Читать книгу Der große Absturz - Louis-Karl Picard-Sioui - Страница 15
ОглавлениеJakob Paul betrachtete schon seit einer Viertelstunde die Porträts in der Eingangshalle des Reservatsrats, die ausnahmslos Chef Saint-Ours zeigten, als die Muse all dieser künstlerischen Ambitionen den vorigen Besucher endlich aus dem Büro entließ. Kaum erblickte der Chef Jakob, fraß sich ein Grinsen auf seinen Zügen fest. Mit einer brüsken Bewegung der linken Pranke lud er ihn in seine Höhle ein.
»Also, mein Swimmingpool, Erstbefüllung und Wartung – Interesse, das wieder zu machen?«, fragte der Chef.
»Klar«, antwortete Jakob. »Selber Tarif wie letztes Jahr?«
Der Chef zögerte, verzog kurz das Gesicht, nickte dann.
»Ich sag dir aber gleich: Dieses Jahr wartest du nicht bis zum Nationalfeiertag, um das Ding zu befüllen. Am 21. Juni kommen wichtige Gäste. Also mach mir nicht den Tooktoo, haben wir uns verstanden?«
Jakob wusste zwar, dass der derzeitige Chef die Familie Tooktoo abgrundtief hasste, aber den Spruch hörte er zum ersten Mal. Er fand ihn genauso unsinnig wie die internen Grabenkämpfe, die seit grauer Vorzeit in Kitchike ausgefochten wurden. Jakob mochte die politische Schlagseite nicht, die das Gespräch bekam, deshalb wollte er aufstehen und gehen, bevor der Chef seine übliche Litanei anstimmte. Doch leider hatte sich seine Zunge bereits ungefragt in Gang gesetzt:
»Ach komm! Nur nicht alle in einen Topf werfen, Chef. Die kleine Sophie von der Tanke ist gar nicht so übel …«
Der Chef legte Jakob eine große Pranke auf die Schulter und drückte ihn tiefer auf seinen Stuhl. Dann wurden die Augen von Saint-Ours zu Abgründen, und sein Maul klaffte weit auf:
»Lang, lang ist’s her …«
Lang, lang ist’s her, da fanden im Indianerreservat von Kitchike in der Provinz Québec große volkstümliche Feste statt. Damals nannte man das Powwow, aber eigentlich handelte es sich eher um sportliche Wettbewerbe im Kostüm. Jedes Jahr kamen die Krieger aus den umliegenden Reservaten zusammen, all die tapferen Männer aus Bersimis, Pointe-Bleue, Village-Huron und Caughnawaga, um am Großen Lénest-Powwow von Kitchike teilzunehmen. Die Schnellsten, Stärksten und Geschicktesten traten bei den ehrenvollsten Indianer-Wettkämpfen der Provinz an: Fuchsschießen, Schneeschuhflechten, Kanurennen und natürlich Balztanz für die jungen Schönheiten mit Federschmuck. Unsere Mädels waren aber auch absolute Prachtexemplare, das muss man schon sagen. Ich weiß nicht, ob es da eine Verbindung gab, aber auf dem Höhepunkt der Hippie-Jahre standen Fransenkleidchen hoch im Kurs, Federn wie auf den alten Yum-Yum-Chipstüten und falsche schwarze Pocahontas-Zöpfe. Miniröcke, Lederfransen, das war damals in. Um Touristen anzuziehen, mussten wir halt den Klischees entsprechen, die uns die Weißen gern überstülpen, wir wollten ja unser täglich Brot verdienen, und Butter drauf vielleicht auch noch. Aber ehrlich gesagt, was den Aufzug der Fräuleins betraf, hat sich kein Krieger je über ihren Anblick beklagt. Es war Kitsch, aber sexy. Und die Mädels aus dem Reservat, die Prachtmädels aus dem Reservat taten auch nichts lieber, als vor den versammelten Kriegern herumzustolzieren, ihre Fransen zu schütteln und zu johlen.
