Читать книгу Die Liebenden bei den Dünen - Lu Bonauer - Страница 8

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Kapitel I

Silas, der nicht schlafen konnte, betrachtete von der Veranda aus das Meer; es glitzerte im Dunkeln, eine Vielzahl von Punkten, und er hoffte, dieser nächtliche Schimmer dort draußen würde ewig bleiben und der Tag, der bald begann, wäre unerreichbar. Er stellte sich vor, auf einem Schiff zu sein und von dort aus, in sicherer Ferne, nach ihrem Haus Ausschau zu halten. Dieser Tag, der sich in seinem Kopf festgesetzt hatte. Dieser Tag, der so anders werden würde. Dieser Tag, der so normal begann.

Wie immer bereiteten Silas und Romy das Frühstück gemeinsam zu, Spiegeleier, Brötchen und starker Kaffee. Das Meer war von der Küche aus zu sehen und strahlte jetzt in einem herrlichen Indigoblau. Es war Dienstag, der 6. Mai – die Backofenuhr zeigte 08:33. Sie sprachen nicht viel. Hie und da strich Silas seiner Frau über den Rücken. Und Romy tat es ihrem Mann wenig später nach.

Hast du es dir wirklich gut überlegt? Romy hatte diese Frage beharrlich gestellt. Manchmal schon beim Aufstehen, beim Frühstück oder wenn sie zusammen auf dem Sofa saßen. Mit der Zeit wie beiläufig erwähnt, zwischen andere Sätze geschmuggelt. Schau, die niedrigen Wellen, schau, der Himmel, so wolkenlos – bleibst du wirklich bei deiner Entscheidung?

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Die letzten Wochen und Monate waren wie ein gemeinsamer schwebender Stillstand gewesen. Doch wenn Silas an ihren letzten Herbst zurückdachte, dann hörte er die Regentropfen, wie sie ans Fenster trommelten, rastlos und schwer. Während draußen über mehrere Tage das Unwetter tobte, hatten sie Listen erstellt, was sie unbedingt noch vor der Fahrt hierher erledigen wollten.

In der Zeit, die ihnen noch blieb, waren sie nach dem Frühstück am Strand entlangspaziert, ehe sie den Weg landeinwärts nahmen. Nach einem Fußmarsch von gut einer Viertelstunde kamen sie zum nächsten Anwesen, das einem einheimischen Ehepaar gehörte, ein kleiner Hof, nichts Großes, zwei Pferde, ein Hund. Der war so alt wie das Gebälk, das die Scheune zusammenhielt, sodass er meist in den Tag hineinschlief und nur aufbellte, wenn sich jemand dem Grundstück schon bis auf fünf Meter genähert hatte; was eigentlich nie vorkam, außer wenn Silas und Romy heranspazierten.

Auch an diesem Tag fand der Spaziergang zum Hof statt. Wie immer lief sie ein ganzes Stück vor ihm, und er hielt den Abstand ein, bis sie zu ihm herschaute und er mit seinem Stock winkte. Wie immer war sie vor ihm beim Hof. Dass sie dort schon eingetroffen war, wusste er, weil er im Wind das Bellen hörte.

Spaziergang. Hof. Hund. Ein, zwei Worte. Sie wollten alles so normal wie möglich bestreiten, das Page 13hatten sie vorher ausgemacht. Auch wenn heute Romys Geburtstag war, ließen sie diese Bedeutung unerwähnt. Romy hatte diesen Tag ausgewählt, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Und niemand würde anrufen, um zu gratulieren. Auch dafür hatten sie gesorgt.

Später an diesem Tag, als das Meer in einem verwegenen Blau schimmerte, stellte Silas den Fernseher an, zappte herum, bis Romy vom Schwimmen zurückkam. Und noch etwas später saßen sie beieinander auf dem Sofa und sahen sich alte Fotos an, die meisten schon etwas verblichen. Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die Silas damals selbst entwickelt hatte, in der Dunkelkammer der Universität. Auf den Fotos war der Herbst zu erkennen, Blätter an den Ästen der Parkbäume und heruntergefallene Blätter im Gras; und natürlich sie beide, gerade mal ein halbes Jahr zusammen. Sie war so schön gewesen – sie war noch immer schön. Ihre Augen glitzerten, als sie merkte, dass Silas sie betrachtete. Sie versuchte zu lächeln. Die Falten um ihre Lippen zitterten – Ach, Silas, sagte sie, und nun sind wir hier.

