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Kapitel II

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In die Stille hinein tröpfelte ein Rauschen. Silas wusste im ersten Moment nicht, von wo es kam, ob von draußen oder von drinnen, aus seinem alten Körper.

Er setzte sich im Schaukelstuhl auf und rieb sich ungläubig die Augen. Die Wellen rollten ans Ufer, zogen sich zurück, die wogende Masse drückte neue Wellen ans Land; weit in der Ferne, weit draußen auf dem Meer, ein Punkt, ein Schiff, vielleicht ein Frachter – und während er noch schaute, ließ ein schwacher Widerhall die Luft erbeben. Es war sein eigener Herzschlag.

Das Nächste, was er feststellte: dass Romys Hand nicht mehr in seiner war und neben ihm herunterhing – er erstarrte.

Er wusste nicht, wie lange er neben Romy gesessen hatte. Zwischen den vielen Fragen, die gleichzeitig an seine Schläfe hämmerten, verlangte sein ärztliches Gehirn nach Ordnung. Er sah sich in Gedanken aufspringen, die notwendigen Schritte einleiten, vielleicht den Magen auspumpen, reanimieren; aber er tat nichts, blieb einfach sitzen, saß wie betäubt auf der Veranda.

Als er erneut feststellte, dass Romy tot und daran nichts zu ändern war, ging ein Ruck durch seinen Oberkörper. Er starrte beim Aufstehen nur nach vorn, das Meer, der Punkt in der Ferne, als könnte Page 18er sich an ihm festhalten und sich zurück in das Leben ziehen. In was für eine närrische Situation war er da hineingeraten? Er wollte sich augenblicklich zu Romy begeben, mit ihr zusammen unterwegs sein, und nun ließ er sie im Stich.

Er hatte das Gefühl, die Stufen der kleinen Treppe zum Strand zu überfliegen, so wie früher in seiner Kindheit, wenn er in der Stille der Nachmittage die Böschung zu den Gütergleisen hinuntergesprungen war.

Was jetzt, Silas, was jetzt?

Er suchte in der Ferne nach dem Punkt, aber er konnte ihn nirgends sehen; das riss ihn aus seiner Lethargie. Er musste Herr werden über diese Situation, aber wie? Er war unvorbereitet. Unvorbereitet – was dachte er auch für einen Unsinn; das riss ihn nochmals aus der Versunkenheit, sodass er zurückzustapfen begann. Der Sand unter den Füßen kam ihm anders vor, wie ein sumpfiger Untergrund, der ihn nicht gehen lassen wollte, wohin er auch immer gehen wollte. Zurück natürlich, dachte er, zurück zu Romy. Ach, Romy, du meine Güte – er glaubte plötzlich, ihr Vorhaben würde erst morgen sein, natürlich, er hatte sich in der Zeit geirrt, es musste so sein; und er drehte sich wieder Richtung Horizont, fand es verrückt, nur nach diesem einen Punkt Ausschau zu halten, da es doch Tausende von Punkten gab, die unterwegs waren, und Tausende, die – noch unbeachtet – sich aneinanderreihten Page 19zu einer Geraden, einer Strecke, einem Weg, zu einer Verbindung, bedeutungsvoll und besonders auf ihre Weise, wie die Verbindung zwischen Romy und ihm.

Als sich ihre Wege das erste Mal kreuzten, war das Jahr 1960 schon sieben Monate alt. Bis zu diesem Augenblick waren sie sich noch nie begegnet, obschon sie beide mittlerweile in derselben Stadt wohnten – war es so gewesen?

Silas dachte darüber nach. Er sah Romy vor sich, kurzärmlig und vertieft in dieses Buch, das in ihr gemeinsames Leben nachhallen würde bis zu diesem Tag. Dieser Tag, an dem er hier stehen würde, verloren, verirrt in seiner Seele.

• • •

Lange bevor sich ihre Wege das erste Mal kreuzten, verbrachten beide in ihrer Kindheit und Jugend viel Zeit mit Lesen, etwas, auf das in ihrer Erziehung Wert gelegt wurde. Geistige Werke waren konstante und selbstverständliche Begleiter. So verkopft sie sich während der gesamten Schulzeit nach außen gaben, insgeheim beschäftigten sie sich mit den Fragen der Liebe. Unabhängig voneinander schworen sie, sich der Liebe nur dann hinzugeben, wenn sie ihnen das Herz rasen ließ, wie sie es aus den Geschichten kannten, und sich zugleich beide Intellekte ineinanderfügten. Da waren zwar Page 20einige, die sich für sie interessierten. Doch nie trat eine solche Liebe in der Pubertät und im Gymnasium auf, und niemand von ihren Freunden wusste wirklich, was in ihnen vorging.

