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„Was ist los? Ein Toter? Wo?“ Die Panik seiner Frau hat sich auf Kai-Uwe übertragen. Im Halbkreis umringt die Gruppe ihre Laufkollegin, die sich zitternd mit den Händen auf den Knien abstützt.

„Mir ist schlecht, mein Kreislauf ...“, schluchzt Edeltraud, immer noch keuchend und weinend.

„Was ist passiert?“, will Manfred Pechner wissen. „Ein Totero?“

„Als ich mich im Wald hingehockt hatte, habe ich ihn gesehen.“

„Weno?“

„Den Schuh, genau neben mir unter dem Farn. Und dann das Bein und dann...“ Edeltrauds Stimme versagt, und Tränen laufen über ihr Gesicht.

„Und danno?“

„Dann habe ich gesehen, dass neben mir ein Mann auf dem Boden lag, halb von Farn verdeckt. Er lag auf dem Bauch und hat sich nicht bewegt.“

„Bist du sicher, dass der tot ist? Vielleicht ist dem auch nur schlecht“, drängelt Paul unwirsch. „Nicht jeder, der am Boden liegt, wurde von dem Tod besiegt.“

„Ich bin vor Schreck aufgesprungen und habe dabei den Schuh berührt. Der Mann ist tot, sag ich dir, mausetot, sonst hätte der doch reagiert, als ich geschrien habe.“

„Klingt überzeugend“, unterstützt Kai-Uwe seine Frau. „Kommt, wir gehen mal gucken, was da los ist.“

„Ich gehe nicht mit, da kriegen mich keine zehn Pferde wieder hin“, wehrt Edeltraud ab und setzt sich protestierend auf einen großen Findling am Weg. „Geht ihr nur, ich bleibe hier.“

„Darf ich mit oder soll ich bei dir bleiben?“, fragt Melanie schüchtern.

„Geh nur, ich komme schon zurecht.“

Die Gruppe trabt gemeinsam zweihundert Meter zurück, bis sie die Stelle erreicht, an der Edeltraud sich nach links in den Wald geschlagen hatte. Vorsichtig streifen die Läufer mit ihren nackten Beinen das dichte Unterholz zur Seite.

„Zum Glück sind hier keine Brennnesseln“, flüstert Melanie.

„Klar, sonst hätte Edi sich ja auch nicht getraut“, weist Paul sie zurecht. „Hast du Brennnesseln am Po, wirst du nicht des Lebens froh.“

„Mann, Paul, hör doch mal auf mit deinen ewigen Gedichten, das hält ja keiner aus!“ Kai-Uwe an der Spitze verzieht übertrieben gequält das Gesicht.

„Das Dichterglück am Waldesrand Kai-Uwe niemals lustig fand“, entgegnet Paul grinsend.

„Könnt ihr nicht mal ruhig sein, hier soll ein Toter liegen.“ Melanie sieht sich unsicher um. „Die Frage ist nur, wo?“

Sie sind zwanzig Meter in den Wald hinein gegangen, als Paul ausruft: „Da ist er. Ich sehe einen Schuh da hinten.“ Als sie näher kommen, gehört zu dem Schuh auch noch ein halbes Männerbein bis zu einer kurzen Hose, den Rest verdeckt ein riesiges Farnbüschel.

„Hey, Mann, geht’s Ihnen gut, können wir helfen?“, ruft Melanie neugierig.

„Halt den Mund, du siehst doch, dass der tot ist“, faucht Kai-Uwe.

Als sie fast neben dem reglosen Bein stehen, ruft Paul überrascht: „Mann, das ist ja ein Jogger!“

Kai-Uwe ergänzt: „Ja, glaube ich auch. Und die Schuhe sind von Mizuno, ganz teures Zeug. Die gleichen hat Günni auch, weit über 200 Euro, hat er mir mal erzählt.“

Er und Paul nähern sich dem Schuh und biegen das hohe Farnkraut auseinander. Die Gruppe beugt sich gemeinsam über die Lücke.

„Oh nein, oh nein!“, schreit Melanie auf und rennt wie von Taranteln gestochen tiefer in den Wald.

