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ОглавлениеKapitel 3
Mogi das Cruzes
Der Vater
Chaotischer Verkehr: Motorroller und Motorräder mit jaulenden Hupen. Überführungen, Wolkenkratzer, Sozialbauten, Brücken, die sich über den dichten Verkehr erheben, Industrie, Straßenarbeiten, Favelas. São Paulo, eine Megametropole mit elf Millionen Einwohnern, zieht sich endlos dahin: Es scheint Besucher in seine Fänge nehmen und niemals wieder loslassen zu wollen. Die Stadt breitet sich entlang der dreispurigen Rodovia Ayrton Senna aus, der neuesten ihrer Art im Land, benannt nach dem gleichnamigen Nationalhelden und Rennfahrer aus São Paulo, der 1994 beim Grand Prix von Imola tödlich verunglückte.
Der Bus fährt vom Busbahnhof Rodoviário Tietê ab, dem größten in Lateinamerika und zweitgrößten der Welt nach Port Authority in New York. Reisende auf ihren Wegen eilen hierhin und dorthin. Der Bus ist pünktlich, hat aber Schwierigkeiten, sich durch den dichten Verkehr zu kämpfen. Er schrammt an Lastwagen und Autos vorbei, die zwischen den Spuren hin und her wechseln. Eine Mautstelle, dann geht es auf die Autobahn. Auf dem Weg Richtung Itaquaquecetuba entlässt die Stadt den Bus endlich aus ihren Fängen und in eine offene grüne Landschaft voller Hügel, die wie mit dem Lineal gezogen aussehen. Hoch oben am Himmel flattern Drachen, und zwischen der Vegetation sind vereinzelt knochentrockene, staubige Fußballplätze zu erkennen. Sie gehören zu den Favelas, die sich an die Hänge klammern: rote Ziegelbauten, die aussehen, als wären sie von einem Kind aus Legosteinen zusammengebastelt worden, behelfsmäßige Dächer, Satellitenschüsseln, große Planen, die Bauarbeiten abdecken, die niemals vollendet wurden. Ein paar Tümpel, ausgebrannte Autos, Kinder, die auf Fahrrädern die mehrspurige Straße überqueren, um mit ihren Einkäufen nach Hause zu kommen.
Dann folgt die steile Abfahrt von der Serra de Itapeti. Im Tal sieht man die Wolkenkratzer von Mogi das Cruzes, einer der Gemeinden von Alto Tietê, einer Region im Osten des Großraums São Paulo. Hier spielte Neymar da Silva Santos Fußball, und hier kam sein Sohn Neymar Júnior zur Welt: ein Ort mit knapp 400.000 Einwohnern, die Bevölkerung hat sich in den letzten 15 Jahren durch den Zuzug von Pendlern verdoppelt. Sie wohnen hier und fahren jeden Morgen zur Arbeit in die Stadt. Und jeden Abend warten sie am Bahnsteig der Estação da Luz in São Paulo geduldig darauf, sich in die Wagen der Linie 11 der Companhia Paulista de Trens Metropolitanos zu zwängen, einem knarrenden und klappernden Vorortzug, der sie wieder nach Hause bringt.
Immerhin gibt es Arbeit in Mogi, wo Industriegiganten wie General Motors, der Traktorhersteller Valtra und der Stahlkonzern Gerdau Werke haben und einen Großteil der Bevölkerung beschäftigen. Der Dienstleistungssektor ist mit Namen wie Tivit und Contractor vertreten, zwei der größten Telemarketingunternehmen. Die Landwirtschaft boomt: Gemüse, Pilze, Datteln, Mispeln und Blumen, hauptsächlich Orchideen. Atemberaubend schöne Exemplare davon sind in einer der Haupttouristenattraktionen der Stadt zu bewundern: dem Orquidário Oriental. „Orientalisch“? Ja, Sie haben richtig gelesen: Auch der Osten hat Mogi geprägt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Mogi einen Zulauf von Immigranten aus Japan: Frauen und Männer, die in Landwirtschaft, Gartenbau und Handwerk arbeiteten. Sie errichteten eine lebendige und blühende Gemeinde, die stets den Bezug zu ihren Wurzeln wahrte. Davon zeugen Monumente, Restaurants, Kulturvereine, Festivals, Schulen und eine Städtepartnerschaft mit Toyama und Seki. Leider musste das Torii, das traditionelle japanische Holztor, Symbol der japanischen Immigranten, das am Ortseingang stand, im Frühjahr 2013 aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen entfernt werden. Schwere Regenfälle hatten es arg in Mitleidenschaft gezogen.