Silas war in seiner Kindheit oft vor Langeweile starr, ballte in seiner wütenden Monotonie die Fäuste in der Tasche. Dann saß er an der Böschung in der Nähe seines Elternhauses, das außerhalb der Stadt lag, und zählte die Waggons der vorbeifahrenden Güterzüge.

Als er alt genug war, selbst mit dem Zug in die Stadt zu fahren, sog er die Betriebsamkeit in sich auf, schaute wildfremden Menschen zu, was sie gerade taten oder nicht taten, und vergaß darüber die Zeit.

Obschon es in seiner Familie keine Mediziner gab, war es für ihn das einzig Richtige, sein Studium dem Interesse für den Menschen und seinen Körper zu widmen. Unter den Mitstudenten war er sehr beliebt. Er konnte seine Gedanken bei den hitzigen Debatten in den Cafés gut ausdrücken. Aber wenn es um Liebesdinge ging, hielt er dicht und ließ niemanden in sein Inneres blicken. Er galt als fleißiger Student, der immer einen Spruch auf den Lippen hatte, und einmal die Woche lief er über zwei Stunden am Ufer des Stadtflusses entlang, mehr um seinen Kopf für neue Gedanken zu leeren als der körperlichen Ertüchtigung wegen.

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Romy war zwei Jahre jünger als Silas und wie er ein Einzelkind. Sie begann das erste Semester an derselben Universität, an der er bereits seit einem Jahr ein und aus ging. Da Bücher für sie wie die Luft zum Atmen waren, studierte sie im Hauptfach – neben Geschichte und Philosophie – Literatur. Sie war sich ihres Privilegs zu studieren bewusst, war dankbar für dieses freiheitliche und selbstbestimmte Dasein, welches sie sich auch nach dem Studium bewahren wollte.

Als Kind hätte sich Romy am liebsten alle Farben der Welt einverleibt. Sie mochte das Orangerot der untergehenden Sonne, das wässrige Blau des Herbsthimmels, das Ameisenschwarz, selbst das verblichene Weiß eines verputzten Hauses. Vor dem Wollladen konnte sie minutenlang stehen bleiben, bis sich ihre Mutter erbarmte und sie fünf Farben aussuchen ließ, mit denen sie zusammen einen Pullover anfertigten. Romys Lust, sich die Welt und ihre Farben anzueignen, führte zu einer wahren Sammelleidenschaft. War es damals die Wolle, die ihr Kinderzimmer füllte, waren es in späteren Jahren die Reisesouvenirs, die sie aus den fernen, mit Silas besuchten Ländern mitbrachte und für die sie im Haus bei den Dünen einen Platz fand.

Sie begann auch wieder zu stricken, bis sie irgendwann die Farben verwechselte, und wenn sie den Irrtum bemerkte, ärgerte sie sich, dass Silas ihr nichts gesagt hatte. Am meisten ärgerte sie sich über sich selbst – das wusste Silas, aber Page 22er sagte nichts, und sie wusste, dass er es wusste. Und dasselbe Prozedere wiederholte sich, wenn Silas manchmal die Wochentage verwechselte. Am Ende lachten sie darüber. All die Jahre, die geteilten Erinnerungen, Erfahrungen und Prägungen, die sie zusammengeschweißt hatten, ließen sie auch das erdulden.

Damals, vor vielen Jahren, da hatten sie von solchen Dingen noch keine Ahnung. Sie konzentrierten sich auf ihr Studium, widmeten sich lieber der Kraft ihres Verstandes als verschwenderischen Träumereien, richteten ihren Blick in die Studienbücher und auf Ereignisse in der Welt statt auf eigene Schwankungen und Versäumnisse. Sie bedauerten die Entwicklungen in Vietnam ebenso wie die Zwangsumsiedlungen der schwarzen Bevölkerung in Südafrika. Sie verfolgten alle politischen Entscheidungen, Schritte, Irrwege akribisch, aber für die eigene Liebe zeigten sie kein Interesse. Und wenn sie in trüben Gefühlen badeten oder existenzielle Langeweile empfanden, zogen sie es vor, sich draußen, vor der Universität, aufzuhalten statt in der Bedrücktheit ihrer eigenen vier Wände.