„Oh Scheiße, das ist ja Günni!“, ruft Kai-Uwe aus.

Unter ihnen, flach auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, liegt Trainer Günter Stock auf dem Boden und sieht in seinem gelben Laufshirt und der schwarzen Hose aus, als würde er schlafen. Einzig ein langer schwarzer Pfeil mitten in seinem Rücken lässt erkennen, dass es ihm nicht ganz so gut geht, wie es die friedliche Körperhaltung vortäuscht.

„Liegt ein Toter tot im Wald, lässt das keinen Läufer kalt“, flüstert Paul und handelt sich einen heftigen Fußtritt von Manfred ein, der blass und zitternd neben ihm steht.

„Du pietätloses Schweino, kannst du nicht mal mit deinen Gedichtos aufhören? Da liegt ein Totero, und wir kennen ihn!“

Kai-Uwe bückt sich und versucht, den Puls des Mannes am Hals zu erfühlen. „Scheint wirklich tot zu sein, ich fühle nichts! Und er ist eiskalt.“

„Natürlich ist der tot, Mann, was glaubst du denn – dass der uns was vorspielt, mit einem Pfeil im Rücken?“ Paul ist außer sich. „Verdammte Scheiße, unser Trainer ist tot, das sieht doch ein Blinder!“

Bevor das Gerangel der Männer weiter gehen kann, kommt Melanie schwankend aus dem dichteren Wald gerannt und ruft: „Da ist noch einer, eine Frau.“

„Was ist wo?“, will Kai-Uwe wissen.

„Da hinten, keine dreißig Meter weiter, liegt eine Frau, die ist auch tot. Ich musste brechen, da habe ich sie voll getroffen!“

„Wie, getroffen?“

„Mir war so schlecht von dem Günni sein Anblick, dass ich brechen musste – mein Magen ist empfindlich, wisst ihr doch. Und als ich mich vorbeugte, habe ich sie voll vollgekotzt, die lag genau unter mir in einem Loch unter dem Farn – mein Gott, die Arme, die hat einen Pfeil in der Brust …“

Mit zitternden Händen umarmt Melanie Paul und hält sich an ihm fest. „Mir wird wieder schlecht.“

Paul stößt sie zur Seite in Richtung Manfred: „Halt dich an dem fest, der ist ein starker Italiener oder so.“

Kai-Uwe übernimmt das Kommando. „Kommt, hört auf, wir sehen nach der Frau. Manni, du bleibst hier!“

„Nee, nee, ich mit dem Toten allein im Waldo, daraus wird nichts. Ich komme mit! Edgar kann bleiben, der ist Handwerkero, der hält das aus.“

Edgar Kornfeld nickt ergeben und setzt sich auf einen dicken Baumstamm: „Aber bleibt nicht zu lange weg.“

Die restlichen drei Männer folgen Melanie tiefer in den Wald. Dreißig Meter weiter sehen sie die Katastrophe: In einem kleinen Erdloch liegt eine Frau in einem blauen Trainingsanzug auf dem Rücken, zur Hälfte von Unterholz und Farn verborgen, das dunkle Haar verdreckt und verkrustet. Die Beine sind übersät von Melanies Mageninhalt, aus der linken Brust ragt ein grüner Pfeil wie eine Blume in den Himmel. Etwas weiter weg liegen zwei Walking-Stöcke über Kreuz auf dem Boden.

„Mannomann, da hast du aber gut getroffen,“ lässt sich Paul in Richtung seiner Laufkollegin vernehmen.

„Das ist doch nicht meine Schuld, ich trinke vor dem Laufen morgens immer einen halben Liter Milch, das weckt mich auf, du alter Nörgler“, erwidert Melanie.

„Könnt ihr nicht mal aufhören, euch zu zanken?“ Kai-Uwe muss wieder den Chef spielen. „Zwei Tote im Wald, so nah zusammen und beide mit einem Pfeil ermordet, das kann doch kein Zufall sein, was meint ihr?“

Paul fasst sich als erster: „Natürlich ist das kein Zufall, das ist ein eiskalter Doppelmord. Wir müssen die Polizei anrufen.“

„Werden die uns verdächtigen oder so?“, fragt Melanie ängstlich.

