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Sanft dringt der Klang der Türglocke durch das Büro, lässt Ambrosius Läufer aus seinen Träumen aufschrecken und auf die Uhr blicken. Verdammt, schon 18 Uhr, das muss Andreas Schirm sein.
Er hatte sich nach dem Telefonat am Morgen wieder ans Aktenschieben begeben und mittags in der benachbarten Imbissbude eine Currywurst mit Pommes geholt, die er mit dem vierten Espresso des Tages herunterspülte.
Seit dem vorigen Jahr hatte er sich geweigert, das Fast-Food-Stübchen zu betreten, war dann aber zögernd der Aufforderung von Achim Alter gefolgt („Ambrosius, ich kann dich verstehen, du hast ja auch mein ganzes Mitgefühl, und Heidelinde sieht das genauso, aber auf die Bequemlichkeit einer Pommesbude im Nebenhaus zu verzichten, nur weil sie Eva’s Frittentempel heißt, ist absolut dämlich. Ich sage dir, du gehst da hin und wenn ich dich begleiten muss …“).
Er war schließlich doch alleine in den Laden gegangen, nachdem er zunächst die bunte Schaufenster-Beschriftung einige Minuten von der gegenüberliegenden Straßenseite aus betrachtet hatte. In großen sonnengelben Lettern stand auf der Scheibe kunstvoll gebogen ,Eva’s’, darunter etwas kleiner und gradlinig in Giftgrün ,Frittentempel’. Ein Schauer war über seinen Rücken gelaufen, und die linke Hand zitterte unruhig an der Hosennaht.
Seine Anspannung ließ erst nach, als er sich als Nachbar vorstellte und im Gespräch mit der freundlichen Inhaberin erfuhr, dass ,Eva’ überhaupt nicht in dem Imbiss arbeitete. Der Name war ein Relikt aus den Gründungstagen Mitte der achtziger Jahre, als Eva Knobloch das Geschäft gegründet und erfolgreich ausgebaut hatte. Vor einem Jahr hatte ihre Tochter Anna dann den Imbiss übernommen, war ein paar Straßen weitergezogen und leitete den Frittentempel nun gemeinsam mit ihrem Mann Theodor Müslich („Wissen Sie, als gelernte Sozialpädagogin, und mein Mann ist eigentlich Eisenbieger, stellt man sich sein Berufsleben natürlich anders vor, aber nach Mutters plötzlichem Tod haben wir uns entschieden, ihr Lebenswerk fortzusetzen und sind jetzt ganz zufrieden mit dem Zuspruch.“). Seine erste Currywurst vor einem halben Jahr war der Beginn einer freundschaftlichen Beziehung zu den Inhabern, die mit wechselnden Tagesgerichten und günstigen Preisen ihren mehr als guten Namen im Viertel gefestigt hatten.
Nach dem letzten Espresso des Tages, einer kalten Cola aus dem Imbiss und einigen verschobenen Aktenbergen beschloss Ambrosius Läufer gegen 16 Uhr, sich eine kleine Erholungspause zu gönnen, legte die Füße auf den Tisch und stützte den Nacken auf der Lehne des Schreibtischstuhls ab. Und schlief sofort ein. Die Anstrengungen des Tages spülten wirre Filmsequenzen in einen endlosen Nachmittagstraum, aus dem es kein Entkommen zu geben schien.