Glücklicherweise ist eines der anderen Wahrzeichen von Mogi von der Witterung nicht beeinträchtigt worden: eine massive glänzende Skulptur aus rostfreiem Stahl, die sich 13 Meter in den Himmel erhebt und auf den ersten Blick wie Don Quixote aus La Mancha anmutet, tatsächlich aber eine Hommage an Gaspar Vaz anlässlich der 450-Jahr-Feier der Stadt ist. Gaspar Vaz war ein Abenteurer, der den Weg von São Paulo nach Mogi erschloss und die Stadt im Jahr 1560 gründete. Von der Avenida Engenheiro Miguel Gemma aus, wo sich eine glänzende Statue des Stadtgründers befindet, der auf der Suche nach Gold in die Gegend kam (oder aber nach Eingeborenen, die er versklaven könnte), erreicht der Bus den Bahnhof Geraldo Scavone in wenigen Minuten. Exakt eine Stunde dauert die 50 Kilometer lange Reise von São Paulo nach Mogi.
Durch die gepflasterten Straßen der Vila Industrial erreichen wir das Estádio Municipal Francisco Ribeiro Nogueira, besser bekannt als Nogueirão. Das große Tor ist geschlossen, aber jemand kommt und öffnet uns. Dies ist die Heimat des União Mogi das Cruzes Futebol Club, der am 7. September 2013 sein 100-jähriges Bestehen feierte. Gegründet wurde er vom weißen Tuchhändler Chiquinho Veríssimo und dem schwarzen Schuhmacher Alfredo Cardoso. Der Klub wurde am brasilianischen Unabhängigkeitstag ins Leben gerufen. Die Spielkleidung ist rot-weiß oder ganz rot, das Maskottchen ist eine im Tietê-Tal heimische Schlangenart (in der Sprache der Einheimischen bedeutet Mogi „Fluss der Schlangen“).
União ist einer der ältesten Fußballvereine der Region. Im Laufe seiner langen Geschichte haben sich hier Spieler wie Cacau (VfB Stuttgart), Maikon Leite (Náutico Capibaribe aus Recife) und Felipe (Flamengo Rio de Janeiro) ihre ersten Sporen verdient. União war schon immer ein Klub, der zwischen Amateurklasse – 1947 war er Sieger des regionalen Amador-Turniers – und den unteren brasilianischen Ligen pendelte.
Seine goldene Ära erlebte der Klub in den achtziger Jahren bis Anfang der Neunziger, als er um den Aufstieg in die erste Liga der Staatsmeisterschaft von São Paulo mitspielte. Letztlich scheiterte União, und der einzige Titel bleibt die Meisterschaft in der Segunda Divisão 2006. Drei Jahre später erlebte der Verein seine schlimmste Saison: União, oder Brasinha, wie der Verein von den Einheimischen genannt wird, wurde zum „schlechtesten Team der Welt“: 18 Niederlagen in 19 Spielen bei 75 Gegentoren, ein Rekord, der den Klub geradewegs in die Quarta Divisão führte. Heute ergeht es ihm nicht viel besser, weder was die Ergebnisse, noch was die Finanzen angeht – tatsächlich ist die Lage so mies, dass die Hundertjahrfeierlichkeiten ins Wasser fielen. Senerito Souza, der Vorsitzende des Klubs, versprach für die Zukunft bessere Zeiten.
