Читать книгу Der große Absturz - Louis-Karl Picard-Sioui - Страница 13
ОглавлениеDer alte Roméo Cœur-Brisé hatte eine Schwäche für den Wald rings um Kitchike, vor allem im Frühling. Auf den Pfaden, die in allen Richtungen unter den Tannen und Fichten, Birken und Ahornen hindurchführten, wähnte er sich fast wie in seiner Jugend in den Wäldern seines Vaters, tief in der Wildnis, auf dem Land seiner Vorfahren. Jeder Schritt machte ein leises schmatzendes Geräusch. Der weiche Boden duftete scharf nach Tannennadeln. Hier und dort lag noch Raureif auf den Bäumen. Eine frische Brise fügte sich mit der Wärme der schräg stehenden Nachmittagssonne zu einem harmonischen Ganzen. Die Luft war lau. Das Knacken der Zweige, der erdige Geruch, der Wind auf seinem Gesicht, der Gesang der Blauhäher, Rotkardinäle und Meisen, all dies war das wahre Leben. Natürlich war es nur eine Illusion: Das Reservat und vor allem die Stadt waren nur wenige Kilometer entfernt. Doch seine alten Knochen erlaubten ihm keine nomadischen Streifzüge durch die Wildnis mehr, und so begnügte sich Roméo Cœur-Brisé mit diesem Waldstück. Er genoss jeden Laut, jeden Duft, jeden Baum, jeden Stein. All das war ein Geschenk, Balsam für seine wunde Seele. An diesem Tag hätte ihm nichts anderes Frieden bringen können.
Der alte Roméo ließ sich auf einem Baumstumpf nieder, um den Bach und sein Glitzern in der Frühlingssonne zu betrachten. Hier draußen herrschte Ruhe. Nach sechsundsiebzig Lebensjahren konnte Roméo bezeugen, dass es auch andere Zeiten gegeben hatte. In seiner wilden Jugend war Kitchike eine Ansammlung von Hütten gewesen – ein Lagerplatz, nicht viel mehr. Doch dann hatten sich die Häuser fast genauso schnell vermehrt wie die Menschen und die Hunde. Unbefestigte Wege wichen Asphaltstraßen. Die Trampelpfade zwischen den Häusern endeten immer häufiger an Holzzäunen. Roméo konnte nicht begreifen, warum seine Leute das ihnen zugewiesene Gebiet wie Katasterbeamte vermaßen, warum sich ihre Herzen mit wenigen Quadratmetern begnügten. Jahr um Jahr breitete sich das Dorf aus und verschlang den Wald, den früheren Lebensraum der Seinen. Seltsamerweise zeigten die Menschen, je weiter sich die Siedlung in die Natur hineinfraß, immer weniger Interesse für den Wald. Die Jugend, hypnotisiert von den Lichtern der Stadt, kehrte der Natur mehr und mehr den Rücken. Das betrübte den Alten, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er sich dadurch umso besser in ihrer freundlichen Ruhe erholen konnte. Heute hätte er auch keine neugierigen Blicke ertragen.
Ach, Diane …
Der alte Mann stieß einen Seufzer aus, der als kleine Wolke aufstieg. Das reichte, um ihn zu bezaubern. Er strahlte über das ganze faltige Gesicht.
Singen. Es ist Zeit zu singen.
Der alte Mann setzte seinen sandfarbenen Rucksack ab und entknotete die Riemen. Die kleine Handtrommel, die er herausnahm, war wie neu. Eine unverbrauchte Trommel für seine verbrauchten Hände. Er ließ sich Zeit, betrachtete, berührte, beschnupperte sie. Er rieb in kleinen konzentrischen Kreisen mit der Handfläche darüber, als wollte er sie zutraulich machen. Diese Trommel hatte Romeo Cœur-Brisé noch nie benutzt. Ein Großneffe hatte sie ihm vor einigen Jahren geschenkt, ein talentierter Musiker, der das Nomadentum der Familie Cœur-Brisé im Blut hatte. Sonst zog Roméo alte Dinge vor, sichere Werte, erprobt durch Erfahrung und Verschleiß. Doch als er heute Morgen aufgebrochen war, hatte ihn diese Trommel gerufen, und da sein Instinkt ihn selten trog, hatte der Alte beschlossen, ihr eine Chance zu geben. Er griff in den kleinen Beutel, den er um den Hals trug, und holte eine Prise Tabak heraus. Dann legte er die Opfergabe auf die Trommel und sprach leise das passende Gebet. Schließlich nahm er den Schlegel in seine schwielige Hand, schlug einen langsamen Rhythmus und brachte die gespannte Haut zum Singen.
