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2. Die Familie Enders

Lisas Zuhause war, seit sie denken konnte, das Haus in der Kastanienallee 5 im kleinen, beschaulichen Neustadt. Irgendwo in der Ferne, ungefähr 100 Kilometer weit weg, lag Frankfurt. – Die Stadt am Puls der Zeit, wie Papa zu sagen pflegte, wenn er mal wieder der Meinung war, dass er das langweilige Neustädter Dorfleben nicht mehr aushalten könne. Dann spielte er sich auf, als sei er der geborene Großstadtmensch, der ohnehin immer alles am besten weiß und alle anderen mit seinen Belehrungen nervt.

Lisa kannte diese Macken ihres Vaters. Wenn er mal wieder so angeberhaft war, musste man ihn einfach nur einige Tage an den Puls der Zeit ziehen lassen, also nach Frankfurt. Das war Papas gefühlte Heimatstadt, obwohl auch er wie Lisa in seinem Elternhaus in der Kastanienallee 5 aufwuchs.

Papa war schon immer sehr daran interessiert, wie die Technik das Leben erleichtern könnte und wie alles funktionierte. So erklärte es jedenfalls Oma Emmy einmal, als Lisa sie fragte, wie es dazu kam, dass Papa ein Software-Entwickler wurde. Sie wusste, dass Oma Emmy und Opa Erwin sich sehnlichst wünschten, dass Papa auch Tierarzt werden würde, wie Opa Erwin, der im Erdgeschoss des Hauses dreißig Jahre lang seine Praxis für Kleintiere unterhielt.

»Dein Papa hatte es schon als Kind nicht so mit den Lebewesen. Oliver wollte am liebsten den toten Dingen auf den Grund gehen, die durch Technik funktionieren. Viel Hightech und Schnickschnack, das war schon immer sein Ding«, seufzte Oma Emmy.

Lisa wusste, dass sich Papa vor zwölf Jahren, als Opa Erwin so plötzlich gestorben war, nur sehr zögerlich auf Oma Emmys Bitte einlassen wollte, nach Neustadt zu ziehen. Das Ganze hatte wohl nur funktioniert, weil Lisas Mama zur gleichen Zeit eine Stelle als Lehrerin in der Astrid-Lindgren-Schule in Neustadt antreten konnte. Mama nannte das einen Wink des Schicksals. So zogen ihre Eltern – damals natürlich noch ohne Lisa – in das kleine Neustadt. Mamas Wunsch, möglichst nahe an ihrer neuen Schule zu wohnen, und Omas Emmys Bitte, nach Opa Erwins Tod zu ihr in das große Haus zu ziehen, wurden Wirklichkeit.

Hier pochte zwar nicht der Puls der Zeit, wie in Papas Frankfurt, aber hier gab es unendlich viel Natur, den nahe gelegenen Bauernhof mit den Shetlandponys und herrliche geheime Orte, an denen Kinder noch alles selbst herausfinden und entdecken konnten, was sie interessierte. So empfand es Lisa zumindest, denn sie fühlte sich in Neustadt pudelwohl.

Oliver Enders war ein großer, etwas schlaksig wirkender Mann, dem man direkt anmerkte, dass er Humor besaß. Er war bei der Frankfurter Firma Audio Star als Projektleiter im Bereich Softwareentwicklung für Automotive Audio Systeme angestellt. Wenn Oma Emmy in ihrem Neustädter Bekanntenkreis gefragt wurde, was ihr Sohn Oliver denn beruflich mache, hörte sich das so an: »Olli arbeitet in einer Frankfurter Firma, in der sie besonders gute Autoantennen herstellen. Die werden weltweit verkauft.«

Lisas Eltern bezogen in der Kastanienallee die erste Etage und das ausgebaute Dachgeschoss. Oma Emmy ließ die Praxisräume im Erdgeschoss renovieren und zog dort ein. So war sie ihrem Erwin besonders nah, sagte sie gerne.

Papa konnte sich mit seiner Firma so einigen, dass er einmal in der Woche in seinem Frankfurter Büro arbeitete und ansonsten im Homeoffice tätig war. Am liebsten erledigte er alles mit dem Computer: »Weil man da Fakten schaffen kann und feste Strukturen hat und weil der Computer nichts vergisst und lautlos denkt und arbeitet«, sagte er gerne. Er dachte dabei sicher an seine schwerhörige Mutter, die für alle Familienangehörigen, Schnops eingeschlossen, zuweilen recht anstrengend war.

