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DER KIRSCHBAUM IM SCHULGARTEN

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In die Schule unseres Dorfes ging man bis zur siebten Klasse. Ab der achten Klasse trennten sich unsere Wege. Viele gingen in die Polytechnische Oberschule des Nachbarortes, manche auf das Gymnasium in die Kreisstadt.

Unsere ersten Jahre in der Schule, ja, das war eine schöne Zeit. Damals, in den fünfziger Jahren, war noch nicht alles richtig geplant und durchorganisiert, so wie es heute ist. Hatten unsere Lehrer mal gefeiert und einen über den Durst getrunken, so war am nächsten Tag schulfrei. Es war eben so. Wir Kinder waren damit zufrieden. Die Erwachsenen störte es auch nicht sonderlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, ab Herbst 1945, wurden von Amts wegen alle Lehrer entlassen. Sie mussten als Hilfsarbeiter in Fabriken für sehr kärgliche Bezahlung arbeiten. Für sie kamen Neulehrer. Die waren in der Gefangenschaft in der Sowjetunion notdürftig geschult worden oder hatten im Schnelldurchgang einen Lehrgang absolviert, der vorwiegend politisch geprägt gewesen sein muss. Wir dachten: »Die können kaum ihren Namen schreiben, wollen uns aber was beibringen.« Einer von ihnen hat uns erzählt, dass er im Konzentrationslager Buchenwald von den Nazis eingekerkert war. Er sei sehr froh darüber gewesen, als die ruhmreiche Sowjetarmee alle Gefangenen aus dem KZ befreit hatte.

Meinem Vater das weitererzählt, sagte der dazu: »Der muss nicht recht gescheit sein. Buchenwald haben die Amis befreit. Euer Lehrer hat sicher vom Tuten und Blasen keine Ahnung.«

Nichts lernten wir nunmehr. Und das bemerkte auch der Schulrat aus der Kreisstadt. Es wurden deshalb einige von den vorher entlassenen Lehrkräften entnazifiziert. So waren sie würdig gemacht, um uns unterrichten zu können. Schnell setzte man sie wieder als Lehrer ein. Nicht in den Schulen der Städte, erst einmal bei uns auf dem Land durften sie unterrichten. So kam es, dass wir nun sehr gut ausgebildete Lehrer mit Berufserfahrung bekamen. Die meisten von ihnen waren vorher an höheren Schulen gewesen. Sicher waren sie für uns überqualifiziert. Das Lernen machte jetzt wieder richtig Spaß.

Ihre Erziehungsmethoden waren jedoch mehr von der Vergangenheit geprägt. Eine Kopfnuss, einen Klaps oder ein paar leichte Schläge auf den Hintern waren gang und gäbe. So schlimm war es für uns nun auch nicht, zumal die Alten dazu sagten: »Ein paar Schläge, ab und an, haben noch keinem geschadet, uns damals auch nicht.«

Ein Neulehrer war der Herr Klamm. Er bewirtschaftete unseren Schulgarten. Das mit der Bewirtschaftung waren eigentlich wir. Er sagte immer: Um was zu lernen, müsst ihr säen und ernten. Die Früchte aßen aber nur er selbst und die Angehörigen seiner Familie auf.

Dort im Garten stand auch ein großer Kirschbaum. Fast jedes Jahr trug er herrliche rote Herzkirschen. Bisher war es so Sitte gewesen, dass die fünfte Klasse sich diese Früchte einverleiben durfte. Alle Kinder ließen sich diese süßen Kirschen munden. Das mit der fünften Klasse – so genau hat das sowieso keiner genommen. Jeder bekam seinen Teil ab. Das musste auch sein, denn im Laden gab es zu dieser Zeit bei uns nie Kirschen zu kaufen. Die Versorgung reichte kaum für die Städte. Da kam nur das Notdürftigste zu uns in die Bergdörfer.

Wir gingen in die Fünfte und sahen es als unser verbrieftes Recht an, diese reifen Früchte für uns zu verbrauchen. Der Lehrer Klamm besorgte sich damals einen großen Schäferhund. Den Köter band er mit einer Kette an diesen Kirschbaum. Den ganzen Tag hörten wir sein Gekläffe. Kamen wir vorbei, so zeigte er uns seine scharfen Hauer.

