Ihr war das Verhalten von Frau Fettgenheuer sichtlich unangenehm.
Die beiden Flügeltüren öffneten sich wie von selbst und gaben den Blick in Sündermanns Büro frei. Zuletzt war ich hier vor fünfzehn Jahren zu meiner Einstellung gewesen. Ich war froh, dass sonst niemand weiter bei dem Gespräch anwesend war. Die Stichpunkte auf meinem Zettel kannte ich auswendig. Ich brauchte ihn nicht, um Thomas Sündermann meine Fragen zu stellen. Er hörte ruhig zu, rauchte und ermutigte mich durch zustimmendes Kopfnicken.
Als ich zum Ende gekommen war, nahm er seine Pfeife aus dem Mund.
„Genau aus diesem Grund sind Herr Lange und ich zu dem Schluss gekommen, dass Sie der beste Kandidat für diese knifflige Aufgabe sind. Herrn Dr. Berger als Kenner Lateinamerikas brauchen wir auf Kuba. Herr Tüsselhover ist noch neu im Geschäft und wird daher von Dr. Foorozan unterstützt.“
Sündermann hatte Verständnis und ich schöpfte daraus Mut, um mit meinem eigentlichen Anliegen herauszurücken. „Wäre es nicht wichtig, auch für das Syrienprojekt jemand zu haben, der die politisch-wirtschaftliche Situation des Landes gut kennt?“
„Selbstverständlich. Aber wir haben weder einen Syrer noch jemand anderes, der sie da unterstützen könnte, Herr Hintersinn. Und wir können mit dem Projekt auch nicht auf Anwerbetour gehen, denn wir wollen der Konkurrenz ja eine Nasenlänge voraus bleiben. Das geht aber nur mit äußerster Geheimhaltung. Also bleibt uns doch nichts anderes übrig, als diese Aufgabe Ihnen allein als erfahrener Führungskraft zu überlassen. Im Übrigen werden Sie von unseren Partnerfirmen in Syrien genügend fachliche Unterstützung bekommen. Frau Dunani, unsere Fremdsprachensekretärin, wird Ihnen bei der Korrespondenz mit den Syrern behilflich sein. Sie wurde extra für das Projekt Neue Märkte eingestellt.“
Ich wusste nichts darauf zu erwidern und ruderte hilflos mit den Armen. Sündermann entging das nicht und er sah mich abschätzig an. „Wissen Sie Herr Hintersinn, die Firma hat sich verändert, seit Sie vor fünfzehn Jahren hier eingestellt worden sind.“
Unausgesprochen hieß das, ich hätte mich ebenso verändern müssen, um weiterhin ein wertvoller Bestandteil der Firma zu sein. Sündermanns Blick fiel auf den Besuchertisch. „Setzen Sie sich doch, Herr Hintersinn. Hätten Sie gerne einen Kaffee? Wie geht es eigentlich Ihrer Frau? Erika, nicht wahr! Sie arbeitet im BIFI. Früher hatte ich sie öfter hier in der Firma gesehen!“
Mir wurde heiß, als ich daran dachte, er könnte sich im BIFI nach Erika erkundigen. Vielleicht hatte Frau Fettgenheuer ihm schon erzählt, dass ich neuerdings mit Elsa Kamischke essen ging. Bevor ich etwas sagen konnte, gab er eine Anweisung über die Sprechanlage.