An so einem Nachmittag – es war Sommer, die Luft schwül und flirrend vor Hitze – begegneten sich Silas und Romy das erste Mal. Der Park auf der Haupteingangsseite der Universität lud im Page 23Schatten der Eichen zum Verweilen ein. Als Silas an Romy vorüberschlenderte, scheinbar in Gedanken versunken, blieb er augenblicklich stehen, weil er etwas gesehen hatte, das ihm vertraut war. Er zeigte – noch bevor er sich dessen bewusst war – auf das Buch, das neben ihr lag, und setzte sich zu ihr hin.

Romy nahm es erstaunt zur Kenntnis. Sie kam nicht wie sonst dazu, das Buch vor fremden Blicken in ihrer Tasche zu verbergen; ehe sie sich’s versah, hatten sie zu debattieren begonnen. Sie waren sich uneinig, ob Romeo und Julia ihren Untergang wirklich selbst bewirkten – und einig, dass ihr Akt des freien Willens ausdrückte, mit welcher Konsequenz sie mit ihrer Liebe eins waren. Das mochten Romy und Silas irgendwie.

So unmittelbar sie sich in das Gespräch verstrickten, so heftig sie sich gegenseitig ihre Ansichten mitteilten, so abrupt lösten sie sich wieder. Hatten sie eben noch aufeinander eingesprudelt, verstummten sie nun schlagartig, hatten keine Kraft, sich zu verabschieden, und stahlen sich – erstaunt, so schnell ihr Inneres nach außen gekehrt zu haben – nacheinander aus dem Park, ohne die Düfte des Sommers oder irgendetwas anderes wahrzunehmen. Das Geschoss der Liebe hatte sie augenblicklich getroffen.

In den darauffolgenden Tagen hielten sie insgeheim nacheinander Ausschau. Doch als wäre ihre Page 24Begegnung ein Spuk gewesen, sahen sie sich auch in den kommenden Wochen und Monaten nicht. Die Temperaturen sanken, der Boden wurde frostiger, und Silas und Romy, die sich in ihren vorherigen Zustand zurückwühlten, ärgerten sich über die Dummheit ihrer eigenen Spezies und verfolgten ungläubig, dass ein Affe die Erdkugel zweimal zu umkreisen hatte, während auf der Erde selbst die eine Hälfte an Hunger und Armut litt.

• • •

Silas stand wieder auf der Veranda und schaute nach Romy. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, die Arme hingen schlaff auf beiden Seiten des Schaukelstuhls herunter, alles Leben war aus ihr gewichen. Sie war fort und er noch da. Wut, Verzweiflung, Versagen ergriffen ihn abwechslungsweise, er fand sich vor der Backofenuhr wieder – 20:16.

Weshalb hat dieses verfickte Barbiturat nicht gewirkt?

Übelkeit kroch in ihm hoch; er beugte sich übers Klo, würgte, aber nichts kam. Befindlichkeitsstörung, Warnsignal, Medulla oblongata und weitere Begriffe verstopften seine Gedanken. Verfickt – wann hatte er das zum letzten Mal gedacht? Ihm kam nur der Augenblick in den Sinn, als ihnen die Diagnose mitgeteilt worden war. Da hatten sie die Reise nach Südafrika schon geplant – und sie Page 25wussten beide, ohne es auszusprechen, dass es ihre letzte gemeinsame Reise werden würde.

Es war immer Romys Traum gewesen, ferne Länder zu besuchen. Sie interessierte sich für fremde Kulturen, in den letzten Jahren hauptsächlich für afrikanische, und auch Silas reiste gern. Im Gegensatz zu ihr sammelte er aber keine Souvenirs; Besitz anzuhäufen, erfüllte ihn mit Gräuel. Ein Auto, eine Reisetasche, ein Füller genügten ihm. Mehr als ein Domizil sein Eigentum zu nennen, sah er ebenso als Verschwendung von Ressourcen an. Als ein Kollege in der Klinik ihm sein Ferienhaus anbot, erzählte er es – ohne sich etwas dabei zu denken – Romy weiter, und sie war gleich Feuer und Flamme.

Siehst du, jetzt gefällt es dir auch – sagte sie, wenn sie später auf der Veranda saßen. Wir dürfen uns auch mal was leisten! Sie schaute ihn mit ihren forschenden blauen Augen an, so wie früher, wenn sie an den studienfreien Nachmittagen durch die nahen Wälder spaziert waren, Augen, so blau wie zwei Erdbälle.