„Keine Ahnung, aber wenn die DNA-Spuren aus der Milch ausgewertet sind, finden sie dich sicherlich über ihre Dateien. Dass mir keiner Spuren verwischt, es reicht schon, dass hier überall unsere Fußstapfen auf dem Boden zu sehen sind.“ Kai-Uwe gilt in der Laufgruppe als enger Freund von CSI Las Vegas, CSI New York und CSI Miami und soll sich mit Ermittlungsverfahren auskennen.

„Ich bin in keiner Datei, ich habe nichts getan, ich bin unschuldig.“ Melanie wimmert vor sich hin und reibt ihre verquollenen Augen.

„Wir müssen zu Edeltraud, die meint sicherlich, wir wären verschollen, so lange, wie wir schon weg sind.“

Kai-Uwe stampft als erster zurück zu Edgar, der immer noch auf seinem Baumstamm den ersten Toten bewacht. Sie schildern ihm schnell die schaurigen Einzelheiten des zweiten Fundes und machen sich auf den Weg zu Edeltraud.

Die wartet in der Tat ungeduldig, wirkt aber schon wieder gefasst und vor allem sehr wütend: „Wo bleibt ihr denn? Den Toten könnt ihr doch sowieso nicht mehr lebendig machen, da braucht ihr euch doch nicht so lange im Wald aufzuhalten, oder? Wir sollten die Polizei anrufen, die muss schnellstens die Spuren sichern.“ Auch Edeltraud kennt sich aus. „Wer hat ein Handy dabei?“

Ihr Ärger verwandelt sich schnell in einen neuen Weinkrampf, als sie von der Identität ihres Toten hört und dann auch noch die zweite Leiche hinzukommt. „Mein Gott, Günni, das hat er nicht verdient! Wer ist denn die Frau?“

„Woher sollen wir das wissen?“, ärgert sich Paul Reimann. „Als wir der Toten näher kamen, fragte keiner nach dem Namen. Obwohl, warte mal, auf der Trainingsjacke war ,Eva’ aufgestickt, dann wüssten wir ja schon einmal den Vornamen.“

„Bist du sicher?“, fragt Kai-Uwe. „Ich habe nichts gesehen vor lauter Dreck.“ Er fühlt sich in seiner Ehre als CSI-Experte gekränkt und umarmt schützend seine Frau, um von der Niederlage abzulenken.

„Wir können die Polizei nicht anrufen, dann wissen die, wer wir sind, und verhaften Melanie wegen Mord oder Leichenschändung. Milchsaft an dem Leichenknie verzeiht die Polizei dir nie“, gibt Paul zu bedenken.

Edeltraud stimmt ihm eilig zu: „Ja, und da sind ja auch noch meine Spuren an oder neben seinem Bein. Oder auf seinem Schuh, ich weiß es nicht.“

Edgar Kornfeld mischt sich zum ersten Mal ein: „Ich habe mein Privatfunkofon bei, da wird die Rufnummer unterdrückt. Die Rückrufe auf meinem Dienstfunkofon reichen mir.“

Edeltraud lacht auf. Sie erinnert sich an eine hitzige Diskussion unter den Laufmännern, als man versuchte, ein anderes Wort für das übermächtige ,Handy’ zu finden. Edgar Kornfelds ,Funkofon’ war einer der abwegigsten Vorschläge gewesen, aber er ließ sich nicht beirren und beharrte auf seiner Idee, ohne sich durchsetzen zu können.

„Es kann sein, dass neueste Datentechnik die Nummer herausfiltert, auch wenn sie unterdrückt wird. Und wenn das geht, kann das sicher auch die Polizei“, wirft Kai-Uwe ein, um ein wenig von seiner Anerkennung als CSI-Fachmann zurückzugewinnen. „Ich schlage vor, wir halten auf dem Rückweg an einer ganz gewöhnlichen Telefonzelle und rufen von dort aus an. Anonym. Hat jemand 20 Cent dabei?“

Läufers Fall

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