Sein Blick fiel erneut auf mich. Zum Glück hatte er seine Frage nach Erika schon wieder vergessen. „Wovon sprachen wir gerade, Herr Hintersinn? Richtig, die neuen Märkte. Die Sündermann & Lange KG steht vor einem entscheidenden Entwicklungssprung. Dazu gehört auch die Erschließung von neuen Märkten. Vergessen Sie nicht, eine Position in der Leitungsebene ist kein Erbhof. Es wird erwartet, dass unsere gesamte Belegschaft sich auf die neuen Entwicklungen einstellt und in der Lage ist, flexibel darauf zu reagieren.“
Die Tür hatte sich so leise geöffnet, dass ich dessen erst gewahr wurde, als Frau Fettgenheuer mit Kaffee und Gebäck vor mir stand. Auf mein freundliches Lächeln hin zeigte sie nur ein Bürogesicht, aus dem keine Gefühlsregung sprach. Sie war eine prüde Person, die immer in hochgeschlossenen Kleidern herumlief. Warum sie sich mit dem zwanzig Jahre älteren Sündermann eingelassen hatte, war mir ein Rätsel. Vielleicht fand sie es selbstverständlich, auch einen solchen Einsatz für die Firma zu leisten. In jedem Fall musste sie sich damit abfinden, ihn nur im Schatten seiner Familie für sich zu haben.
Nach Sündermanns Ausführungen hatte ich wenig Hoffnung, von ihm Unterstützung zu bekommen. Trotzdem wollte ich ihn darauf ansprechen, warum ich überhaupt zu ihm gekommen war. „Was würden Sie davon halten, wenn ich mich nach einem Experten für die syrische Pharmaindustrie erkundige?“
Sündermann kratzte sich daraufhin am Kopf und legte seine Pfeife auf den Tisch. Mein Vorschlag hatte ihn offensichtlich irritiert. „Kennen Sie sich denn in dieser Hinsicht aus? Haben Sie Verbindungen nach Syrien, Herr Hintersinn? Warum haben Sie das nicht schon in der Sitzung erwähnt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Ich habe nur gedacht, dass …“
„… es immer noch ihr Arbeitgeber ist, der über Personalentscheidungen verfügt und nicht seine Angestellten“, beendete Sündermann meinen Satz.
„Und dabei wollen wir es auch in Zukunft belassen, Herr Hintersinn.“
Damit schien für ihn die Sache erledigt zu sein. Er stand auf und blieb mit verschränkten Armen hinter seinem Schreibtisch stehen. Ich trank den Rest des Kaffees. Er schmeckte bitter und passte zum Ergebnis unserer Unterhaltung.
Ich war schon an der Tür, da hielt er mich noch zurück. „Ich werde mit Herrn Foorozan noch einmal über Ihr Projekt reden. Er kennt sich gut in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens aus. Er kann Ihnen sicherlich mit der einen oder anderen Information behilflich sein. Doch in jedem Fall gilt, was ich schon in der Sitzung gesagt habe: äußerste Diskretion, kein Wort an Dritte, auch nicht an Firmenangehörige. Ich verlasse mich dabei ganz auf Sie!“
Damit hatte er mir nur bestätigt, was Frank vorausgesagt hatte. Sündermann & Lange setzten voll auf Kooperation mit der Pharmafirma Erkalaat. Einem Unternehmen, das mit dem syrischen Regime eng verquickt war, und vermutlich schon vor dem Bürgerkrieg chemische Kampfstoffe hergestellt hatte.
*
Immerhin hat er mir Hilfe durch Dr. Foorozan versprochen, ging mir durch den Kopf, als ich zum Treffen mit Frank fuhr. Frank wollte ich nichts über das Gespräch mit Sündermann erzählen, sonst konnte ich von ihm nichts mehr erwarten. Das Café Heinzelmann lag im Bergmannkiez in Kreuzberg. Das Dreieck zwischen der Gneisenauer, der Zossener und der Bergmannstraße war eine hippe Gegend, in der sich zunehmend Leute mit Geld niederließen, die sich trotzdem zur alternativen Szene zählten.
Um diese Zeit waren die Straßen im Bergmannkiez hoffnungslos zugeparkt. Nachdem ich zweimal vergeblich im Karree gefahren war, fand ich einen freien Platz an der Friedhofsmauer, die sich auf einer Seite der Bergmannstraße hinzog. Mir war nicht ganz geheuer, mein Auto hier abzustellen. Man hörte immer wieder, dass in den Szenebezirken teure Autos als Statussymbole der Luxussanierer demoliert oder sogar abgefackelt wurden.