Unterdessen trainieren die Spieler für das nächste Ligamatch. Um 11:30 Uhr tritt die erste Mannschaft zu einem Testspiel gegen den Nachwuchs an. Die Sonne brennt, und der rote Ziegelschornstein auf der anderen Seite des Stadions wirft seinen Schatten auf den grünen Rasen. Hinter dem Metallzaun, der das Feld von der Tribüne trennt, auf der bis zu 10.000 Zuschauer Platz finden, verfolgt Sportmanager Carlos Juvêncio das Treiben der jungen Hoffnungsträger. Wegen der Hautkrankheit Vitiligo, die weiße Flecken auf seinem schönen schwarzen Gesicht hinterlassen hat, wird er auch „Pintado“ („angemalt“) genannt. Als die Spieler sich in die Kabine verziehen, habe ich die Gelegenheit, mit ihm zu plaudern.
„Wie war Neymar da Silva Santos O Pai, der Vater von Neymar Jr., als Spieler?“, frage ich. „Ein guter Angreifer, eine Nummer 7“, antwortet Pintado. „Er spielte auf dem Flügel. Er war flink, beschlagen, gut im Dribbling, scheute keinen Zweikampf. O Pai war ein fröhlicher Bursche, extrovertiert, ein netter Kerl, mit dem gut auszukommen war.“ Diese Ansicht teilen auch frühere Mitspieler wie die Verteidiger Montini und Dunder oder auch Torwart Altair. Jeder stimmt zu, dass Neymar einiges draufhatte am Ball. Ein Angreifer alter Schule, der nicht viele Tore erzielte, aber das Spiel gestalten konnte und gute Flanken schlug.
Ich erkundige mich nach den Fähigkeiten von Vater und Sohn und frage, was Neymar Jr. von seinem Vater geerbt hat. Pintado, der 1993 und 1994 an der Seite von „Pai“ spielte und für União die Nummer 3 trug, erinnert sich gut an Neymar Jr., als der noch ein kleiner Junge war. „Pai brachte ihn zum Training mit. Er war unser Maskottchen.“ Er weiß noch, dass Vater und Sohn das gleiche Ballgefühl und die gleichen Dribbelqualitäten hatten, aber Neymar Jr. war wendiger, leichtfüßiger, schneller, kreativer. Der frühere Torwart der Seleção, Valdir Peres, der bei der WM 1982 in Spanien dabei war und União 1993 und 1995 trainierte, ist der gleichen Meinung. „Neymar Jr.“, sagt er, „ist ein besserer Dribbler und hat mehr Zug zum Tor.“ „Er hat eine bessere Technik“, ergänzt Lino Martins, der seine Profikarriere bei União an der Seite von Neymar Pai ausklingen ließ und danach Neymar Jr. bei den Junioren trainierte.
Neymar da Silva Santos kam 1989 zu União Mogi. Er war 24. Er wurde am 7. Februar 1965 in Santos als mittlerer Sohn der Hausfrau Berenice und des Mechanikers Ilzemar geboren. Er hat einen Bruder, José Benicio, genannt „Nicinho“, und eine Schwester, Joana D’Arc, genannt „Jane“. Er spielte zunächst für die Junioren von Santos. Mit 16 ging er zu Portuguesa Santista, wo er Profi wurde. Danach tingelte er von Klub zu Klub, die meisten eher kleine Fische: Tanabi im Bundesstaat São Paulo, Iturama und Frutal im Bundesstaat Minas Gerais. Dort, im Südosten Brasiliens, erkrankte Neymar Pai an Tuberkulose, was ihn ein Jahr außer Gefecht setzte. Er beschloss, den Fußball dranzugeben und als Mechaniker in der Werkstatt seines Vaters zu arbeiten. Dann aber erhielt er ein Angebot von Jabaquara, einem traditionsreichen Verein aus der Metropolregion Baixada Santista.