Sein Vater hetzte ihn wie ein Tier über die braune Wiese des häuslichen Gartens, versuchte ihn zu fangen und schrie: „Eva ist tot, Eva ist tot, tot, tot, tot!“ Sein wutentbranntes Gesicht kam immer näher, fast hatte er Ambrosius erreicht, da rief die Mutter aus der Hoftüre: „Hallo ihr beiden, Essen ist fertig.“
Sofort wechselte das Bild. Zu dritt saßen sie am Mittagstisch, er auf einem Stuhlkissen, weil er sonst zu klein war, um an Messer und Gabel zu kommen. Auf den Tellern lagen rostige Nägel in einer Kirschsoße an Spinatmousse, in den Salatschüssel sprangen grüne Heuschrecken auf und ab und zwitscherten: „Eva ist tot, Eva ist tot, tot, tot, tot!“
Sprunghafter Szenenwechsel. Er lag an einem einsamen Weiher, die Sonne wärmte die nackte Haut über der knappen Badehose. Auf der Decke neben ihm ein junges Mädchen, nein, eine junge Frau im Bikini. Sie lachten und flirteten, die Luft war erfüllt vom Geruch frisch geschnittenen Grases, er war verliebt, er war so verliebt, er hätte die ganze Welt umarmen können, verliebt wie er war. Er war so verliebt, so verliebt …
Donner! In Sekunden zog sich der Himmel zu, drohende dunkle Wolken rasten von Horizont zu Horizont, Blitze schlugen wie Peitschen aus den Wolken, stürmischer Wind kam auf. Die junge Frau war verschwunden, statt dessen lag er auf einer schwarzen Asphaltstraße am Fuß eines mächtigen Gebirges mit schneeweißen Gipfeln. Er fror erbärmlich in seiner Badehose, sprang auf und suchte mit den Augen die Umgebung nach einer Schutzmöglichkeit ab. Eine enge Straßenkurve führte aufwärts, unten lag nach saftigen Blumenwiesen eine kleine Ortschaft hinter Wolkenbergen versteckt, die immer mehr sintflutartigen Regen auf seine Schultern schütteten. Plötzlich vernahm er ein brummendes Geräusch, das schnell zu einem fürchterlichen Brausen anschwoll. Er stand halbnackt wie eingefroren auf der nassen Fahrbahn, unfähig, sich zu bewegen oder zu reagieren. Ein riesiger LKW raste abwärts durch die Kurve auf ihn zu, er schrie auf, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. In der Windschutzscheibe leuchtete ein Schild ,Il Tedesco’. Die Motorhaube war zum Fassen nah, er schrie wieder, ruderte verzweifelt mit den Armen …
„Dingdong, dingdong, dingdong.“
Andreas Schirm! Ambrosius schreckt auf und versucht, sich zu orientieren. Der Schock, überfahren zu werden, rüttelt an seinen Nerven und lässt die Hände unkontrolliert zittern. Meine Güte, das war mal wieder knapp, denkt er erleichtert.
Er eilt zur Sprechanlage, murmelt ein schnelles „Einen Moment bitte, bin gleich für Sie da“ in die Sprechmuschel und wirft ein paar Hände kaltes Wasser in sein blasses Gesicht, das ihn verstört aus dem Toilettenspiegel anschaut. Mit einer Haarbürste glättet er hastig die verwirrten Locken, dann sprintet er zurück zur Eingangstür und drückt hastig auf den Türöffner.
Als Andreas Schirm langsam und zögernd eintritt, sitzt er schon an seinem Schreibtisch hinter den Aktenstapeln des Tages, kommt dann aber schnell näher und begrüßt seinen Besucher freundlich mit einem festen Händedruck: „Hallo, guten Tag, Ambrosius Läufer, ich nehme an, Sie sind Herr Schirm?“
„Tag Herr Läufer, ja, Andreas Schirm, wir hatten telefoniert, wegen meiner Frau.“
„Schön, setzen Sie sich bitte. Einen Espresso?“
„Gerne, aber mit Milch und ohne Zucker.“
Andreas Schirm setzt sich vorsichtig auf die Vorderkante des kleinen Besucherstuhls, als traue er dessen Stabilität nicht („Ambrosius, biete immer den kleinen Holzstuhl von Oma Schneider an, dann sitzt dein Kunde viel niedriger als du und muss zu dir aufsehen. Das kann für euer Verhältnis in deinem Sinn nicht schädlich sein, glaube mir, hahaha.“).
Während Ambrosius in der Teeküche werkelt, versucht er, sich ein Bild von seinem Besucher zu machen: Mitte vierzig, groß, schlank bis schmal, der Ansatz einer Glatze war über den Ansatz schon hinaus, und eine dunkle Hornbrille beherrscht das blasse bartlose Gesicht. Die helle Jeans mit Bügelfalte, beige Treter mit blonden Schnürsenkeln und ein dunkelroter Pullover unter einer grasgrünen Lederjacke malen ein vernichtendes Bild von den modischen Talenten des Sportjournalisten.
„Möchten Sie ablegen?“, fragt Ambrosius, als er mit zwei dampfenden Tassen und der Milch zurück ins Büro kommt.
