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Kapitel 1

Zwei Monate später

Die Sonne strahlte ins Krankenzimmer von Felix Baumer. Für April war es ein sehr warmer Tag. Die Vögel zwitscherten draußen fröhlich vor sich hin und schienen die wärmenden Sonnenstrahlen zu genießen.

Heute war der Tag seiner Entlassung. Er hatte eine regelrechte Phobie gegen Krankenhäuser entwickelt und war froh, endlich nach Hause gehen zu können.

Heute war es genau zwei Monate her. Der Tag, der sein Leben veränderte.

Für immer. Seit dem Erlebnis hatte Felix seine Emotionen verloren. Alle, bis auf die Angst. Die Angst, die ihn immer wieder heimsuchte. Die Angst, die besonders schlimm wurde, sobald er die Augen schloss.Ohne Schlafmittel ging nachts gar nichts mehr. In diesen zwei Monaten hatte er sich zu einer lebendigen Leiche entwickelt. Kein Tag würde je wieder „erträglich“ werden, davon war er fest überzeugt. Sein Leben wurde genommen. Zerstört.Einen Monat lag er im Koma. Ein Monat, wo er keine Schmerzen spürte.

„Herr Baumer?“ Felix hatte das Pflegepersonal gar nicht kommen hören. Die Schwester schien das zu bemerken.

„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Auch bei ihr erkannte Felix wieder einen Blick von Mitleid. Diesen Blick hatte er im letzten Monat so oft gesehen. Doch keiner konnte ihm helfen. Ihn aus diesem Albtraum befreien. Die Ärzte sagten ihm, dass der Mistkerl sehr genau und hochprofessionell „operiert“ hatte. Und ihm somit das Leben damit auf ewig zerstört hat. Eine Korrektur sei erst mal nicht möglich, da es ein erneuter schwerer Eingriff für seinen Körper sein würde. Frühestens in sechs Monaten sei eine Korrektur möglich, doch seine Genitalien hatte er für immer verloren. Er wurde kastriert und zu einem Mannsweib gemacht. Seine Brust wollte man vorerst in sechs Monaten versuchen, wieder einigermaßen aufzubauen, doch auch die würde nie wieder dieselbe sein. Für seinen Penis gäbe es die Lösung, ihn aus einem Vollhauttransplantat des Unterarms oder Oberschenkels herzustellen, doch das war für Felix unvorstellbar.

„Hier ist Ihr Entlassungsbericht. Sie können jetzt nach Hause gehen. Sollen wir Ihnen ein Taxi bestellen?“

Felix winkte ab. Er wollte in diesem desolaten Zustand niemanden sehen. Und vor allem wollte er nicht gesehen werden. Zumindest nicht von weiteren wildfremden Personen. Er schämte sich zutiefst für sein neues Äußeres. Obwohl er wusste, dass man ihm das Grausame nicht sofort ansehen konnte. Sondern nur, wenn man genau hinsah. Er wusste, er konnte nichts dafür. Er war nicht Schuld an dem, was der Kastrierer aus ihm machte. Kastrierer. Das war der neue Name für das schreckliche Monster. Auch die Polizei hatte versucht, ihn immer wieder zu ermutigen bei den Befragungen, dass es nicht seine Schuld sei. Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren. Doch selbst eine Festnahme würde niemals für Genugtuung und Gerechtigkeit sorgen können. Niemals.

„Ich rufe einen Freund an. Der wird mich abholen.“, antwortete Felix anteilnahmslos. Und er war anteilnahmslos. Seit dem Vorfall hatte er nicht nur jegliche Gefühle verloren, sondern auch jegliches Interesse. Er würde seinen Kumpel Yannick anrufen. Er zählte zu einem seiner besten Freunde und stand vor allem in den vergangenen Wochen stark hinter ihm. Sie kannten sich seit der fünften Klasse.

„Okay, brauchen Sie noch etwas?“, versuchte die Blondine ihn anzulächeln. Er sah noch immer das Mitleid und Entsetzen in ihren Augen. Das Entsetzen, über so eine grauenvolle Tat. Sein Anblick hatte beim gesamten Personal Narben hinterlassen. Narben in den Seelen.

„Nein, vielen Dank.“

Nachdem die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatte, wählte er die Nummer von Yannick.

„Ja?“ Yannick Brunsen nahm nach dem zweiten Klingeln ab.

„Hallo Yannick, Felix hier…“

„Felix, ist alles gut bei dir?“, wurde er sofort von seinem Freund unterbrochen.