In Kitchike gab es aber einen Mann, bei dem die jungen Frauen nicht außer sich gerieten. Einen Mann, den sie nie anschauten, nie bemerkten: Noé, die Bohnenstange mit der Problemblase.
Der Legende nach konnte er keine halbe Stunde durchhalten, ohne eine Stange Wasser wegzubringen. Trank nie mehr als ein großes Glas Wasser pro Tag – im Sommer –, gerade genug, um unter der staubigen Sonne des Reservats nicht auszutrocknen. Viel gegessen hat er auch nicht. Genauso wenig Appetit wie Sex-Appeal. Nicht dass er besonders hässlich gewesen wäre, der große Noé. Es war eher so, dass die schwindelerregende Senkrechte dieses Körpers sich aus seinen Socken bis in ungeahnte Höhen zu erheben schien, ohne das geringste bisschen Muskelmasse. Die Art Mann, den kleine Kinder mit Steinchen bewerfen, wenn er grad nicht guckt. Das ideale Opfer für den rüden Humor von Big Chef Tooktoo.
Wie dem auch sei, in jenem Sommer hatte Noé beschlossen, sich zu rächen. Ein einziges Mal wollte er Big Chef Tooktoo das Maul stopfen. Die Mädels aus dem Reservat – die prachtvollen Mädels aus dem Reservat mit ihren falschen Zöpfen, ihren echten Federn und ihren lederverschnürten kleinen Brüsten – sollten ihn sehen, ihn bewundern, ihn begehren. Noé wollte bei dem ehrenvollsten und beeindruckendsten aller Wettkämpfe für starke Männer antreten: beim Wettlauf der Träger. Und damit ist nicht das Umtragen beim Kanurennen gemeint. Auch nicht der Wettbewerb, bei dem man mit einem Riemen um die Stirn einen Sandsack hochheben musste. Nein, ich meine die strapaziöseste Extremsportart aus dem hintersten Winkel der Reservate, eine Kombination der zuvor erwähnten Disziplinen: der Wettlauf der Träger. Riemen um die Stirn, Sandsack auf dem Rücken, sechzig Meter von der Start- bis zur Ziellinie, ein einziger Sieger. Denn der zweite Platz ist ein Trostpreis, mit dem du dich alleine trösten kannst. Es kann nur einen Geronimo geben.
Also machte es Noé wie alle versammelten Krieger. Aufwärmen, Dehnen, Sandsack wiegen lassen. Bevor er sich mit an die Startlinie stellte, verschwand er auf die Toilette. Keiner war überrascht: Problemblase. Die anderen Krieger wurden eine Spur ungeduldig, das Publikum ließ ihn bei seiner Rückkehr spüren, dass man genervt war, aber Noé stand brav mit den anderen an der Linie, als der Startschuss fiel. Mit neunzig Kilo auf dem Rücken und dem Riemen um die Stirn liefen und liefen die Krieger die regulären sechzig Meter Strecke. Wider Erwarten raste Noé los, so pfeilschnell, als spürten seine Beine das Gewicht des Sandsacks nicht. Noé lief und lief. Und siegte! Noé, die Bohnenstange mit der Problemblase, gewann die erste Ausscheidung! Das Publikum war baff. Erst leise, dann immer beherzter erhob sich Applaus unter den völlig faszinierten Zuschauerinnen und Zuschauern.
Dann kam das Halbfinale. Noé machte es wie alle versammelten Krieger aus Bersimis, Pointe-Bleue, Village-Huron und Caughnawaga. Aufwärmen, Dehnen, Sandsack wiegen lassen. Und bevor er sich mit an die Startlinie stellte, verschwand er wieder auf die Toilette. Problemblase. Bei seiner Rückkehr erwartete ihn eine ganz andere Reaktion. Die Mädels aus dem Reservat – die Prachtmädels aus dem Reservat mit ihren falschen Zöpfen, ihren echten Federn und ihren lederverschnürten kleinen Brüsten – bejubelten ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde der Bohnenstange das Geheul der Menge zuteil, die Schlachtrufe der jungen Schönheiten im sexy Indianerdress:
»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«, schrien sie und trommelten mit der Hand auf ihre geschürzten Lippen.