Das war dein Lied, Diane, als du klein warst.
Du erinnerst dich doch, nicht wahr?
Roméo begann zu singen. Er sang, und jede Note, jede Silbe, jedes Wort stieg von seinen Lippen empor und verschmolz mit dem Gesang der Schöpfung, so wie der Tabakrauch, der die Gebete trägt, emporsteigt. Roméo hatte den Gesang angestimmt, mit dem er seine kleine Schwester in ihren Kindertagen oft getröstet hatte. Roméo sang, und im makellosen Blau des Himmels ertönte ein lautes Grollen, ein Donnergrollen, das nach einem heftigen Gewitter klang. Das Unterholz wurde lebendig. Hasen, Rebhühner und Eichhörnchen bekamen Angst. Obwohl kein Lüftchen ging, raschelte das Gebüsch.
Roméo schwieg. Er legte die Trommel beiseite und hob den Kopf.
Nichts.
Nicht eine einzige Wolke verdunkelte den Himmel. Nichts kündete von Regen, Wind oder Sturm. Ganz im Gegenteil. Selbst die murmelnde Brise war verstummt.
Ach, Diane! Weißt du noch?
Roméo schloss die Augen, um besser zu sehen.
Am Himmel tat sich ein klaffendes Loch auf, zerriss das Firmament. In der Ferne leuchtete plötzlich ein Feuerpunkt, wurde größer und verschwand wie eine Sternschnuppe am Horizont zwischen den Bäumen.
Diane, das ist wunderschön! Wie gern würde ich dich jetzt in den Armen halten.
Allmählich kehrte die Brise zurück und umspielte den Nacken des alten Roméo Cœur-Brisé. Neugierig verzog er das Gesicht und schlug die Augen auf.
Glaubst du, ich werde es finden?
Vor ihm, am Ufer des Bachs, stand ein Mann. Ein alter Freund, so alt wie er selbst. Erfahrung und Verschleiß hatten sie voneinander entfernt. Das Kreuz und der Kreis passten ohnehin nur selten gut zusammen, das konnten sie beide bezeugen, aber tatsächlich auseinandergebracht hatte sie das Herz einer Frau. Trotzdem stand der Mann jetzt da, an diesem Ort, so wie Roméo es im Traum gesehen hatte. Er stand da, an diesem Ort, und war immer noch derselbe. Er hatte Soutane und römischen Kragen gegen Holzfällerjacke und Baseballkappe getauscht. Unter dem Gewicht der Jahre war sein Rücken krumm geworden, und in sein vor Bitterkeit lang gewordenes Gesicht hatten sich tiefe Furchen gegraben. Doch es war unverkennbar Albin Pinault, der frühere Missionar von Kitchike.
Roméo schob die Trommel in den Rucksack und fragte, ungewollt taktlos: »Und, wie war die Gedenkmesse?«
Der Priester antwortete nicht gleich. Er ließ den Blick schweifen, entdeckte einen vorstehenden Felsen und setzte sich in aller Ruhe hin. Dann sah er zum Bach und murmelte mit schmerzerstickter Stimme: »Das weiß ich nicht. Ich hatte nicht die Kraft hinzugehen.«
Offensichtlich hielt er die Tränen ebenso zurück wie seine Worte.
Roméo hakte nicht nach. Schweigen ist Gold, das galt ebenso für den Mann des Kreises wie für den Mann des Kreuzes. Ein sicherer Wert, erprobt durch Erfahrung und Verschleiß. Und so begnügten die beiden sich damit, denselben Bach mit seiner brüchigen Eisschicht zu fixieren, sich einer neben dem anderen am Wiedererwachen der Natur zu erfreuen. Sie saßen lange da, an diesem Ort, bis der Moment Wurzeln schlug.