„Nein, danke, ich muss gleich noch schnell zu einem Termin“, antwortet Andreas Schirm hastig. Erst jetzt bemerkt Ambrosius den Schulterriemen einer Fototasche, die Schirm umständlich auf seinem Schoß hin und her schiebt. „Jubiläum eines Sportvereins, Sie wissen schon, viele Reden, ein bisschen Programm, immer das Gleiche.“
„Haben Sie das Bild dabei?“
„Ja, einen Moment.“ Andreas Schirm kramt in den Seitenfächern seiner Fototasche, die er soeben umständlich über die Stuhllehne gehängt hat, und findet nach einer langen Minute den gesuchten Briefumschlag.
„Hier, ist noch gar nicht alt, letzter Sommerurlaub in Patagonien.“
Ambrosius nimmt den braunen Umschlag über den Schreibtisch hinweg entgegen und findet darin einen Abzug im Format 9 x 13 cm. Während er das Bild betrachtet, fragte er irritiert: „Kleiner ging’s wohl nicht, oder?“
„Wir lassen unsere Abzüge immer in dem Format machen, ist billiger“, antwortet Schirm pikiert.
„Schon gut, war ja nur eine Frage.“
Ambrosius wendet sich wieder dem Foto zu. Schon auf den ersten Blick hat er gesehen, dass Eva Schirm eine fesche Erscheinung ist. Sie steht vor den Sonnenschirmen eines Biergartens und winkt voller Urlaubsfreude lachend in die Kamera. Das dunkle, fast schwarze Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden, ein gelbrotes T-Shirt sitzt eng am Körper und lässt ihre weiblichen Formen mehr sehen als ahnen.
„Tolle Frau, Ihre“, lässt Ambrosius sich schließlich vernehmen.
„Ja, danke, ich bin zufrieden, hätte schlimmer kommen können“, grinst Andreas Schirm. Das Eis scheint gebrochen, denn er plappert weiter. „Wir haben uns im Urlaub kennen gelernt, in Spanien, auf Mallorca, vor elf Jahren. Mann, waren wir jung damals. Und jetzt …“ Seine Augen verdunkeln sich plötzlich. Er rutscht auf dem Stuhl hin und her.
„Und jetzt ist sie weg“, ergänzt Ambrosius leise. „Deswegen sind Sie ja hier. Erzählen Sie weiter.“
„Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass ich meine Frau gestern zuletzt gesehen habe. Ich musste nach Leverkusen. Sie wollte noch etwas nähen, einen Brief schreiben und dann gegen 16 Uhr zum Nordic-Walking in ihren Verein fahren.“
„Das sagten Sie bereits heute morgen. Und weiter?“
„Als ich um 20 Uhr nach Hause kam, war sie nicht da. Ich habe bis gegen 23 Uhr gewartet und bin dann ins Bett gegangen. Ich konnte aber nicht schlafen und habe mich die halbe Nacht hin und her gewälzt. Vor Sorge. Wir waren noch nie getrennt, und wenn sie einmal später kam, hat sie mich angerufen. Aber das war ganz selten der Fall. Morgens war sie immer noch nicht da, darum habe ich mit Freunden und Bekannten telefoniert. Aber keiner wusste etwas. Ich war total fertig und bin dann zur Polizei gefahren. Das Ergebnis kennen Sie ja. Sie müssen sie suchen, bitte!!“
„Wo der Zufall uns zusammengeführt hat und ich morgen früh etwas Zeit habe, sollte das kein Problem sein“, antwortet Ambrosius mit fester Stimme und nimmt noch einmal das Foto intensiv in Augenschein.
„Apropos Zufall, ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe heute morgen nicht die ganze Wahrheit gesagt, beziehungsweise, ich habe etwas verschwiegen, aber ohne Absicht, glauben Sie mir.“ Die letzten Worte fügt Andreas Schirm hastig hinzu, weil er Ambrosius’ überraschtes Stirnrunzeln bemerkt.
Er nimmt seine Dosenmilch und verdünnt ungeschickt den Espresso. „Ist ja nur eine Kleinigkeit und eigentlich nicht von Bedeutung: Ich kenne Ihre Agentur über Heidelinde Alter.“
„Sie kennen Frau Alter?“
„Ja, aber nur ganz entfernt. Sie ist eine Sportkollegin meiner Frau im Walking-Klub – die beiden haben schon die eine oder andere Strecke mit ihren Stöcken zermalmt, hahaha.“ Andreas Schirm ahmt im Sitzen schwungvolle Armbewegungen nach und scheint sich plötzlich köstlich zu amüsieren.