Big Chef Tooktoo gab den Startschuss, und die Männer nahmen die Beine in die Hand, Sandsack am Riemen, Schweißbach in der Poritze. Einhundertachtzig Kilo Sand an einem Klappergestell, das auf Mokassins eine Sechzig-Meter-Strecke aus gestampftem Erdboden laufen musste – ganz schön heftig für eine Bohnenstange aus dem hintersten Winkel des Reservats. Die Konkurrenten rackerten sich noch weiter hinten ab, während Noé längst die Ziellinie als Sieger überquerte. Die Menge sprang tobend auf. Ein paar der jungen Schönheiten rissen sich gar ihre Lederverschnürungen runter, dabei waren Heavy-Metal-Konzerte noch gar nicht erfunden. Zum ersten Mal, seit es diese Disziplin gab, kam einer von hier ins Finale! Selbst dem Big Chef blieb nichts anderes übrig, als diesen Sieg zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Großen Lénest-Powwows von Kitchike zu erklären. Noé gehörte weder zu seiner Familie noch zu seinen Fans, er stand nicht mal auf seiner Seite, aber er stammte aus seinem Reservat, da griff der Big Chef schnell mal ein bisschen was vom Ruhm ab. Mit Bescheidenheit kommt man nicht weit. Den Spruch hatte zwar nicht Tooktoo erfunden, aber so dreist, wie er war, hätte er das auch noch behauptet, ohne eine Miene zu verziehen.
Zum Finale war die Menge auf den Rängen zu beiden Seiten der Strecke nicht mehr zu halten. Die Sensation hatte sich im Nu herumgesprochen, das kriegen wirklich nur wir Kitchikeraner so hin. Innerhalb von Minuten waren alle Plätze besetzt. Das ganze Reservat war gekommen, um seinen neuen Helden zu feiern. Tooktoo hielt flammende Reden, unterstrich die Kraft, Beweglichkeit, Tapferkeit und Beharrlichkeit des neuen Lieblings von ganz Kitchike. Wie er der Menge anvertraute, hatte er den jungen Noé schon immer bewundert und stets diskret unterstützt, weit entfernt davon, ihn zu verachten wie alle anderen. Noé war mehr als ein Mitbürger, mehr als ein Vorbild, Noé war sein Bruder, seine Inspiration!
»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«
Noé bereitete sich auf das Finale vor wie alle versammelten Krieger aus Bersimis, Pointe-Bleue, Village-Huron und Caughnawaga. Aufwärmen, Dehnen, Sandsack wiegen lassen, dreihundert Kilo diesmal, dann verschwand er wieder auf die Toilette.
»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«
Noé stellte sich an die Startlinie, neben die anderen versammelten Krieger, und konzentrierte sich auf die sechzig Meter, die er zu bewältigen hatte. Der Big Chef gebot Schweigen, dann knallte der Startschuss. Wild entschlossen versuchten die Krieger, immer größere Schritte zu machen, aber Noé war ihnen schon weit voraus.
»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«
Noé lief und lief und beschleunigte sogar noch, als würde die Last auf seinem Rücken immer leichter. Noé lief und lief und lachte.
»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«
Das Kriegsgeheul der jungen Schönheiten im sexy Indianerdress erschlaffte und erlosch schließlich in absoluter Fassungslosigkeit. Noé lief und lief und lief. Und aus seinem zerrissenen Sack segelten Gras, Blätter und Stroh … alles Mögliche, nur kein Sand!