Ich lief zurück zur Zossener Straße. Es hatte zu schneien begonnen und das Straßenpflaster bedeckte sich mit einer glitzernden, zarten Schneeschicht. Das Café Heinzelmann befand sich in der Nähe einer Markthalle, wo sich die alternative Szene zum Einkaufen traf. Auf dem nahegelegenen Spielplatz tobten Kinder, denen die Novemberkälte nichts auszumachen schien. Die Erwachsenen standen ein paar Meter entfernt bei den Kinderwagen. Einige hielten Kaffeebecher in den Händen, als wollten sie sich daran wärmen. Von der nahe gelegenen Passionskirche erklangen in diesem Moment fünf Glockenschläge.
Die Vorgaben der Firma kannte ich jetzt. Was mochten Franks Bedingungen sein? Angespannt betrat ich das Café Heinzelmann. Es sah gemütlich aus, nur ein wenig zu dunkel für meinen Geschmack. Auf dem Tresen stand eine Schale mit Blaubeermuffins. Ich sah mich um. Viele Tische waren besetzt und nach einem Moment entdeckte ich Frank an einem Tisch weiter hinten. Er hatte sein Handy vor sich und auf dem Tisch stand eine noch unberührte Tasse Kaffee.
Ich fühlte mich beklommen. Der vielbeschäftigte Frank Koestner nahm sich die Zeit, mir zu helfen, obwohl ich mich politisch nie engagiert hatte. In der Rolle als Bittsteller hatte ich gerade vor Sündermann gestanden. Als ich seine Villa verließ, war mir regelrecht schlecht gewesen.
Frank stand nicht auf, als ich zu ihm an den Tisch kam. Unsere Begrüßung war dementsprechend kühl. Er sagte, er hätte nur wenig Zeit und wollte deswegen schnell zu Sache kommen. Die Kellnerin brachte mir die Karte. Bevor sie wieder ging, bestellte ich einen Latte macchiato und einen Blaubeermuffin.
„So, nun fang mal an!“ Frank schlug mit einer brüsken Bewegung einen Schreibblock auf. Er machte sich Notizen, während ich ihm von der geplanten Kooperation mit der Firma Erkalaat erzählte. Dann kam ich auf die Liste der Chemikalien zu sprechen, die Erkalaat vor dem Bürgerkrieg von deutschen Firmen bezogen hatte. Frank klopfte mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch. „Und warum hast du die Liste nicht mitgebracht?“
Ich schrak zusammen. „Ich kann doch nicht einfach …“
„Es wäre viel besser gewesen, wenn du die ganze Mappe mit den Unterlagen mitgebracht hättest oder wenigstens Kopien davon!“
Ich schüttelte meinen Kopf. So ging das nicht. Die Unterlagen waren streng vertraulich, ich durfte sie weder kopieren noch aus der Firma bringen. Wenn ich das tat, konnte ich ebenso gut gleich kündigen.
Frank warf mir vor, ihm kein Vertrauen zu schenken.
„Herbert! Unser Mann muss doch wissen, worauf er sich mit dir einlässt. Er wurde vom Assad-Regime eingesperrt und gefoltert. Zum Glück konnte er gerade noch aus Syrien fliehen, bevor sie ihn umgebracht hätten. Wenn er dir hilft, du aber ihm gegenüber nicht offen bist, wird er misstrauisch. Er lebt in ständiger Angst, dass sein Aufenthaltsort in Berlin den Schergen des Assad-Regimes bekannt wird. Er befürchtet, man will ihn hier aufspüren, um ihn umzubringen.“
„Warum hast du ihn denn nicht gleich mitgebracht, Frank?
„Ich sagte doch vorhin, wir müssen vorher ein paar Dinge klären.“
„Spricht er Deutsch?“
Frank verzog das Gesicht. „Woher denn? Er spricht Englisch! Natürlich auch Arabisch, aber das Letztere bringt dir nichts, oder?“
Die Kellnerin kam mit meiner Bestellung. Ich fragte mich, ob sich durch den Latte macchiato mein Sodbrennen womöglich noch verstärken würde. Den Blaubeermuffin rührte ich vorerst nicht an.