Witzbold, dachte Ambrosius angewidert, wenn keiner da ist, macht er sich über andere lustig, das haben selbst Nordic-Walker nicht verdient. Sind ja irgendwie auch Menschen, sage ich immer.
„Und da ist Ihnen Heidelinde begegnet?“
„Ja, zwei, drei Mal, bei Sommerfesten oder so. Und als ich im Branchenbuch den Namen ,Alter-Nate’ sah, fiel mir Heidelinde wieder ein, ich weiß, dass ihr Mann Schnüffler ist.“
„Schnüffler?“
„Oh, bitte entschuldigen Sie, das war jetzt nicht despektierlich gemeint, ist nur so ein Ausdruck aus dem Fernsehen. Nichts gegen Sie persönlich oder Ihren Beruf, beileibe nicht!“
Auch noch frech werden, denkt Ambrosius, das haben wir gern.
Kühl antwortet er. „Ist schon gut, wir sind einiges gewöhnt, man kann sich seine Klienten schließlich nicht immer aussuchen. Nichts gegen Sie“, fügt er betont eilig hinzu, als er eine leichte Zornesröte auf den Wangen seines Gegenübers bemerkt. „War nur allgemein gemeint. Wo soll ich denn anfangen, was meinen Sie?“
Der wieder erblasste Andreas Schirm wiegt zögernd den Kopf: „Wenn ich Sie wäre, könnte ich mir gut den Walking-Klub vorstellen, schließlich wollte Eva ja am Samstagnachmittag walken gehen.“
Walken gehen, walken gehen, denkt Ambrosius, ein gutes Bild, auf jeden Fall besser als „rennen gehen“.
„In Ordnung, dann werde ich mich morgen früh mal dahin auf den Weg machen. Adresse?“
Andreas Schirm nennt ihm die Anschrift des Walking-Klubs, zahlt anstandslos das Mindesthonorar, dankt für die Quittung, gibt Ambrosius seine Visitenkarte und nickt kurz ein „Dann mal viel Erfolg!“ – weg ist er, auf dem Weg zu seinem Interview.
Komischer Kerl, plappert wie die Feuerwehr, obwohl seine Frau vermisst wird, denkt Ambrosius hinter ihm her. Aber egal, einfacher Fall bleibt einfacher Fall, und die Geldscheine knistern fröhlich in seiner Hosentasche.
Schon fast 19 Uhr. Nein, erst nach halb sieben – egal, es wird Zeit, dass er nach Hause kommt, nach dem anstrengenden Tag. Ein kurzer Wischer über das Geschirr und die Arbeitsplatte der Küche, und schon sieht alles wieder wie neu aus. Ambrosius schaltet den PC aus, schnappt sich seinen Mantel und macht sich auf den Weg zur Tür, als das Telefon summt. Ein Kunde? So spät? Er nimmt ab und murmelt wieder stoisch seine Begrüßungsformel in den Hörer, als er ein wimmerndes Schluchzen am anderen Ende vernimmt.
„Hallo, wer ist da bitte?“, unterbricht er seine Aufzählung. Keine Antwort, nur weinerliche Geräusche in der Leitung.
„Hallo, wer sind Sie, was soll das?“ Langsam wird er wütend. Reicht es nicht, dass ihn im Büro und auch zu Hause haufenweise Anrufe dieser unseligen Telefonverkäufer von Gewinnspielen, speziellen Aktiensonderangeboten und unschlagbaren Handytarifen erreichen, die er zwar ständig unfreundlich auflaufen lässt, deren Menge aber noch von ihrer ruppigen Hartnäckigkeit übertroffen wird?