Die Kirschen waren richtig gut ausgereift. Das Wasser lief uns im Mund zusammen. Was wollten wir aber machen? Da war der scharfe Hund. Wir, das waren mein Freund, ein Mädchen und ich.


Neulehrer Klamm

Bei meinem Freund zu Hause war gerade eine Notschlachtung des Hausschweins beendet worden. Deshalb stibitzte er eine Ringelwurst. Davon gaben wir dem Kläffer unterm Kirschbaum etwas ab. Begierig verschlang er diese Köstlichkeit. Hernach schaute uns der jetzt ruhige Geselle mit dem Schwanz wedelnd an. Wir fütterten weiter. Bald ließ er sich sogar von uns streicheln. Die Luft war rein. Keiner in der Nähe. Also banden wir den Bewacher los und an einem anderen Baum wieder fest. Ihm gefiel es.

Jetzt war für uns der Weg frei. Eilig kletterten wir auf den Kirschbaum. Begierig labten wir uns an den süßen Früchten. Wir freuten uns über diese uns vermeintlich zustehende Bereicherung unserer Nahrung. Schnell schlugen wir uns unsere Bäuche voll. Unser Umfeld hatten wir dabei total vergessen. Den Lehrer Klamm bemerkten wir deshalb nicht. Er stand plötzlich unterm Baum und schimpfte laut: »Ihr Lauser! Meine Kirschen klauen! Euch wird es schlecht ergehen!«

Ängstlich geworden, kletterten wir herunter. Der Lehrer wollte uns schon packen. Da kam unsere Lehrerin, die Frau Doktor Knörtz, dazu. Zu ihrem Kollegen gewandt, sagte sie: »Guten Tag, Herr Klamm. Schön, dass ich Sie hier treffe. Da kann ich mich gleich für die herrlichen Kirschen bedanken, die Sie mir versprochen hatten und welche die Kinder gerade für mich gepflückt haben.«

»So«, erwiderte der Lehrer Klamm. »Das wusste ich nicht.« Er ließ von uns ab. Etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd ging er in Richtung der Schule davon.

Als er außer Sichtweite war, sagte die Lehrerin zu uns: »Das war das letzte Mal, dass ich euch gerettet habe. Wann werdet ihr endlich vernünftig?«

»Jawohl, Frau Doktor«, sprachen wir und verzogen uns, erfreut über den glimpflichen Ausgang.


Lehrerin Frau Dr. Knörtz

Am nächsten Tag zur Schule hatten wir die leise Ahnung darüber, dass dies alles doch noch nicht das Ende der Fahnenstange gewesen sei. Deshalb ergriffen wir unsere Vorsichtsmaßnahmen. Wir beiden Jungen steckten das dünne Mathebuch vor den Hintern in die Hose und harrten der Dinge, die da noch kommen könnten. So waren wir einigermaßen für die zu erwartenden Hiebe geschützt. Das Mädchen brauchte nichts zu unternehmen. Mädchen bekamen keine Schläge. Die zweite Stunde. Unterricht beim Lehrer Klamm. Einen Vorwand gefunden, kam der noch zornige Lehrer auf uns beide zu. Ein langes Lineal in der Hand, wollte er uns auf den Hintern hauen. Wir beiden Jungs schrien laut auf.

Das hörte die Lehrerin, Frau Doktor Knörtz, im Nachbarzimmer. Schnell kam sie herüber und sagte zum Lehrer Klamm: »Aber Herr Kollege. Im Sozialismus schlägt man doch keine Kinder. Haben Sie das nicht auch bei Ihrer Ausbildung auf der Parteischule der SED gelernt?! Sage ich das dem Direktor, werden Sie trotz Ihrer politischen Überzeugung als Neulehrer entlassen und können in der Landwirtschaft Kartoffeln auflesen.«

Da ließ der Klamm von uns ab und ging zur Tafel. Dabei wandte er uns den Rücken zu. Die Knörtzen blinzelte uns zu, lachte leise und verschwand aus der Klasse.

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