„Du hast Schaum auf der Oberlippe“, grummelte Frank. Es schien ihn zu irritieren.
„Also …“, begann er.
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und unterbrach ihn. „Geht es um Geld? Ist es das, was du mit klären meintest? Ich kann ihn nicht aus eigener Tasche bezahlen und eine Anstellung bei Sündermann & Lange ist nicht möglich. Das hast du selbst gesagt.“
Frank verzog das Gesicht. „Du denkst immer nur an Geld! Und da ich das weiß, hatte ich an etwas anderes gedacht.“
Ich sah ihn fragend an.
„Ich dachte an Solidarität! Er ist zurzeit in einem Flüchtlingsheim untergebracht und sucht dringend eine Wohnung. Ich dachte, wo du allein in deiner großen Wohnung bist, könntest du ihn doch bei dir unterbringen, gewissermaßen als Gegenleistung für seine Hilfe, Herbert.“
„Also, ich weiß nicht so recht …“
„Herbert, ich muss dir da mal etwas erklären. In einer Flüchtlingsunterkunft gibt es keinerlei Privatsphäre, da bekommt jeder mit, was der andere macht. Und die Spitzel Assads und seiner Helfer sind überall. Nein, um dir in dieser Sache beistehen zu können, braucht er Schutz in der Anonymität.“
Ich konnte mir nicht vorstellen, in meiner Wohnung mit jemand zusammenzuleben, der mir in jeder Hinsicht völlig fremd war. „Ich weiß nicht, Frank! Hat er dir erzählt, warum er verfolgt wurde? Ich meine, wenn es nachher einer vom islamischen Staat ist?“
Er sah mich an, als hätte ich ihn gerade vor das Schienenbein getreten. „Darauf habe ich nur gewartet, Herbert! Der SOGENANNTE islamische Staat heißt es! Das Ganze hat doch mit dem Islam nichts zu tun! Merkst du nicht, dass du der russischen Propaganda und den Rechtspopulisten auf den Leim gehst? Alle, die gegen das Assad-Regime sind, sind doch nicht beim IS! Unser Mann gehört zur demokratischen Opposition.“
Ich überlegte, woher er das so genau wissen konnte. Nachdem, was ich gelesen hatte, gab es eine Vielzahl von Gruppen in Syrien, die gegen die Regierung kämpften. Manche dieser Gruppen bekämpften sich auch untereinander und welche politische Einstellung die im Einzelnen hatten, wusste man nicht so genau. Aber sicherlich hatte Frank durch seine Verbindungen bessere Möglichkeiten, um die Vertrauenswürdigkeit seines Mannes einzuschätzen. Außerdem hieß es doch, nur ein winziger Bruchteil der Flüchtlinge wären eingeschleuste Terroristen. Die Menschen in Deutschland müssten sich daher keine Sorgen machen. Es sei viel wahrscheinlicher, Opfer eines Verkehrsunfalls als eines Terroranschlags zu werden. Statistisch gesehen mochte das wohl stimmen. Trotzdem gefiel mir die Vorstellung nicht, mit einem wildfremden Menschen in meiner Wohnung zusammenzuleben. Noch dazu, wenn ihm seine Religion sehr wichtig war. Ich hatte Erika vor Augen und dachte daran, wie bereitwillig sich meine emanzipierte Ehefrau dem Islam als Lebensinhalt unterworfen hatte.
„Ich muss erst darüber nachdenken, Frank.“
Er schlug die Hände vor seinem Kopf zusammen. Es wirkte theatralisch, aber es war nur ein Auftakt für Vorwürfe, die jetzt auf mich niederprasselten.