Ist das eine neue Masche, Mitleid zu erwecken? Kommt gleich ein Spruch wie „Hallo Herr Läufer, ich nehme an, dass Sie unser Angebot einer Sonderemission einzigartiger Aktienpakete zum Spezialpreis eigentlich gar nicht benötigen, bedenken Sie aber bitte (Schluchz), dass ich als alleinerziehende Mutter auf die Provision angewiesen bin (Schluchz) und außer meinen eigenen vier Kindern auch noch mein Patenkind in Indien ernähren muss (Schluchz), das sich auf den langen Schulweg vor zwei Wochen das linke (Schluchz) Standbein gebrochen hat und nun abends für seine Eltern nicht mehr in der Lage ist, die geforderten tausend Reihen Teppichknüpfung im Stehen zu erledigen (Schluchz), was nun der Vater selbst übernehmen (Schluchz) (Schluchz) und daher auf die Nachtschicht im Taxibetrieb verzichten muss und deswegen der Mutter nicht mehr beim Abwaschen helfen kann, die arme Frau – helfen Sie mir und Asien, bitte (Schluchz) (Schluchz) (Schnief)!“?
„Verdammt, melden Sie sich – wer ist da?“
„Ambrosius, bist du das?“ Das Weinen stockt ein wenig.
„Natürlich, und wer sind Sie?!
„Hier ist Heidelinde (Schluchz), es ist so schrecklich (Schluchz)!“
„Hallo Heidelinde, entschuldige, ich habe dich gar nicht erkannt. Beruhige dich doch – was ist denn passiert? Ist Achim etwas zugestoßen bei euch da oben?“
„Nein, nein, Achim geht es gut – aber Eva ist tot!“
Ein wilder Stromschlag trifft mitten in sein Herz, es rast los, Schwindel lässt ihn nach der Schreibtischplatte greifen, um Halt zu finden, der Mantel fällt zu Boden. Ihm wird speiübel.
„Was soll das, Heidelinde, das wissen wir beide schon seit einem Jahr. Musst du mich spät am Abend so erschrecken?“
„(Schluchz) Oh, tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe, ich hatte nicht an deine (Schluchz) Eva gedacht. Ich meinte doch Eva Schirm, meine Walking-Freundin aus Mülheim (Schluchz). Sie ist tot!“
„Und woher willst du das wissen?“
„Wir haben hier Satelliten-Kabel-Fernsehen oder so und vorhin haben wir in die ,Aktuelle Stunde’ aus Duisburg hineingeswitcht. Und da haben sie gemeldet, dass im Duisburger Wald zwei Leichen gefunden worden sind, mit Fotos von der Frau. Es ist Eva Schirm, meine Freundin aus dem Walking-Klub – ist das nicht schrecklich?“
„Herr Schirm war vorhin hier und gab uns den Auftrag, sie zu suchen, weil er sie seit gestern vermisst, Heidelinde.“
„Was? Andreas, er war bei dir?“
„Ihr duzt euch? Er hat mir gesagt, er hätte dich nur zwei, drei Mal bei irgendwelchen Sommerfesten getroffen. Ganz unverbindlich, meinte er.“
„Ah, ja, ähm, das mit dem Duzen ist unter Sportlern doch wohl üblich, oder?“
„Kann sein, ist auch egal. Und du bist sicher, dass die Tote Frau Schirm ist?“
„Ganz sicher. Meine Güte, dieses Foto verfolgt mich, seit ich es gesehen habe. Kein Zweifel, dass es Eva ist, die Arme, so blass, so tot (Schluchz)!“
„Du hast von zwei Leichen gesprochen. Kennst du denn die zweite auch – weißt du, wer das ist?“
„Nein, den Mann kenne ich nicht. Der war so (Schluchz) um die fünfzig, den haben wir noch nie gesehen, meint Achim auch. Herrje, ist das schrecklich!“
„Dann gehe ich morgen früh gleich zur Polizei und melde mich bei denen mit deiner Zeugenaussage. Die sollen sich um Andreas Schirm kümmern, das ist deren Job.“
„Gute Idee. Wir können hier noch nicht weg, weil wir bis Donnerstag gebucht haben, aber abends sind wir immer im Hotel (Schluchz). Halte uns auf dem Laufenden, das Handy haben wir ja auch immer dabei (Schluchz).“
„Alles klar, Heidelinde, ich kümmere mich um alles. Nun beruhige dich bitte, du kannst es sowieso nicht ändern. Und grüße Achim schön von mir, ja?“
Es schellt. Ich gehe zur Sprechanlage: „Ja, bitte?“ Ich höre unter Krächzen: „Hallo, hier ist Kai-Uwe Gaukel mit Frau.“
„Ja und“, antworte ich leicht säuerlich, „was wollen Sie?“
Ich erinnere mich daran, wie vor einigen Wochen zwei Typen von den Zeugen Jehovas an der Haustüre in Kontakt mit mir treten wollten und ich echt Schwierigkeiten hatte, sie loszuwerden, nachdem sie hörten, dass jemand zu Hause war.