Sein Vater war nicht begeistert, aber Neymar nahm trotzdem an. Unter der Woche arbeitete er als Mechaniker, und am Wochenende spielte er. Er machte vier gute Partien, eine davon war ein Freundschaftsspiel gegen União Mogi. Der Schiedsrichter des Spiels, Dulcídio Wanderley Boschilla, machte die Verantwortlichen von Mogi auf ihn aufmerksam, die sich sofort für ihn interessierten. Schon nach dem ersten Vorstellungsgespräch wurde er zum Training mit der ersten Mannschaft geschickt. Nach einem zweiten Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden, José Eduardo Cavalcanti Teixeira, genannt „Ado“, unterschrieb Neymar einen Einjahresvertrag bis 1989. „Damals waren die Gehälter nicht besonders üppig“, erinnert sich Pintado. „Der Sponsor war UMC, die Universität Mogi. Wir bekamen um die 350 Reais im Monat, aber das reichte zum Leben.“
Nach jahrelanger Wanderschaft von einem Verein zum nächsten landete Neymar schließlich bei Mogi. Er zeigte fantastische Leistungen und war ein voller Erfolg in der Liga A3. Er spielte so gut, dass er die Aufmerksamkeit anderer Klubs aus der Region erregte. Die Verantwortlichen von Rio Branco do Americana, einem Verein aus dem kleinen Städtchen Americana im Staat São Paulo, zeigten sich von Neymar sehr angetan, als er gegen ihr Team im alten Stadion an der Rua Casarejos antrat, und wollten ihn um jeden Preis verpflichten.
Trotz der Niederlage bei União gewann Rio Branco die Meisterschaft. Der Klub brauchte einen Stürmer, um den Kader zu verstärken. Sie boten Neymar ein hübsches Sümmchen, und Neymar war drauf und dran anzunehmen. Es war die Chance seines Lebens. Uniãos früherer Schatzmeister Moacir Teixeira erinnert sich: „Er brauchte Geld für seine Familie. Er wollte für seine Angehörigen, die in Baixada Santista lebten, ein Haus kaufen.“ Neymar teilte den Klubbossen seine Wünsche mit – die dachten aber gar nicht daran, ihn ziehen zu lassen.
„Pai war unser bester Stürmer. Er war ein toller Kerl, der sich die Früchte seiner Arbeit redlich verdient hatte“, sagt der ehemalige Schatzmeister. Also bildete Moacir zusammen mit neun União-Fans eine Gruppe, die aus eigener Tasche zusammenlegte, um mit Rio Brancos Angebot gleichzuziehen. Am 21. Dezember 1989 wurde schließlich eine Einigung erzielt. Die Gruppe kaufte Neymars Spielerpass und sorgte dafür, dass er weiter für Mogi auflaufen würde. Der Transaktionswert belief sich auf 100.000 Cruzados Novos, 10.000 pro Vertragspartner, „ohne Anteile und ohne Rendite“, stellt Moacir klar. In heutiger Währung wären das rund 55.000 Reais (um die 17.000 Euro).
Damals war das ein Haufen Geld! Neymar konnte endlich ein Haus in São Vicente für seine Mutter kaufen und sich selbst ein Auto leisten: einen Opel Monza. Er fühlte sich reich, aber wegen der ökonomischen und finanziellen Reformen im Zuge des sogenannten Plano Collor verlor er seine Ersparnisse. In der ersten Hälfte des Jahres 1990 spielte er für União. Da der Klub in der zweiten Jahreshälfte nicht am Spielbetrieb teilnahm, spielte er anschließend noch für Coritiba, Cataduvense und Lemense. Inzwischen wünschte er sich eine Familie. Also heiratete er 1991, im Alter von 26 Jahren, in der Kirche São Pedro O Pescador in São Vicente Nadine Gonçalves. Sie hatten sich kennengelernt, als sie 16 und er 18 und ein kommender Star bei Portuguesa Santista war.