„Herbert, ich biete dir das jetzt und nur einmal an! Es ist schon ein Gebot der Menschlichkeit, dass du ihm hilfst, selbst wenn du nicht davon profitieren würdest. Das sind schließlich Schutzsuchende, die zu uns kommen. Kannst du nicht einmal über den Tellerrand deiner egoistischen Bequemlichkeit blicken? Kannst du dir nicht vorstellen, wie das ist? Sich nur mit dem Notwendigsten auf ein unsicheres Boot über das Mittelmeer, und dann auf den langen und gefährlichen Weg nach Deutschland zu machen!“
Ich traute mich nicht, nach den Gründen zu fragen, warum Kriegsflüchtlinge erst ein halbes Dutzend friedliche Länder durchquerten, nur um nach Deutschland zu gelangen. Ich hätte auch gerne gewusst, warum er dem syrischen Ingenieur kein Obdach bei sich angeboten hatte. Aber wahrscheinlich hatte Frank bereits Flüchtlinge aufgenommen und alles getan, was in seiner Macht stand. Außerdem konnte man durch solche Fragen schnell als Nazi abgestempelt werden. Helfen würde er mir dann auch nicht mehr. Zum Glück hatte ich ihm nie von Harry und dessen Ansichten erzählt.
Ich musste zerknirscht ausgesehen haben, denn nachdem Frank mich eine Weile angesehen hatte, sprach er zu mir wie zu einem bockigen Kind: „Denk doch nur einmal darüber nach!“
Moralisch gesehen stand er auf der richtigen Seite. Seine Partei, die lange in der Oppositionsecke verharrt hatte, gehörte heute zu den Ideengebern des politischen Tagesgeschäftes. Sie war als kleines Rinnsal gestartet, um als mächtiger Fluss in den Mainstream der deutschen Politik einzumünden. Dieser Fluss trieb die anderen Parteien wie Treibholz vor sich her. Die Regierung, die Parteien, die Gewerkschaften und die Kirchen, alle hatten sich für eine Willkommenskultur ausgesprochen. Presse, Rundfunk und Fernsehen hielten das ständig am Kochen mit immer neuen Meldungen über Dramen, die sich um die Flucht der Menschen herum abspielten.
Wenn man das auch nur in Frage stellte, galt man als fremdenfeindlich und zudem als herzlos. Der Riss in der Gesellschaft wurde deutlich, die Wortwahl der beiden Lager schärfer und Argumente spielten kaum noch eine Rolle. Es war ein Bauchgefühl, das die Menschen zu der einen oder anderen Seite tendieren ließ.
Ich hatte das bisher aus der Warte des Beobachters verfolgt. Es war schon schwierig genug, sich möglichst aus allem herauszuhalten. Die Gefahr, mit einer falschen Äußerung anzuecken, war groß. Jetzt war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mich stellen musste. Frank hatte mich festgenagelt, und mir wurde flau bei der Vorstellung, Position beziehen zu müssen.
Er beobachtete, wie es in mir arbeitete. Als er erneut sprach, war es, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Herbert, es ist doch nur für eine kurze Zeit. Ein paar Wochen, nur solange, bis wir eine Wohnung für ihn gefunden haben!“
Ich musste wie ein geprügelter Hund ausgesehen haben, so schlecht fühlte ich mich in diesem Moment. „Versprichst du mir das, Frank?“
„Aber natürlich, Herbert!“
Plötzlich war bei mir die Luft raus. Ich dachte, wie einfach es doch wäre, alles so zu belassen, wie es war. So wie Sündermann & Lange es wollten. Für wen machte ich mich eigentlich verrückt? Warum war ich überhaupt hier? Schließlich war es die Verantwortung der Firma, mit wem sie Geschäfte machte und nicht meine!
Doch Frank war mir gedanklich wieder ein Stück vorausgeeilt.