Bis nach dem letzten Sommer war alles noch normal gewesen. Romys temperamentvolle Art, Gedanken loszuwerden, gehörte für ihn dazu, manchmal wiederholte sie ganze Bündel an Sätzen in anderer Reihenfolge, was sie früher nicht getan hatte, aber dasselbe machte er auch – wer konnte es ihnen verdenken, dass sie in ihrem fortgeschrittenen Page 26Alter nicht mehr so brillante Rhetoriker waren wie zu ihrer Studienzeit. Dennoch konnte er es nicht vermeiden, sich und Romy insgeheim zu beobachten, verdächtig wirkende Symptome zu registrieren und abzuwägen. Bis sie Wörter zu verwechseln begann und eines Tages nicht mehr wusste, dass man der Farbe Rot Rot und der Farbe Blau Blau sagte. Etwas hatte in ihr Beisammensein eingegriffen, war störrisch und lästig wie ein Gast, der nicht gehen wollte, wie ein Geruch, den man nicht aus dem Haus brachte. Und als Romy ihn auf einem alten Foto für seinen besten Studienfreund hielt, krampfte sich sein Herz zusammen.

Romy war bedrückt. Er sah es an ihrem Blick, ihrer Körperhaltung, der Art, wie sie manchmal schwieg. Etwas staute sich in ihrer Seele, reifte und drängte nach außen. Und sie hatte Angst davor. Sie hatte Angst, sich einzugestehen, dass sie sich in Behandlung begeben musste.

Du musst, sagte er, daran führt nichts vorbei.

Vielleicht doch, sagte sie, du weißt, was ich meine – ich könnte sofort – ohne Wenn und Aber – das müsstest du doch verstehen – schnell und sauber – Ihre Stimme zitterte vor diesem plötzlich aufgetauchten Mut, ihre Augen leuchteten. Das war seine Romy. Aber zugleich lehnte sie sich an ihn, war so still und schüchtern, wie er sie nie zuvor erlebt hatte; und an ihren Wimpern blitzten Tränen.

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Über zwanzig Jahre hatten sie immer wieder Zeit im Haus bei den Dünen verbracht, waren von hier aus zu Ausflügen aufgebrochen, manchmal nur durch die nähere Gegend gezogen, bis zum Hafen in der nächsten Stadt gewandert, damit er die Kräne beim Ein- und Ausladen der Schiffe beobachten konnte, während sie geduldig im Schatten von aufgeschichteten Paletten in einem Buch las. Sie winkten den Passagieren der Kreuzfahrtschiffe zu, die von der Reling zurückwinkten und bald Richtung Horizont fortgetragen wurden. Romy hatte Angst, dass sie seekrank werden würde, sie hasste den Wellengang, schon als Kind war ihr schlecht geworden, daher mieden sie es, mit dem Schiff zu reisen – auch wenn Silas ab und zu bedauerte, nie eine längere Schiffsreise gemacht zu haben, länger auf dem Meer gewesen zu sein, am liebsten auf einem Frachtschiff. So zogen sie es vor, weitere Strecken zu fliegen und kürzere mit dem Auto zurückzulegen. Bald, sagten sie, brechen wir auch wieder auf. Und wenige Wochen später packten sie ihre Koffer und schwirrten Richtung Norden oder Süden.

Auch zu den Tests fuhren sie täglich von hier aus, zogen sich danach wieder zurück, stellten sich von Neuem den Tatsachen. Die Resultate ließen bald keine Zweifel mehr übrig: Romy befand sich in einem frühen Stadium von Alzheimer. Eigentlich ein schönes Wort, sagte sie später, ohne seine Bedeutung je nachgeschlagen zu haben. Alzheimer Page 28– klingt, als würde es das Daheimsein im Alter ausdrücken. Ganz annehmbar, findest du nicht?

Im Moment der Diagnose herrschte eine knöcherne Stille. Romy umklammerte seinen Arm; sie sagte nichts, aber ihre Augen verschwanden hinter einem Schleier aus Tränen.

Silas wusste nicht, was er fühlen sollte, und saß einfach nur wie betäubt da; von außen sah es aus, als nehme er die Diagnose und alles, was jetzt auf sie beide, aber vor allem auf Romy, zukommen würde, gefasst hin. Innerlich zog es ihm sämtliche Muskeln zusammen; er hasste den Arzt und dessen ehrliches Bedauern.

Verfickter Quacksalber!, sagte Silas danach ständig, während er das Lenkrad so fest umklammerte, dass seine Knöchel ganz weiß waren.

Meinst du dich selbst?

Silas warf Romy einen flüchtigen Seitenblick zu.