„Wir sind keine Zeugen Jehovas, wenn Sie das meinen. Wir wollen mit Ihnen über Ihr neues Buch sprechen.“
Das kann zwar ein Trick sein, aber man soll immer an das Gute in der Welt glauben – also drücke ich auf den Türöffner und trete ins Treppenhaus, um meinen Besuch zu begrüßen.
Ein kleiner schlanker Mittfünfziger stolpert fast die drei Stufen hoch, gibt mir die Hand und verneigt sich leicht.
„Wie gesagt, ich bin Kai-Uwe Gaukel, und das ist meine Frau Edeltraud“, weist er hinter sich. „Wir kennen uns vom Telefon.“
Die Frau kommt auch die Stufen hoch und grüßt mit erhobener Hand: „Hei, freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ Auch sie ist Mitte Fünfzig, schlank und dunkelblond mit einem Stich ins Graue. Ich habe mir die beiden etwas größer vorgestellt.
Nach meinem „Treten Sie ein“ treffen wir drei uns im Wohnflur, von wo aus ich in die Küche bitte. Nach dreimaligem „Nach Ihnen“ zwischen Kai-Uwe Gaukel und mir schiebt er seine Frau voran, und wir folgen.
Sie sehen sich aufmerksam um. „Schön haben Sie’s hier“, nickt Frau Gaukel anerkennend. Wir setzen uns über Eck an den Küchentisch.
„Danke, wir fühlen uns auch sehr wohl hier. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Wasser oder was?“
„Käffchen wäre nicht schlecht, wenn es keine Umstände macht, mit Milch und Zucker bitte. Für meine Frau schwarz“, Kai-Uwe Gaukel tätschelt die Hand seiner Edeltraud. „Sie ist auf Diät.“
„Was du immer erzählst, ich will nur auf mein Gewicht achten, das kann man doch nicht Diät nennen, das ist nur Vorsicht!“
„Okay, es bleibt dabei, keine Milch und keinen Zucker für meine Frau, sie ist auf Vorsicht.“
Während ich routiniert die Kaffeemaschine anwerfe und Geschirr auf den Tisch stelle, flüstern die beiden sich gegenseitig etwas ins Ohr.
„Was kann ich denn für Sie tun?“, unterbreche ich das Getuschel etwas zu laut vom Küchenschrank her. Die Kaffeemaschine läuft, und ich setze mich wieder.
Kai-Uwe Gaukel räuspert sich: „Ja, ähm, wir, ähm, wie gesagt, ähm, wir haben noch eine Bitte an Sie als Schriftsteller.“
„Na ja, Schriftsteller ist vielleicht etwas zu viel der Ehre – ich habe ja erst ein Buch veröffentlicht, vor über drei Jahren.“
Edeltraud Gaukel ereifert sich: „Aber dieses Buch ,Mission Marathon – Wie ich kein Superläufer wurde’ ist total toll, wir haben geweint vor Lachen. Weil wir auch laufen und uns alles so bekannt vorkam. Könnten Sie mir vielleicht ein Autogramm geben?“
Sie kramt lange in ihrer riesigen Handtasche und zieht mein Buch heraus. Ich hole meinen Füllfederhalter aus dem Arbeitszimmer und schreibe wie immer auf die erste Seite „Herzlich Ihr Lothar Koopmann“.
Schweigen entsteht.
„Und jetzt, was wollen Sie sonst noch von mir?“, frage ich gerührt.
Kai-Uwe übernimmt wieder das Wort: „Wie schon am Telefon gesagt, wollen wir, dass Sie im zweiten Buch über unseren Lauftreff schreiben, neue lustige Geschichten bringen, so wie beim ersten Buch, Wettkämpfe, Stürze, all den ganzen Kram, den wir erleben. Ein Buch über mich und meine Frau, Melanie, Ambi, Edgar, Manfred, Paul und all die anderen. Lustige Lektüre. Und bitte nicht so viel über Leichen, das ist ja schaurig!“
Die Kaffeemaschine blubbert aus, und ich schenke ein.