„Weißt du eigentlich Herbert, dass du viel mehr in der Klemme steckst, als es dir bewusst ist? Wenn du dich nach den Vorgaben deiner Firma richtest, wird man dir früher oder später vorwerfen, du hättest Assads schmutzigen Krieg aktiv unterstützt. Stell dir doch nur mal vor, die produzieren bei Erkalaat wieder Chemiewaffen, setzen die auch ein, und du hast daran mitgewirkt! Und dann stell dir vor, die ganze Welt erfährt davon!“
Mein Blut sackte mir in die Magengrube. Wollte er mich etwa erpressen? Ich musste sehr blass ausgesehen haben, so wie ich ihn anstarrte.
Er lächelte und klopfte mir auf die Schulter. „Nur Mut! Für diesen Fall ist die Kooperation mit einem anerkannten Regimegegner doch deine beste Rückversicherung! Außerdem stehen ich und meine Partei an deiner Seite.“
Frank hatte ins Schwarze getroffen. Er lehnte sich entspannt zurück und schaute zur Decke. Als ich weiterhin schwieg, fügte er noch hinzu: „Oder aber, du kündigst fristlos bei deiner Firma und bist damit raus aus dem ganzen Spiel!“
Nachdem wir verabredet hatten, uns morgen am gleichen Ort zur gleichen Zeit mit dem syrischen Ingenieur zu treffen, war ich gegangen. Ich hatte Frank zuvor fest versprechen müssen, den Syrer, solange es notwendig war, bei mir zu Hause aufnehmen.
Der kalte Ostwind blies mir ins Gesicht. Doch das Schneegestöber hatte aufgehört, und mein Auto stand immer noch unversehrt am Platz. Ich nahm es als Zeichen, dass am Ende alles gut werden würde. Mir blieben noch genug Essensvorräte zu Hause, um heute nicht einkaufen zu müssen. Mein Sodbrennen war nach dem Blaubeermuffin stärker geworden, es war sowieso besser, das Abendbrot ausfallen zu lassen. Während der Fahrt durch die Innenstadt zogen meine Zukunftsängste mir so schnell durch den Kopf, wie der Straßenverkehr um mich herum. Was blieb, war ein Gefühl des Unbehagens. Ein Gefühl, in der Klemme zu sitzen und nicht weiter zu wissen.
Wegen des Syrienprojekts bei Sündermann zu kündigen, war für mich ausgeschlossen. Eine entsprechende Stelle in einer anderen Firma würde ich nie bekommen. Jeder neue Arbeitgeber würde sich zuerst bei Sündermann & Lange nach mir erkundigen. Frank hatte das alles von Anfang an einkalkuliert. Ich war erpressbar, ein Bauernopfer in einer Schachpartie, die Thomas Sündermann und Frank Koestner spielten. Ich konnte mir nur selbst helfen. Zuerst musste ich mehr wissen. Über Syrien, den Bürgerkrieg, Erkalaat, die Flüchtlinge und mögliche Geschäftsbeziehungen der Firma Sündermann in Syrien aus der Zeit vor dem syrischen Bürgerkrieg. Vielleicht gelang es mir irgendwann, den Spieß umzudrehen.
*
Im Hausbriefkasten lag ein Brief an mich. Er war unfrankiert und ohne Absender. Ich las die Zeilen, während ich die Treppe langsam emporstieg. Hinter Frau Steckenborns Tür war nur ein verhaltenes Knurren zu hören. Ich nahm es als Fortschritt gegenüber dem üblichen Gekläff. Als ich im vierten Stock angekommen war, hatte ich Brenneckes Brief zu Ende gelesen. „… meine Großmutter wird von einer Anzeige absehen, wenn Sie mir 1.500 Euro zur Beschaffung eines neuen Zwergpudels übergeben …“
Inzwischen war ich in meiner Küche angelangt. Ich legte den Brief auf die Anrichte. Brennecke konnte viel schreiben, aber eine Erklärung der geschädigten Großmutter enthielt sein Brief nicht. Und wenn sie trotzdem auf Schadenersatz klagte, auch nachdem ich ihm das Geld übergeben hatte? Warum hatte er den Brief nicht per Post verschickt, sondern sich sogar Zugang zum Haus verschafft, um ihn persönlich einzuwerfen? Ich bereute es inzwischen, ihm meine Adresse genannt zu haben.