Lisa kannte nur eine Sache, die ihren Papa von diesen Fakten und Strukturen abhielt: die Frankfurter Eintracht. Papa war begeisterter Fan des Fußballklubs, stolzer Besitzer eines Jahresabos und verehrte seine launische Diva, wie er sie gerne nannte, abgöttisch. Oma Emmy gefiel es, dass Papa sich wenigstens in dieser Sache mal von der menschlichen Seite zeigte. Voller Freude erzählte sie im Familienkreis gerne, dass auch Opa Erwin glühender Anhänger der Frankfurter Eintracht war und den kleinen Oliver schon früh mit zu den Spielen ins Stadion nahm.

Lisa wusste, dass Oma Emmy der festen Meinung war, dass Papa es mit ihrer Schwerhörigkeit fürchterlich übertrieb. Sie wusste aber auch von ihren Eltern, dass Oma eine mittelgradige Schwerhörigkeit hatte und ihr Arzt sie immer wieder aufforderte, Hörgeräte zu tragen. Bei sehr hellen Stimmen oder zu vielen Nebengeräuschen kam es schon mal vor, dass sie manche Dinge überhaupt nicht hörte oder nur in Teilen, die sie dann nach ihren eigenen Vorstellungen zurechthörte. – So wie mit Lisa und Pisa. »Was ich hören muss, das kriege ich schon mit«, sagte sie wirklich ständig. »Manchmal höre ich nicht mehr jeden einzelnen Spatzen draußen pfeifen, aber insgesamt habe ich an meinem Gehör nichts auszusetzen. Dein Papa will nur, dass ich mir solch ein Hightech-Gerät ins Ohr stecke, weil ihn der ganze Technik-Schnickschnack interessiert. Ich kenne ihn. Aber nicht mit mir, da muss er sich ein anderes Opfer aussuchen. Mein Gehör und ich, wir sind sehr zufrieden!«

Lisa und Mama kannten diesen Dauerstreit zwischen Papa und Oma Emmy und hatten beschlossen, sich da nicht einzumischen.

Heike Enders war eine kluge und liebenswerte Frau, niemals ungeduldig, immer hilfsbereit. Sie war das ausgleichende Element in der Enders-Familie. So sah es Oma Emmy und hatte absolut recht, fand Lisa. Genau genommen glichen sich Mutter und Tochter innerlich und äußerlich wie Zwillinge, nur dass Mama 30 Jahre älter war, sagte Papa oft.

Ein Jahr, nachdem Mama in der Astrid-Lindgren-Schule angefangen hatte, als Lehrerin Deutsch und Kunst zu unterrichten, kündigte sich Lisa an: Mama wurde schwanger und alle freuten sich. Sogar die Kinder in der Schule fanden es toll, dass sie sozusagen gratis eine Schwangerschaft miterleben konnten und ihrer geliebten Frau Enders alle Fragen stellen durften, die sie zu dem Thema interessierten. Immerhin war allen klar, dass jedes Menschenkind nach langer Schwangerschaft geboren werden musste, sie teilten also alle das gleiche Schicksal. Mama hatte dann eine völlig problemlose Schwangerschaft und konnte bis Nikolaus noch unterrichten. Lisa fragte sie einmal, warum sie denn in den 17 Tagen vor ihrer Geburt, also ab dem 23. Dezember, nicht mehr zur Schule gehen konnte, denn sie hatte ausgerechnet, dass es vom Nikolaustag am 6. Dezember bis zu ihrem Geburtstag 17 Tage waren. »Kluges Mädchen«, hatte Mama lächelnd gesagt, »von wem du das wohl hast? Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich noch bis zu deinem Geburtstag unterrichten können, aber es gibt Gesetze zum Schutz werdender Mütter. Die müssen eingehalten werden. Genau genommen hätte ich schon ab November nicht mehr unterrichten sollen. Mir ging es aber gut und Herr Brunner war heilfroh, dass er keine Vertretung für mich suchen musste.«

»Herr Brunner ist jetzt mein und dein Schulleiter«, hatte Lisa stolz erklärt, als sie ihren ersten Schultag an der Astrid-Lindgren-Schule feierten.

SOS im Schülerparlament

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