„Leider habe ich keine Plätzchen da. Wenn die erst einmal in der Wohnung sind, esse ich dauernd nur Süßigkeiten, Sie verstehen?“
„Kein Problem“, beruhigt mich Edeltraud Gaukel. „Das kenne ich, ich bin da auch vorsichtig. Was meinen Sie zu dem Vorschlag?“
Ich überlege. Eigentlich immer noch eine gute Idee. Meine eigenen Erfahrungen mit dem Joggen bis hin zum Marathon habe ich ja schon festgehalten in dem ersten Buch, da bin ich ausgesaugt. Aber so ein neuer lustiger Lauftreff, praktisch die Nachfolger ohne meine Wenigkeit und meine angetraute Ehefrau Christa, das könnte etwas bringen. Das wäre dann ein altes Thema im neuen Gewand. Die Metamorphose schlechthin. Machen andere ja auch, sich an den eigenen Erfolg anzuhängen. Und schließlich habe ich ja sogar schon angefangen ...
Ich schlürfe meinen Kaffee und blicke in vier leuchtende Augen vor mir, die gespannt auf meine Antwort warten.
Kai-Uwe Gaukel nickt mehrfach und fragt: „Und, was meinen Sie, ist das eine Idee? Wie finden Sie das?“ Er lächelt und hebt seine Tasse mit einer stummen Bitte um Nachschub.
Während ich langsam nachschenke, um Zeit zu gewinnen, wirft Edeltraud Gaukel ein: „Und wir wünschen uns für das Buch wieder solche Fußnoten wie in ,Mission Marathon’ mit den bescheuerten Anmerkungen aus Redaktion und Verkauf des Verlages, die durch einen bedauerlichen Fehler im ersten Buch mit abgedruckt wurden – eine super lustige Sache, finden wir. Was haben wir gelacht …!“
„Meinen Sie denn, den Fehler würde der Verlag noch einmal übersehen? Ich denke, der Schuldige ist doch längst geschasst oder so.“ Ich bin skeptisch.
„Man könnte ja absichtlich falsche Fußnoten schreiben und dann im Buch nur so tun, als seien sie im Verlag übersehen worden.“
Ich ereifere mich: „Das glaubt einem doch keiner – absichtlich falsche Fußnoten in einem Buch abgedruckt, also nein, wie verrückt ist das denn!“
Kai-Uwe beschwichtigt: „Na gut, über die Fußnoten kann man immer noch nachdenken, zuerst geht es uns um das Grundsätzliche: Machen Sie das neue Buch lustiger und leichenloser als bisher oder nicht?“
„Ich muss noch über ein paar Einzelheiten nachdenken. Die Idee selbst ist grundsätzlich prima. Mal sehen, kann ich mir aber gut vorstellen.“
Kai-Uwe Gaukel schlägt mir auf die Schulter. „Mein Lieber, Sie haben soeben eine weise Entscheidung getroffen. Ich sehe uns schon ganz oben auf der Spiegel-Bestsellerliste: ,Mission Marathon II – Wie wir keine Superläufer wurden’ – wenn das kein Supertitel ist, will ich nicht mehr Gaukel heißen. Aber wir schweifen ab. Uns ging es vor allem darum, rechtzeitig den Finger zu heben und Verbesserungsvorschläge zu machen. Wir wollen Sie auch nicht länger aufhalten, Sie sind sicher als Schriftsteller viel beschäftigt. Wir lassen Sie jetzt alleine. Machen Sie es gut, mein Lieber!“
Er steht auf und hält mir die offene rechte Hand in Augenhöhe entgegen. Ich tue ihm den Gefallen und schlage ein. Das gleiche bei Edeltraud. Ich begleite die beiden zur Haustür, und wir verabschieden uns sehr herzlich mit engen Umarmungen und zwei Küsschen auf die Wangen, tauschen unsere Handynummern aus und versprechen einander, in Kontakt zu bleiben. Der Pakt lautet: Wir schweben der Bestsellerliste entgegen.
Edeltraud geht schon zum Auto, als Kai-Uwe Gaukel sich noch einmal umdreht, mich am Arm berührt und mir verschwörerisch zuflüstert: „Und denken Sie bei der Geschichte vor allem an eines: Sex sells. Ein bisschen Porno tut dem Verkauf gut, mein Lieber.“