Ich sah mich in meiner Wohnung um. Sie erschien mir plötzlich fremd. Die Vorstellung, sie bald nicht mehr für mich allein zu haben, gefiel mir nicht. Ich machte eine Runde durch alle Zimmer, ging ins Bad und zuletzt zurück in die Küche. Drei Monate vor der Scheidung hatte Erika die Trennung unserer Betten vollzogen und sich eine Schlafstatt im Arbeitszimmer eingerichtet. Es würde unserer Ehe neue Impulse geben, behauptete sie. Danach hatten wir nur noch einmal miteinander geschlafen. An den Streit danach konnte ich mich bis heute erinnern. Für mich war es das tatsächliche Aus unserer Ehe gewesen. Die drei Monate bis zur Scheidung zogen sich hin. Von den Überstunden, die ich in dieser Zeit anhäufte, konnte ich noch lange Zeit zehren. Das Wohnzimmer hatte ich nach der Scheidung so belassen, wie es gewesen war.
Für die Unterbringung des syrischen Ingenieurs kam nur Erikas ehemaliges Schlafzimmer in Frage. Die in Rosa gehaltene Tapete mit Blümchenmuster war nicht mein Geschmack, aber vielleicht würde sie meinem neuen Mitbewohner gefallen. Bei ihrem Auszug hatte Erika nur ihre persönlichen Sachen und den kleinen Schreibsekretär mitgenommen. Das rotlackierte Bett, ein Stuhl und der Kleiderschrank waren im Zimmer verblieben. Somit war ein Schreibtisch das Einzige, was noch zur Einrichtung eines Gästezimmers fehlte.
Im Wohnzimmer ließ ich mich auf das Sofa fallen. Ich verspürte ein Gefühl der Leere. Automatisch schaltete ich den Fernseher an, unterdrückte den Ton und zappte mich durch die wechselnden Bilder auf den verschiedenen Kanälen. Bis auf das leichte Summen der Heizung war es still, doch die sonst geliebte Ruhe nach Feierabend empfand ich nun als bedrückend. Ich war allein mit meinen Gedanken, die sich im Kreis drehten.
Punkt zwanzig Uhr wechselte das Fernsehprogramm zur Tagesschau. Der Einblendung des Nachrichtensprechers mit dem Pokerface folgten Sequenzen von Flüchtlingstrecks, die sich an der griechisch-mazedonischen Grenze stauten. Die Szene wechselte abrupt in den Bundestag. Im Fokus stand das Rednerpult, dahinter die mit einem grünen Blazer bekleidete Kanzlerin. Grün war die Farbe der Hoffnung. Ich stellte den Ton an. „… und ich sage Ihnen nochmals, dass wir es schaffen werden, wenn wir es wollen. Es ist eine Herausforderung, der wir uns in Deutschland stellen werden. Wir tun das nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa.“
Ich stellte den Ton wieder ab. Hatte Sündermann nicht auch von einer Herausforderung gesprochen? Es schien das Wort der Stunde zu sein. Das Fernsehbildbild wechselte ins Hauptstadtstudio. Der Kommentator stand, seinen Mund in stummer Rede geöffnet, neben einem Schreibtisch, gegen den Sündermanns Büromöbel wie aus einem Spielzeugladen entnommen schienen.
Ich schaltete den Fernseher vollständig aus und starrte auf die schwarze Mattscheibe. Harry hatte mir von einem Trödler in Kreuzberg erzählt, bei dem man gebrauchte Büromöbel erstehen konnte. Ich rief bei Harry an und ließ es lange klingeln, bis er endlich abhob. Er klang etwas überdreht, als hätte er schon Einiges getrunken.