Ihr erster Sohn kam am 5. Februar 1992 um 2:15 Uhr in Mogi das Cruzes zur Welt. Nadines Fruchtblase war am Tag zuvor geplatzt, und sie wurde ins Krankenhaus Santa Casa de Misericórdia gebracht, einem imposanten weißen und hellblauen Gebäude, das in den Straßen der Stadt weithin auffällt. Die Geburt verlief natürlich und ohne Komplikationen – Mutter und Sohn waren wohlauf. Das Baby wog 3,78 kg. Die jungen Eltern erfuhren erst bei der Geburt, dass es ein Junge war – einen Ultraschall hatten sie sich nicht leisten können.
Der erste Arzt, der nach Mutter und Sohn schaute, war der inzwischen verstorbene Luiz Carlos Bacci, anschließend kümmerte sich Benito Klei um die beiden. Er war es auch, der die beiden entließ. Als Fan des Klubs wusste er, dass das Baby der Sohn eines União-Spielers war. Doch erst, als er Jahre später die Geburtsurkunde las, wurde ihm klar, dass er geholfen hatte, den Star von Santos auf die Welt zu bringen. „Damals hatte Neymar Jr. noch keinen Iro, deswegen war es schwer, ihn zu erkennen“, scherzt der Leiter der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe von Santa Casa. Die Familie da Silva Santos wurde vom Physiotherapeuten von União, Atilio Suarti, nach Hause begleitet. Neymar O Pai hatte ihn angerufen und gebeten, sie abzuholen.
Aber wie sollte das kleine Baby heißen? Die Eltern waren unschlüssig, wie sie ihren Sohn nennen sollten. Zunächst wollte Nadine ihn Mateus nennen, der Vater war einverstanden. Eine Woche lang benutzten sie diesen Namen, aber sie waren nicht überzeugt. Als Neymar Pai den Namen seines Sohns eintragen ließ, entschied er sich deshalb kurzerhand um und gab ihm seinen eigenen Namen: Neymar, dem er noch ein „Júnior“ hinzufügte. Zu Hause wurde er „Juninho“ gerufen.
Nadine und Neymar Pai waren überglücklich über die Ankunft von Neymar Júnior. Valdir Peres erinnert sich: „Er traf ganz euphorisch im Mannschaftshotel ein und schwor, sein Sohn werde eines Tages der beste brasilianische Fußballer aller Zeiten.“ Eine Aussage, die eine ganze Batterie gutgemeinter Sticheleien und spöttischer Bemerkungen nach sich zog.
Die Familie da Silva Santos wohnte in der vierten Etage im Block C der Safiras-Wohnanlage in der Nummer 593 der Avenida Ezelino da Cunha Glória im Bairro Rodeio, einem bürgerlichen, von einem Konsortium erbauten Wohngebiet drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die pastellfarbenen Gebäude klammern sich an die Hänge am Fuße der Serra do Itapeti, von wo aus man eine Aussicht auf Mogi hat. Sie bewohnten ein mittelgroßes Appartement, das von União Mogi bezahlt wurde. Heute erinnern sich nicht mehr viele an den kleinen Jungen mit dem lockigen Haar, der hier gelebt hat, bis er vier Jahre alt war. „Sie waren eine ruhige, zurückhaltende Familie, die kein großes Aufsehen erregte“, erinnert sich Licianor Rodrigues, einer der Nachbarn der Familie da Silva Santos.