Die Bohnenstange mit der Problemblase hatte es gewagt. Noé hatte gemogelt. Er hatte dem großen Mummenschanz öffentlich eine lange Nase gedreht, den jungen Schönheiten im sexy Indianerdress, die ihn nie eines Blickes gewürdigt hatten, und vor allem Big Chef Tooktoo, der längst gedemütigt abgezogen war. Die Mädels aus dem Reservat aber, die versammelten Krieger, die Menge aus Kitchike und aus den umliegenden Reservaten, ja, selbst die exotiksüchtigen weißen Touristen liefen und liefen hinter Noé her, der lachend die Flucht ergriff.
Erst am nächsten Morgen fand man den Sandsack, den echten, auf einem der Klos.
Und in diesem Jahr verlor der Powwow von Kitchike seinen Sponsor, den Nahrungsmittelkonzern Lénest.
»Ich versteh nicht, worauf Sie mit Ihrer Anekdote hinauswollen, Chef Saint-Ours. Was ist die Moral von der Geschicht?«
»Die große Bohnenstange Noé ist mein Onkel. Er war der Erste, der Big Chef Tooktoo bis auf die Knochen blamiert hat. Der Erste, der ihn öffentlich herausgefordert hat. Das haben ihm einige übel genommen, denn hinterher war es nicht leicht für uns. Keine Arbeit, kein Bauland, kein gar nichts. Wir waren Geächtete. Aber ich hab nach vorn geschaut. Es war eine erste Bresche in der Tyrannei der Tooktoo. In dem Moment hab ich begriffen, dass der Big Chef stürzen konnte, dass es möglich war. Vielleicht würde es dauern, wenn nötig Jahrzehnte, aber er würde stürzen. Ich würde uns vom Joch der Tooktoos befreien, wie mein Vater vor mir.«
Jakob sagte nichts.
Keiner verdarb dem Chef gern die Laune. Womöglich war das schon zu Tooktoos Zeiten so gewesen. Oder zu Zeiten von Chef James Saint-Ours, dem Vater des heutigen Chefs. Wahrscheinlich war diese Zurückhaltung aber noch viel älter und stammte aus der Zeit der Indianeragenten, diesen vom Staat eingesetzten Vizekönigen, die die Wilden zähmen sollten. Jakob hatte was gegen alles Gewese und Getue, gegen große Ansprache und feuchte Aussprache. Aber die Aushilfsjobs, wie Jack Saint-Ours sie ihm anbot, kamen ihm finanziell zupass. Keine krummen Sachen: Landschaftspflege, Schneeschaufeln, Kleinkram. Statt einer schlecht dosierten Antwort, die ihm Ärger einbrachte, hielt er also lieber den Mund. Was gar nicht so leicht war, denn der Chef verfügte über die magische Fähigkeit, die schamanische Begabung, seine Worte in einen unsichtbaren Zeigefinger zu verwandeln, der einem so lange in den Bauch piekste, bis man ausspuckte, was in einem vorging.
»Kein Wort? Sag nicht, du bist einer von den Naivlingen, die immer noch glauben, das Terrorregime von Big Chef Tooktoo hätte unserer großartigen Ersten Nation auch nur das Geringste gebracht?«
»Meine Meinung? Jetzt sind Sie der Chef, Jack. Und haben die Chance, es besser zu machen als er. So wie Sie reden, dürfte das nicht schwer sein. Und jetzt, wo wir das mit Ihrem Swimmingpool geklärt haben, würd ich gern meinen anderen Job zu Ende bringen, sonst komm ich in Verzug.«
Jakob trank den letzten Schluck Kaffee, pflanzte seine Tasse auf den Schreibtisch des Chefs und nickte ihm, bevor er hinausging, noch mal zu. Keine Schnörkel, keine Verrenkungen. Nur Respekt, von Mann zu Mann.
Der Chef, allein in seinem Büro, seufzte tief.
Ich behalt dich im Auge, kleiner Nichtsnutz. Ich behalt dich im Auge …