Die Sorge in seiner Stimme war groß. Das Verhältnis zwischen ihnen hatte sich in der letzten Zeit geändert. Gleichzeitig hat diese harte Zeit sie jedoch auch noch mehr zusammengeschweißt. Vor zwei Monaten hätte Yannick noch mit „Na, altes Haus?“ abgehoben.

„Soweit ja.“, log Felix. Er wusste, dass sein langjähriger Freund wusste, dass schon lange nicht mehr alles gut war. „Mein Entlassungsbrief ist fertig. Kannst du mich abholen?“

„Ich mache mich sofort auf den Weg!“, kam es am anderen Ende der Leitung wie aus der Pistole geschossen.

Mit leerem Blick starrte Felix durch die Windschutzscheibe. Es hatte angefangen zu regnen und die Scheibenwischer glitten immer wieder im taktischen Rhythmus durch sein Blickfeld. „Das Wetter passt perfekt zu meiner Stimmung.“, dachte Felix.

Das Radio spielte leise die neusten Charts. Das gleichmäßige Brummen des Motors ließ Felix in eine Art Trance fallen.

„Wenn du möchtest, kannst du bei mir schlafen…“, setzte Yannick an, doch er verstummte. Der traurige Anblick nahm auch ihn mit. Wie bei jedem Mal, als er ihn sah.

„Ich…“ Felix schluckte die Traurigkeit mitsamt den Tränen herunter. „Danke. Ich möchte einfach nur nach Hause.“

„Klar, kein Problem. Du kannst dich trotzdem jederzeit bei mir melden.“

Yannick sparte sich ein „Bist du dir sicher?“.

Der Rest der Autofahrt verlief schweigend.

„Neben Yannick fühle ich mich wie ein Nichts. Ein Neutrum. Er ist immer noch er. Er hat seine flache Brust, seinen Penis und seine Hoden.“, quälte sich Felix. Wobei er seinem Kumpel ganz und gar nicht wünschte, was ihm widerfahren ist. Das wünschte man niemandem. Nicht mal seinem schlimmsten Feind.Das Gedankenkarussell ließ ihn die ganze Zeit nicht zur Ruhe kommen. Es wollte einfach nicht von ihm ablassen. Genau wie das Monster damals. Wie ein Messerstich stachen ihm die Erinnerungen erneut ins Herz. Immer und immer wieder.

„Soll ich mit reinkommen?“

Felix hatte nicht bemerkt, dass sie schon angekommen waren. Er hatte zwar die ganze Fahrt über aus dem Fenster geschaut, die Umgebung aber gar nicht richtig wahrgenommen.

Der Regen hatte inzwischen wieder aufgehört. Ein typisches Aprilwetter eben.

„Danke fürs Fahren.“, umging Felix die Frage.

„Ich trage dir wenigstens noch deine Tasche mit rein.“, ließ Yannick sich nicht abschütteln.

Er parkte auf dem Hof neben Felix’ Wagen und zog die Handbremse an.

Das Haus kam ihm ungewohnt vor. Kein Wunder, Felix war zwei Monate nicht zuhause gewesen.

Beim Eintreten begrüßte ihn gleich die leere Kaffeetasse auf der Kommode im Flur. Er erinnerte sich, dass sein letzter Tag, an dem er das Haus verließ, gleichzeitig sein letzter Arbeitstag gewesen ist. Er war spät dran und trank den letzten Schluck Kaffee beim Schuhe anziehen aus. Danach hätten ihn zwei Wochen Urlaub erwartet. Eine Reise war nicht geplant. Er wollte einfach nur mal die Zeit zuhause genießen.

Das lange Ausschlafen am Morgen, Filmabende bis in die Nacht mit seinen Freunden veranstalten, und ab und an mal einen Ausflug machen.

Ein ganz normaler, langweiliger, entspannter Urlaub. Doch es kam alles anders. Jetzt war er erst mal bis auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Und alles wegen diesem Arschloch.

Yannick merkte, wie sein Freund schon im Eingang stehen blieb und die Kommode anstarrte. Er fixierte sie regelrecht. Statt einem „Ist alles klar bei dir?“ fragte er „Soll ich deine Sachen ins Wohnzimmer bringen?“

Felix beantwortete dies mit einem monotonen Kopfnicken. Er hörte gar nicht mehr auf damit. Es hatte den Anschein, als würde er sich mit dem Nicken beruhigen wollen. Sich ins Gleichgewicht „schaukeln“.