Sie wollte nicht zurück zum Haus bei den Dünen, also fuhren sie herum, am Hafen vorbei und die Küstenstraße entlang, bis sie irgendwann auf einem Parkplatz anhielten, still ausstiegen und aufs Meer schauten.

An der Diagnose gibt es nichts zu rütteln, sagte Romy, bald werde ich leer und leblos sein wie eine Wüste, mein Herz, meine Seele, mein Gedächtnis weggestohlen.

Sie wussten beide, dass sich Alzheimer innerhalb Page 29der nächsten Jahrzehnte kaum würde heilen lassen, dass noch keine nennenswerten Fortschritte gemacht worden sein würden.

Später am Nachmittag fuhren sie zu einem argentinischen Restaurant, das sie sehr mochten und im Verlaufe der Jahre immer wieder besucht hatten. Man kannte sie und führte sie zu einem bereits gedeckten Tisch. Aber sie bestellten nur eine Flasche Wein, die sie in weniger als einer halben Stunde leerten – ihre Stimmen waren leise.

Zuerst ist es vielleicht noch lustig, zischte Romy zu Silas hinüber. Aber dann werde ich immer deprimierter sein, gereizt. Ich kann nicht mehr selbstständig handeln. Ich verstehe nichts mehr, bin pflegebedürftig. Am Ende erkenne ich dich nicht mehr, frage nach Leuten, die schon seit Ewigkeiten tot sind, werde so, dass auch du mich bald nicht mehr kennst. Ich werde gemein. Werfe dir Gegenstände an den Kopf. Fluche wie der Papst, wenn er allein im Weinkeller ist. Sie lachte kurz auf, aber es war mehr ein Schlucken; er sah die Tränen in ihren Augen. Ich habe Panik beim Gedanken, mein Gedächtnis zu verlieren, fuhr sie fort. Es macht mir Angst, dass ich nichts mehr erkennen und benennen kann. Ich möchte gehen, Silas, das Leben ist nur ein Geschenk, wenn es als ganzer Mensch erlebt werden kann. Aber ohne Gedächtnis bist du kein Mensch mehr. Ich will, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie ich bin, und nicht, wie ich sein werde.

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Aber ich werde dich begleiten – du weißt schon –, ich lasse dich nicht allein, niemals! Es war das Erste, was Silas nach geraumer Zeit sagte. Was guckst du jetzt so? Ich muss darüber nicht nachdenken. Ich kann und will ohne dich nicht leben.

Ich weiß nicht, sagte sie erbost, ob das umgekehrt auch so wäre.

Für mich ist das aber so!

Ach, Silas – du und deine Sturheit!

Die Gäste schauten jetzt her; ein sich anschweigendes altes Paar hatte nichts Außergewöhnliches, ein sich ankeifendes altes Paar aber offenbar schon.

Was glotzt ihr denn so?, rief Silas aus – dann starrten sie auf die unbenutzten Teller.

Ich bin kein Kind mehr, nahm Silas den Faden wieder auf, ich weiß, was ich tue, du musst mir nur gut zuhören. Ich will dich begleiten. Ich will mit dir den Schritt machen. Es ist meine Entscheidung. Es ist mein Leben.

Also gut, sagte Romy nach einem kurzen Moment der Stille. Vielleicht würde ich es auch so machen.

Denk an unser Versprechen.

Ja, klar, hatte sie leise gesagt, daran erinnerte sich Silas jetzt, als er vom Backofen zurücktrat und wusste, dass er etwas Konkretes tun musste, um dieser Situation Herr zu werden. Aber noch immer war er wie gelähmt.

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Er war bei seiner Entscheidung geblieben – und sie hatte es nach mehreren Versuchen aufgegeben, ihn umzustimmen. Sie kannte seine Unverrückbarkeit, wenn er sich entschieden hatte. Uneinig waren sie sich noch, wann es so weit sein sollte.

Sobald ich dich mit meinem Vergessen zu ärgern beginne. Denn besser wird es nicht, keine Chance, sagte Romy.

Silas gab sich in der folgenden Zeit Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, wenn Romy Gesichter und Gegenstände manchmal nicht mehr erkannte, wenn ihr Namen und Bezeichnungen nicht mehr einfielen. Altvertrautes, Plätze und Straßen wollte sie nur noch ab und zu kennen. Für Silas war das alles in Ordnung, bis er eines Morgens seine Brille im Backofen fand, den sie für ihre Frühstücksbrötchen eingeschaltet hatte.

Verflucht, Romy!, polterte er los – brach dann aber sofort ab. Sie blickte ihn stumm an. Es war alles gesagt.

Die Liebenden bei den Dünen

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