Als ich ihn nach dem Büromöbel fragte, juxte er herum. Warum ich mir denn einen zweiten Schreibtisch anschaffen wollte? Ob ich etwa doppelt so viel Arbeit hätte, oder wir etwa wieder zu zweit in der Wohnung wären? Harrys scherzhafte Fragen genügten, um bei mir eine Flut von Worten auszulösen. Ich begann damit, alles zu erzählen, was mich in den letzten beiden Tagen beschäftigt hatte.
Zuerst hörte er zu, doch dann bremste er mich. „Weißt du, ich habe gerade Besuch“, sagte er leise. Im Hintergrund hörte ich Musik und eine fragende Stimme, die zu einer Frau gehörte. „Ich muss jetzt aufhören, wenn ich nicht unhöflich sein möchte.“
Harry sprach nicht viel von seiner Freundin und ich kannte sie auch nicht. Nach seinen Worten war sie unglücklich verheiratet und suchte bei ihm etwas, das sie bei ihrem Mann nicht fand. Offenbar gab es viele Frauen, wie Erika es gewesen war. Wir verabredeten uns für Samstagvormittag, um den Trödler in Kreuzberg aufzusuchen. Am Nachmittag müsste er wieder Taxi fahren, meinte Harry noch, bevor wir Schluss machten.
Mir blieb die Enttäuschung, nicht mit ihm reden zu können, bevor ich Frank und den Syrer traf. Denn wenn ich mit Harry diskutierte, wurde ich mir meiner eigenen Gedanken und Gefühle bewusster. Dabei spielte es keine große Rolle, ob wir in der Sache einer Meinung waren oder nicht.
Mein Sodbrennen war abgeklungen und nach einer Weile ging ich in die Küche, um doch noch etwas zu essen. Ich dachte an den vegetarischen Brotaufstrich. Tomate mit Olive stand auf der kleinen Metalldose. Als ich sie gerade öffnete, klingelte mein Handy. Ich hoffte, es wäre Harry. Vielleicht hatte sich sein Damenbesuch schon früher verabschiedet.
„Harry?“
„Guten Abend, Herr Hintersinn.“
Ich überlegte, woher ich die Stimme kannte.
„Brennecke hier. Sie haben ja meinen Brief inzwischen bekommen. Wie sieht es aus bei Ihnen? Wann und wo treffen wir uns zur Geldübergabe?“
Ich fühlte plötzlich, wie mein Herz klopfte. Ich log nicht gern und sagte lieber gar nichts anstatt der Unwahrheit. Aber ich wollte mir von diesem aufdringlichen Menschen nicht mein Handeln bestimmen lassen. „Ich weiß nichts von einem Brief, Herr Brennecke. Ich bin unterwegs.“
Brennecke lachte. Es klang wie das Meckern einer Ziege.
„Bitte?“
„Aber Herr Hintersinn! Sie sind seit neunzehn Uhr zu Hause. Und meinen Brief haben Sie gefunden und bestimmt auch schon gelesen. Also machen Sie mir und sich doch nichts vor!“
Ich bekam einen Schreck und unterbrach die Verbindung. Gleich darauf klingelte es erneut. Ich drückte auf die rote Taste, bis das Display des Handys erloschen war. Mein Mund war trocken. Ich trank aus dem Wasserhahn und fuhr mir mit den nassen Händen über das Gesicht. Der Appetit war mir vergangen.
Brennecke musste in der Nähe gewartet haben, bis ich nach Hause kam. Er kannte mich nicht. Doch er hatte sich nur in der Nähe aufhalten und beobachten müssen, wer aus einem schwarzen 5er-BMW mit der Nummer B-HH-1 … ausstieg. Jetzt kannte er auch mein Gesicht. Meine Adresse hatte ich ihm heute Vormittag freiwillig gegeben. Ich nahm seinen Brief in meine Hand und sah, dass sie leicht zitterte. Die Polizei hatte Brennecke meine Telefonnummer gegeben. Also mussten sie mir auch seine Nummer und seine Adresse geben. Zumindest wusste ich dann, was für ein Mensch sich hinter diesem Erpresser verbarg.