Vorsichtig legte Yannick ihm seine Hand auf die Schulter. Felix erschrak so sehr, dass sein Erschrecken sich sofort auf Yannick übertrug.

„Ähm“, Felix schien zu überlegen. „Ja klar, stell sie einfach irgendwo ab.“

Das Wohnzimmer war sauber und ordentlich. Wobei „sauber“ nach Felix’ Meinung nur auf den ersten Blick zutraf. Über die zwei Monate hatte sich überall eine gut sichtbare Staubschicht gebildet. Eigentlich hasste Felix es, wenn seine Freunde sein Haus in einem dreckigen, unaufgeräumten oder verstaubten Zustand sahen. Jedoch war es ihm dieses Mal mehr als egal.Gedankenverloren ließ er sich aufs Sofa fallen. Nachdem sein Kumpel Yannick seine Tasche auf den Boden stellte, versuchte er ihn mit „Hast du Hunger? Wollen wir etwas bestellen? Wir können auch zum Hähnchenboss gehen.“ Aufzumuntern. Der Hähnchenboss war der Lieblingsimbiss von den beiden. Vor dem Vorfall holten sie sich dort jeden Freitag ein halbes Hähnchen mit Pommes.

Neben jeglichen positiven Emotionen war Felix auch der Appetit verloren gegangen. Er wollte nicht mehr raus und sich beim Hähnchenboss etwas zu essen holen. Zu groß war die Scham.

Schließlich ließ er sich doch noch zu einer Pizza überreden.

Der Lieferdienst ließ nicht lange auf sich warten.

„Ich verstehe einfach nicht, warum.“, brach Felix beim Essen das minutenlange Schweigen. Es war ein Satz, von dem er keine Antwort erwartete.

Yannick schien erleichtert zu sein, dass sein Kumpel endlich versuchte, über die Qualen, die er erleiden musste, zu reden. Nie hatte Felix richtig ein Wort über das Erlebte verloren. „Er redet doch von diesem Schwein, oder?“, fragte sich Yannick.

Er traute sich nicht, ihn näher zu fragen. Nach den richtigen Worten suchend, kaute er auf seinem Stück Pizza herum. Yannick wollte einfach so schnell nichts einfallen, was er hätte antworten können.

„Es kommt mir alles so unheimlich surreal vor.“, begann Felix zu ergänzen. „Diese Person hat mir grundlos mein Leben genommen. Sie hat es zerstört. Und das groteske daran ist, dass es innerhalb von ein paar Stunden zerstört wurde. Einfach so.“

Yannick bemerkte das Beben in Felix’ Stimme.

„Felix“, begann er und legte sein Prosciuttostück auf den Pizzakarton. „Wir werden dieses verdammte Schwein finden und zur Rechenschaft ziehen.“

Er wollte seinem Freund unbedingt helfen, ihm irgendwie Hoffnung geben, doch Felix machte den Eindruck, als hätte er seinen Satz überhört.

„Wie soll ich so leben? Wie kann ich so leben?“

Yannick wusste, dass Felix Recht hatte. Niemand könnte einfach so weitermachen. Nicht, nach diesem Erlebnis. Und der Tat, die an ihm verübt wurde. Sein Leben wurde ihm tatsächlich genommen und er würde verstehen, wenn Felix jetzt den Kopf in den Sand stecken würde. Aber er wollte sich nicht eingestehen, dass er wusste, dass sein Freund an dem Monster zerbrach. Zu groß war die Angst, ihn zu verlieren.

„Ich bin für dich da, Felix.“ Mehr brachte Yannick nicht heraus. Ihm war bewusst, dass das der schlechteste Satz war, den er in dieser Situation hätte sagen können.

Das Telefon ließ beide hochschrecken. Felix brauchte eine Weile, bis er verstand, dass sein Handy klingelte.

„Hallo?“, meldete er sich.

„Guten Tag, Herr Baumer. Katja Brünjes von der Kriminalpolizei Bremen hier. Wie geht es Ihnen?“

Felix antwortete nicht, sondern schluckte nur schwer.

„Herr Baumer, heute war ja der Tag Ihrer Entlassung…“ Sie schien eine Antwort von ihm zu erwarten, doch er schweigte noch immer.