An einem Sonntag im Juni 1992, nach einem Spiel gegen Matonese, in dem er den Ausgleich für União erzielt hatte, und noch vor dem Training, beschloss Neymar Pai, nach São Vicente zu fahren, um seine Familie zu besuchen. Er lud den Wagen voll und machte sich auf den Weg. Nadine saß neben ihm und Juninho, der gerade vier Monate alt war, schlief auf den Rücksitz. Es war ein regnerischer Tag, und der Asphalt war nass. Die Rodovia Índio Tibiriçá war eine zweispurige Straße. Sie führte die lange Abfahrt die Serra hinab und war stets knifflig und gefährlich. Alle paar Hundert Meter warnte ein Schild vor Nebel oder verkündete Tempolimits. An manchen Stellen durfte man nur 40 Stundenkilometer fahren. Plötzlich setzte ein Auto auf der Gegenfahrbahn zum Überholen an und geriet in den Gegenverkehr. Neymar Pai wich aus und versuchte zu beschleunigen, aber er fuhr bereits im fünften Gang, und eine Kollision war nicht zu vermeiden. Der andere Wagen prallte mit der Schnauze in Neymars Auto und bohrte sich in die Fahrerseite.
Neymar Pais linkes Bein befand sich plötzlich auf der rechten Seite: Sein Becken und sein Schambein waren ausgerenkt. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Verzweifelt wandte er sich an seine Frau und sagte ihr, er müsse sterben. Die beiden schauten sich um und stellten fest, dass Juninho nicht mehr da war. Sie dachten, er wäre beim Aufprall aus dem Wagen geschleudert worden und sie hätten ihn für immer verloren. Neymar Pai flehte Gott an, sein Leben zu nehmen und Juninho zu verschonen. Das Auto schwankte derweil auf einem Felsvorsprung über dem Fluss. Nadine konnte auf ihrer Seite nicht heraus, sonst wäre sie in die reißenden Fluten unter ihr gestürzt. Ein oder zwei Autos hielten an, um Hilfe zu leisten, und Juninho wurde schließlich blutüberströmt unter dem Sitz gefunden. Die Eltern waren außer sich vor Angst um ihren Sohn. Ein Krankenwagen brachte sie ins nächstgelegene Krankenhaus.
Als Neymar Pai wieder mit Frau und Sohn vereint war, ging es Nadine gut, abgesehen von ein paar Kratzern. Juninho hatte einen dicken Verband um den Kopf – das Blut war aus einer kleinen Schnittwunde gekommen, die ihm von einer Scherbe beigebracht worden war. Neymar Pai hatte weniger Glück: Das ausgerenkte Becken war eine ernsthafte Verletzung. Er musste sich einer Notoperation unterziehen und verbrachte zehn Tage im Krankenhaus und dann vier Monate zu Hause im Bett, eingehängt in eine Maschine. Fast ein Jahr lang konnte er nicht spielen und musste zahllose Behandlungen, Rehamaßnahmen und Physiotherapie über sich ergehen lassen. Unterstützt wurde er dabei von Atilio Suarti und Uniãos Masseur Antonio Guazzelli. Es war ein schwerer Unfall, der Folgen für seine Karriere hatte. Neymar Pai fand danach nie mehr zu alter Form zurück. Trotzdem hörte er nicht auf zu spielen. Der Fußball war sein Leben, seine Existenz.
Am 31. Mai 1995 streifte er das berühmte rote Trikot von União Mogi für ein Freundschaftsspiel über. Das Match wurde anlässlich der Neueröffnung des Nogueirão ausgetragen. Der Gegner war Santos Futebol Clube, der in der Divisão Especial spielte, der heutigen Liga A1, während Mogi in der Intermediaria, der heutigen Liga A2, zu Hause war.* Bei Santos spielten bekannte Namen wie Toninho Cerezo und Jamelli. Mogi wurde von Valdir Peres trainiert und wartete mit Spielern wie Torwart Haroldo Lamounier und Ricardo auf.