Wie viel Zeit war seit ihrem letzten Gespräch vergangen? Wie alt war Roméo gewesen, als er das letzte Mal mit Pinault gesprochen hatte? Sechzig, zweiundsechzig? Roméo konnte es nicht leiden, die Jahre auf diese Weise zu zählen. Das war ihm zu geradlinig, zu gregorianisch. Der Mensch entwickelte sich doch in seinem eigenen Rhythmus, aus eigenem Antrieb und durch die Erfahrungen, die er machte. Was sollte so ein starres Maß bringen? Er hatte diesen aus Europa eingeführten Brauch nie verstanden. Er fand ihn falsch, unwichtig und tückisch. Roméo war immer überzeugt gewesen, dass die Anzahl der Jahre, die ein Mensch noch zu leben hatte, viel bedeutsamer war, als wie viele schon hinter ihm lagen. In einer Sanduhr verrinnt die Zeit doch auch, und kein Mensch käme auf die Idee zu sagen, sie häufe sich an. Da aber niemand wusste, wie lang sein Weg auf Erden war, zog Roméo es vor, Geburtstage und Kerzen zu ignorieren. Er war ein Kind gewesen, dann ein Mann, und jetzt war er alt, einfach nur alt. Betagt und furchtbar einsam mit seinen Grübeleien, seinen Erinnerungen und seinem Bedauern.
Ohne den Blick vom fließenden Wasser abzuwenden, musterte er Albin aus den Augenwinkeln.
Die Gegenwart, alter Spinner. Jetzt zählt nur noch die Gegenwart.
Aber welche Worte würden sich auf eine Lichtung wagen, die nur das Schweigen kannte? Zärtliche, brüderliche Worte? Oder kriegerische, verletzende?
Da er nicht wusste, welches Gefühl aus seinem Mund dringen würde, beschloss Roméo, weiter zu schweigen. Er machte sich frei, indem er seine Ängste eine nach der anderen als kleine Dunstwölkchen ausstieß und die Lungen bei jedem Atemzug mit der frischen Frühlingsluft füllte.
Langsam verschwand die Sonne hinter den Baumwipfeln und warf dunkle Schattennetze über die Männer. Die beiden Freunde trugen bereits genug Finsternis in sich und wollten sich nicht ein weiteres Mal darin verlieren. Im sanften Licht der untergehenden Sonne löste sich die Zunge des Priesters:
»Wenn nur … Wenn nur die Untersuchung nicht verhindert worden wäre. Wenn wir Gerechtigkeit bekommen hätten, glaubst du, dann würden wir heute, fünf Jahre später, auch hier sitzen?«
»Ach komm, Albin! Du hast die letzten fünfzig Jahre bei uns gelebt. Du bist praktisch einer von uns. Du müsstest wissen, dass Gerechtigkeit in Kitchike ein ferner Traum ist, eine zu schwere Last. Gerechtigkeit, nein, das wäre zu viel verlangt.«
»Und was ist mit der Wahrheit?«, murmelte Pinault mit tränenerstickter Stimme. »Wenigstens die Wahrheit. Für Diane. Haben wir nicht lang genug unter dieser Farce gelitten?«
»Die Wahrheit, ja, das wäre schön«, pflichtete ihm Cœur-Brisé bei. »Aber ebenso wie die Gerechtigkeit ist auch sie in Kitchike nur schwer zu finden.«
»Dann bleibt uns nur das Gebet? Das Gebet und der Glaube?«
Roméo musste sich zügeln.
Er hätte am liebsten gesagt, dass der Glaube etwas für die Christen sei, dass er ihn nicht brauche, weil er das Leben hatte, den Traum, den Kreis. Doch für Pinault war die Trauer schwer genug. Außerdem wurde es allmählich dunkel. Zeit zu gehen. Er stand auf.
»Komm mit. Ich will dir was zeigen.«
Roméo verschwand zwischen den Bäumen. Verwundert, aber neugierig stand der Priester auf und folgte ihm. Die beiden Männer verschmolzen mit der einbrechenden Nacht. Cœur-Brisé lief voraus, so schnell ihn seine alten Beine trugen, Albin dicht hinter ihm, auch wenn er kaum Schritt halten konnte. Ab und zu blieb Roméo stehen, sog die Luft ein und lauschte den Geräuschen der Nacht, dann konnte der Priester einen Moment verschnaufen. Albin hatte keine Ahnung, wohin sie liefen und warum sein alter Freund ihn tief in den Wald führte, tief in die Finsternis. Doch trotz ihres jahrelangen Schweigens, trotz der Kluft, die zwischen ihnen entstanden war, vertraute er Roméo. Die Jahre hatten sich angehäuft und lasteten jedes Mal, wenn sich der Unfall jährte, schwerer auf ihm. Wenn er nun die Trauer mit dem alten Cœur-Brisé teilte – würde das seinen Schmerz lindern? Oder die Wunde wieder aufreißen? Konnte diese beschädigte Freundschaft gekittet werden? Hätte Diane das gewollt? Ganz gleich, wie die Antworten auf diese Fragen lauteten, er hatte seinen Glauben, und nur der hielt ihn am Leben. Also lief er weiter. Er hastete hinter seinem Freund durch den Wald, obwohl er ihn nicht einholen konnte.