„Es geht darum“, fuhr sie unbeirrt fort „dass wir Sie gerne nochmal hier auf dem Revier sprechen würden. Für eine Vernehmung.“

„Muss das noch heute sein?“, erwiderte Felix langsam. Er hatte keine Lust, nochmal alles erläutern zu müssen. So oft wurde er nun schon befragt. Reichte das nicht?Er hatte alles gesagt, was er wusste und an was er sich noch erinnern konnte. Der Täter schien etwas kleiner zu sein, als er selbst. Die Stimme war erstaunlich ruhig. Das Lachen wahnsinnig. Über die Tat selber wollte er nicht mehr sprechen, den Akten der Ärzte konnte schließlich alles entnommen werden. Mit dem Anruf der Kommissarin kamen alle Bilder schlagartig zurück. Sie fraßen sich in Felix` Herz und er hatte das Gefühl, sie wollten den letzten Rest davon zerreißen.

„Nein, es reicht auch, wenn Sie morgen oder übermorgen kommen. Herr Baumer, ich hoffe Sie wissen, dass wir höchstes Verständnis für Ihre Situation haben. Jedoch ist jede Ihrer Aussagen enorm wichtig für unsere weiteren Ermittlungen. Wir wollen den Täter so schnell wie möglich fassen und stoppen, falls er das, was er mit Ihnen gemacht hat, nochmal vorhat zu machen.“

Zack! Mit diesen Worten wurde ihm erneut ein Schlag in die Magenkuhle verpasst. Er verstand die Kommissarin und wusste, dass Sie recht hatte mit dem, was sie sagte, aber sein Trauma ließ ihn nicht los. Ein falsches, auch schon falsch verstandenes Wort, reichte, dass es Felix schwarz vor Augen wurde. Das, was er mit Ihnen gemacht hat.

Wie sollte er jemals vergessen, wenn er immer wieder dran erinnert wurde?

Konnte er überhaupt vergessen?

Nachdem Katja Brünjes wieder keine Antwort bekam, fügte sie hinzu „Melden Sie sich bitte vorher, bevor Sie zu uns aufs Revier kommen. Alles Gute, Herr Baumer und auf Wiedersehen.“

Mit diesen Worten legte sie auf. Felix hielt noch immer schweigend das Telefon an sein Ohr.

Yannick sah ihn mit fragendem Blick an, doch Felix ignorierte ihn und nahm sich das nächste Pizzastück in die Hand. Anstatt es zu essen, spielte er unruhig damit herum.

„Wer war das?“ Yannick’s Neugier war riesig. Genauso riesig wie die gleichzeitige Sorge um seinen Freund, die ihn zu erdrücken schien.

„Die Polizei…“, begann Felix. „Die wollen mich in den nächsten Tagen nochmal auf dem Revier sehen und mich vernehmen…“ Die Blässe in Felix’ Gesicht war ihm anzusehen. Auch das Zittern in seinen Beinen konnte er nicht länger vor Yannick verstecken. Alles begann von Neuem. Er rutschte erneut in das dunkle Verlies ab. Der Kastrierer, der mit dem hellen Licht vor ihm stand. Das Licht, das ihn in die Hölle beförderte… Er driftete vollkommen ab.

„Hey, hey! Felix! Felix, hörst du mich?“ Das laute Rufen seines Kumpels schien ihn langsam aus der Hölle rauszuholen… Felix realisierte, dass er weggetreten war. Es war wieder einer dieser Momente, indem die Flashbacks ihn gewaltsam packten und in die Tiefe stürzen wollten. Mit ihm zusammen. Immer und immer wieder.

„Sorry.“, brachte Felix nach einer Weile schwer atmend heraus.

„Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Alter.“, versuchte Yannick das Gespräch aufzulockern. „Willst du wirklich alleine hierbleiben?“ Er sah seinem langjährigen Freund in die Augen und sah die Leere, die sich in ihm entwickelt hat. Er nahm aber auch die Verzweiflung wahr, die sich hinter seinem Blick heimlich versteckte.

So, als wollte sie nicht entdeckt werden. Den alten Felix gab es nicht mehr. Er ist an der Tat gestorben, regelrecht zerbrochen.

„Du brauchst dir keine Sorgen machen“, sagte Felix ernst. „Ich brauche einfach eine Weile, bis ich mit diesen Erinnerungen klargekommen bin.“ Das war eine Lüge.

„Er wird nie damit klarkommen. Trotzdem braucht er mich grade jetzt besonders!“, meldete sich eine Stimme in Yannick’s Unterbewusstsein.

Der Frauenmann

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