Wir könnten nochmals spazieren gehen, sagte Silas, doch Romy sprach sich dagegen aus. Lass es gut sein. Sie sagte es leise, aber bestimmt. Obschon ihre Stimme an Kraft verloren hatte, hatte sie noch immer diese Eindringlichkeit, wenn sie sich gegen etwas zur Wehr setzte.

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Der stärker gewordene Wind trieb die Wellen ans Ufer. Romy stellte die Gläser bereit. Während sie in der Küche sorgfältig alles herrichtete, saß Silas auf der Veranda. Er war unruhig. Das flaue Gefühl in der Magengegend verschwand einfach nicht. Er hatte keine Angst vor dem, was ihnen bevorstand – und während er am Horizont einen dunklen Punkt ausmachte, der sich bloß als Möwe entpuppte, die aus der Sonne geflogen kam, erinnerte er sich. Dasselbe Gefühl hatte er schon einmal gehabt, während der ersten Wochen von Romys Schwangerschaft.

Das Sterbeli, sagte Romy plötzlich neben ihm, und Silas drehte sich halb zu ihr um – den Namen hatte sie vor wenigen Wochen dafür erfunden. Er wollte ihr noch so viel sagen, aber er schwieg, weil Romy jetzt seine Hand hielt, die Augen geschlossen.

Sie saßen die nächste halbe Stunde eng beieinander, still, redeten kaum mehr, zwischendurch schaute Silas auf die Backofenuhr. Alles stand bereit auf dem Tablett in der Küche, die beiden Gläser, in die Romy das Sterbeli getropft hatte.

Die letzte Stunde zogen sie sich noch einmal ins Schlafzimmer zurück, legten sich hin, halfen sich gegenseitig, einander zu berühren und zu liebkosen, dann lösten sie sich voneinander. Sie atmete mit schwerem Blick, weinte etwas; er nahm es kaum wahr, weil seine Hände viel fester zitterten Page 15als sonst. Er hatte Mühe, das Hemd anzuziehen, die für diesen Tag viel zu warme Hose, die Schuhe, die sie ihm vor ein paar Jahren gekauft hatte. Sie trug einen Baumwollrock, eine weiße Bluse und die Brosche, die er ihr zu ihrem sechzigsten Geburtstag geschenkt hatte und die ihn im Stillen daran erinnerte, dass auch heute ihr Geburtstag war.

Silas betrachtete sich prüfend im Spiegel, geduscht und rasiert hatte er sich schon am Morgen. Als Romy aus dem Bad trat, tat sie es mit einem Lächeln, das er nicht zu deuten vermochte und das auch nicht verschwand, als er sie über die paar Stufen bis zur versetzten unteren Wohnebene führte.

Während er die Schiebetür zur Veranda öffnete, ergriff sie das Tablett. Die Backofenuhr zeigte 18:11; sie hatten noch genau zehn Minuten.

Im Spätnachmittagslicht setzten sie sich auf die zwei bereitgestellten Schaukelstühle, dazwischen stand auf einem kleinen, runden Tisch das Tablett mit den zwei Gläsern, dazu hatte Romy den Brief gelegt, den sie schon vor zwei Wochen aufgesetzt hatte. Silas kontrollierte die Decke, die sich Romy über die Beine gelegt hatte, dann tat er dasselbe bei sich. Der Nachmittagswind hatte sich abgeschwächt.

Ich bin froh, sagte Romy, dass du bei mir bist. Sie gab Silas das Glas, seine Hände zitterten, so wie ihre, als sie ihr Glas nahm, dann schwiegen sie wieder, bis Romy ihm zuflüsterte: Ich habe nie aufgehört, Page 16dich zu lieben. Und er sagte dasselbe, beugte sich etwas auf ihre Seite und strich ihr noch einmal über die Wange, so wie er es immer getan hatte. Er wollte ihr sagen, dass es nun Zeit sei – da hatte sie schon den ersten Schluck mit dem Strohhalm zu sich genommen, sodass er sich beeilte. Sie stellten die leeren Gläser zurück, nahmen sich, wie abgemacht, an den Händen und schlossen die Augen. Die Luft war flirrend, sie fühlte sich an wie Seide; die angekommenen Wellen zogen sich zurück, und neue rollten ans Ufer.

Die Liebenden bei den Dünen

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