Roméo schien nichts von seiner Kraft eingebüßt zu haben. Er lief und lief und wurde nicht müde. Kurz glaubte Albin ihn in der Finsternis des Waldes verloren zu haben. Doch gleich darauf blieb der Medizinmann auf der Kuppe eines Hügels stehen, ein ganzes Stück voraus, an einer Stelle, wo der Mond funkelte wie tausend Lichter.
Nein, nicht der Mond. Etwas anderes. Ein anderer Himmelskörper. Ein warmes Licht strahlte vom Hügel herab, fiel zwischen die Bäume, warf Schatten in alle Richtungen. Albin ging keuchend in die Hocke und starrte, er konnte nicht anders, direkt in das Licht: voller Leben und so sanft. Der Stern durchdrang den Priester mit seinem Leuchten und erfüllte ihn bis ins Innerste mit tiefem Frieden. Albin richtete sich auf und schritt feierlich, fast schon schwebend voran, ganz so, als hätte dieses göttliche Licht ihn von seinen schmerzenden Knochen erlöst. Als er nach einer Weile endlich beim Medizinmann ankam, sank er auf die Knie, faltete die Hände vor der Brust und begann zu beten.
»Ist das nicht wundervoll!«, sagte Roméo mit einem seligen Lächeln.
»Aber … Was ist das? Ein Engel?«
»Es kommt aus der Himmelswelt. Vorhin ist es zwischen die Bäume gefallen.«
Der alte Priester starrte auf das Licht, als hoffte er, es käme von ihr.
»Diane …«
»Ich glaube nicht, dass sie es ist, aber es ist sicher eine Botschaft«, sagte Roméo mit einem Lächeln.
Schritt für Schritt näherte sich der Medizinmann der Lichtquelle, die vor ihm in der Luft schwebte. Albin beobachtete ihn, zögerte kurz und beschloss dann, aufzustehen und ihm zu folgen, nah, ganz nah heran. Das Licht war stark, blendete ihn aber nicht. Albin spürte, wie eine sanfte Wärme ihn umhüllte, ihn wiegte wie eine Mutter ihren Säugling.
Das war … eine richtige kleine Sonne.
»Woher wusstest du davon?«, fragte Albin.
»Ich habe es geträumt. Du nicht?«
Kurz flackerte Spott in den Augen des alten Schamanen auf, aber sein Lächeln blieb schelmisch.
»Du weißt doch, dass mir diese Welt fremd ist, Méo. Was ist das?«
»Die Hoffnung. Gerechtigkeit oder Wahrheit mögen uns verwehrt bleiben, aber wir haben immer noch die Hoffnung.«
»Schickt sie uns eine Botschaft?«
Cœur-Brisé nickte.
»Ein Geschenk. Einen gemeinsamen Moment, nur für uns.«
»Was sie zu Lebzeiten nicht geschafft hat«, murmelte Albin.
Roméo streckte die Hand aus und schloss sie vorsichtig, einen Finger nach dem anderen, um die kleine Lichtquelle, die auf der Stelle erlosch. In seiner Handfläche blieb ein schwaches Glimmen zurück, eine schimmernde Perle, die an einer Kette aus geflochtenem Süßgras hing. Ein Amulett. Der alte Roméo drehte sich um, stapfte auf den Priester zu, breitete die Hände aus und umarmte ihn innig. Die beiden Alten standen da, an diesem Ort, allein im Wald, und weinten gemeinsam im leisen Mondlicht. Für den Priester mochte es sich um einen Engel oder ein Zeichen Gottes handeln. Für Roméo Cœur-Brisé war es ein Licht. So wie seine kleine Schwester Diane, ein Licht in der Tiefe der Nacht.
Das reichte ihm.