In der Partie trafen Edson Cholbi Nascimento, genannt Edinho, der Sohn von Pelé, und Neymar da Silva Santos, der Vater des späteren Neymar Jr., aufeinander. Auf der einen Seite ein Junge, der den Rat seines Vaters beherzigt hatte, wie man sich im Leben zu betragen hat; auf der anderen Seite ein Vater, der seinem Sohn wertvolle Tipps geben sollte (und es bis heute tut), wie man ein großer Fußballer wird und die richtigen Karriereentscheidungen trifft. Für den 25-jährigen Edinho, der bei Santos im Tor stand, war es ein Spiel wie jedes andere. Neymar Pai aber war 30 und wird sich an dieses Spiel für immer erinnern, denn es war ein Match gegen das berühmte Santos, und er war für die Freistöße zuständig. Doch Edinho parierte seine verpfuschten Versuche mühelos. Ein Jammer. Mogi wollte unbedingt gewinnen, aber gegen derart ausgebuffte Profis hatten sie keine Chance. Das Spiele endete mit einem 1:1-Unentschieden. Die Tore erzielten Jamelli für Santos und Gilson da Silva für Mogi. Immerhin ein gutes Resultat. Die Neueröffnung verlief ganz nach Plan.
Ein Jahr später, am 11. März 1996, begrüßte die Familie da Silva Santos ein weiteres Mitglied: Tochter Rafaela kam auf die Welt. Nach vielen glücklichen Jahren als Spieler bei União beschloss Neymar dann, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Er kehrte ins Haus seiner Eltern im Viertel Nautica 3 in São Vicente zurück und sah sich nach einer neuen Anstellung um. Diesmal verschlug es ihn zu Operário aus Várzea Grande im Bundesstaat Mato Grosso.
Der Vorsitzende des Klubs, Maninho de Barros, suchte nach einer Verstärkung für seine Mannschaft und hatte Neymar Pai für Batel de Paraná spielen sehen. Er kannte den Namen des Spielers nicht, der eine so tolle Leistung gezeigt und sogar ein Tor erzielt hatte. Zur Halbzeit fragte er Laurinho, einen Stürmer von Batel, wer der Spieler sei, und nach dem Match traf er sich mit Neymar Pai und schlug ihm einen Wechsel zu Várzea Grande vor.
Neymar erbat sich Bedenkzeit – er wollte die Sache mit seiner Familie besprechen. Erst nach einem Gespräch mit einem der Geschäftsführer von Operário, der ihm versicherte, dass er seine Familie mitnehmen könnte, nahm Neymar Pai das Angebot an. Von da an trug er das dreifarbige Trikot von Várzea Grande.
Sein erstes Spiel war das Halbfinale der Staatsmeisterschaft von Mato Grosso, und er erfüllte die in ihn gesetzten Hoffnungen sofort: Beim 4:1 gegen Cacerense erzielte Neymar ein Tor selbst und bereitete ein weiteres vor. Im Finale traf Operário auf União Rondonópolis. Neymar verpasste das Hinspiel, das auswärts stattfand und unentschieden endete. Im Rückspiel am 3. August 1997 war Neymar Pai dabei, und das Match endete mit einem 2:1-Sieg.
Für Operário war es bereits die zwölfte Staatsmeisterschaft, für Neymar da Silva Santos hingegen der einzige Meistertitel seiner Karriere, die er 1997 im reifen Alter von 32 Jahren beendete. Er fühlte sich alt: Seit dem Unfall machte sein Körper nicht mehr richtig mit, und beim Training und während der Spiele litt er unter Schmerzen. Auch die vielen Wechsel belasteten ihn und seine Familie. Die Verträge waren inzwischen weniger lukrativ, und er hatte keine Hoffnung, in seinem Beruf noch mehr zu erreichen. Er kehrte heim, um ein neues Leben zu beginnen, das viele Überraschungen bereithalten sollte.
Die Staatsmeisterschaft von São Paulo, der Campeonato Paulista, wird heute in vier Ligen ausgetragen: der Primera Divisão A1, A2, A3 und der Segunda Divisão. Je 20 Klubs spielen in den Ligen A1, A2 und A3. Etwa 48 Klubs (die Zahl schwankt leicht von Jahr zu Jahr) beteiligen sich in der Segunda Divisão.