Читать книгу Mbappé - Luca Caioli - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
Allée des Lilas
Der Besuch war ihm vorab angekündigt worden, und er hat sich sorgsam vorbereitet. Mit blauem Stift hat er ein paar Gedanken niedergeschrieben. Er kann es kaum abwarten, sie vorzutragen, doch seine Großmutter sagt, er solle sich gedulden, er werde später noch dazu kommen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt: Seine Großeltern und ihre Gäste plaudern und trinken Kaffee. Er blickt auf das Notizbuch, das er auf den Tisch des kleinen, von einem großen Fernseher dominierten Wohnzimmers gelegt hat. Er hört zu, beteiligt sich hin und wieder am Gespräch. Endlich bekommt er die Erlaubnis, verbunden mit der Empfehlung, laut und deutlich zu sprechen.
„Hallo zusammen. Kylian ist der Beste. Er ist der Held von Bondy. Alle lieben ihn. Er ist ein Vorbild für alle Kinder, die Fußball spielen. Er ist sehr gut. Wilfrid und Fayza haben ihre Kinder gut erzogen. Ethan wird in die Fußstapfen seines Bruders Kylian treten.“
Idrisse ist neun Jahre alt; er geht zur Schule, spielt Fußball in der U10 und fasst in wenigen Worten zusammen, was jeder in Bondy denkt, von Madame la Maire, der Bürgermeisterin, bis zu den Kindern, die nur wenige hundert Meter entfernt auf den Plätzen des Stade Léo-Lagrange trainieren.
Idrisse ist der Enkel von Elmire und Pierrot Ricles, einem Ehepaar, das in den späten 1970er Jahren von Martinique nach Frankreich kam. Sie leben in der ersten Etage eines weißen Wohnhauses in der Allée des Lilas Nr. 4. Ein fünfstöckiger Sozialbau aus den 1950er Jahren in einer ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße im Zentrum von Bondy, einer Gegend, die manche wegen der Straßennamen hochtrabend Cité de Fleurs, Stadt der Blumen, nennen. Hierher ist die Familie Mbappé im Herbst 1998 gezogen. Steigt man die erste Treppe hinauf, sieht man einen Briefkasten, auf dem noch immer steht: „Lamari-Mbappé Lottin, 2te links“.
„Sie zogen in die Etage direkt über uns“, sagt Elmire, „in eine Wohnung genau wie die unsere: 56 Quadratmeter, Wohnzimmer, Kochnische mit Blick auf das Stade Léo-Lagrange und zwei Schlafzimmer. Ich erinnere mich, dass Fayza im achten Monat schwanger war mit Kylian, als sie ankamen.“
Fayza – damals 24 Jahre alt und aus Algerien stammend – wuchs in Bondy Nord auf, im Viertel Terre Saint-Blaise. Sie besuchte das Collège Jean Zay und ging in die Sporthalle direkt gegenüber vom Haus. Im Alter von 12 und 13 Jahren spielte sie Basketball, bevor sie sich ganz auf Handball konzentrierte. Sie spielte auf dem rechten Flügel für die AS Bondy in der Division 1.
„Sie fing ganz unten an und wurde zu einer der besten Handballspielerinnen in Bondy in den späten 1990er Jahren. Fayza hatte Charisma. Sie war eine der Leaderinnen des Teams, extrem talentiert und extrem tough“, erinnert sich ein Freund der Familie.
„Sie war eine Kämpferin auf dem Platz, aber sie war auch hitzköpfig. Es brauchte nicht viel, um sie auf die Palme zu bringen, und sie war nicht zimperlich mit den Gegenspielerinnen. Wenn man Fayza verärgerte, ließ sie es einen spüren“, erinnert sich JeanLouis Kimmoun, ein früheres Vorstandsmitglied und später Präsident des Klubs in einem Interview mit Le Parisien. „Aber abseits des Platzes war sie eine ganz liebe Person und ist es immer noch.“
„Sie redet allerdings gern viel“, erzählt ein Freund des Paares. „Früher hatte sie ständig irgendwelchen Unfug im Kopf. Ich arbeitete drei oder vier Jahre lang mit ihr zusammen als Trainer in den Vierteln Maurice Petitjean und Blanqui, mittwochs und in den Schulferien in den Gemeindezentren. Dort traf sie Wilfrid, der ebenfalls Trainer war, mit seinem kleinen Bruder Pierre und Alain Mboma, dem großen Bruder von Patrick Mboma, Afrikas Fußballer des Jahres 2000. Beide liebten Sport, hatten den Schalk im Nacken und starke Persönlichkeiten. Es war nur logisch, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten."
Als er mit Fayza in die Allée des Lilas zog, war Wilfrid 30 Jahre alt. Geboren in Douala in Kamerun, war er auf der Suche nach einem besseren Leben nach Frankreich gekommen. Nachdem er in Bobigny gewohnt hatte, zog er nach Bondy Nord, wo er einige Jahre Fußball spielte.
„Er war ein guter Spieler, ein Zehner, ein Mittelfeldspieler, der gerne den Ball hatte“, erinnert sich Jean-François Suner, technischer Direktor der AS Bondy, der von allen nur Fanfan genannt wird. „Er hätte Karriere machen können. Er durchlief die Jugendmannschaften des Klubs und spielte dann zwei Jahre für den benachbarten Verein aus Bobigny in der Division d’Honneur [höchste Amateurklasse im französischen Fußball]. Als er dort aufhörte, kam er wieder zu uns. Wir boten ihm eine Stelle an, und er kümmerte sich zunächst als Trainer und später als sportlicher Leiter um unsere Jugend. Wir arbeiteten fast 30 Jahre lang zusammen, ab der Saison 1988/89, und bauten den Klub um, bis er im Juni 2017 dann aufhörte.“
20. Dezember 1998
Fünf Monate und ein paar Tage waren seit jenem berühmten 3:0 vergangen, seit Zinédine Zidanes zwei Kopfballtoren und Emmanuel Petits coup de grace im WM-Finale gegen die Brasilianer mit ihrem angeschlagenen „Fenómeno“ Ronaldo. Die Erinnerungen an diesen Sonntag, den 12. Juli, und den kollektiven Rausch waren noch frisch. Wie könnte man auch anderthalb Millionen Menschen vergessen, die freudentrunken auf den Champs-Elysées feierten und Siegeslieder sangen?
Die Menge bejubelte „Black-blanc-beur“ (schwarz, weiß, nord-afrikanisch) und skandierte „Zidane président!“ Wie könnte man einen der größten Triumphe in der Geschichte des französischen Sports vergessen? Es war nur folgerichtig, dass Fayza und Wilfrid in diesem vom Fußball gesegneten Jahr das schönste aller Weihnachtsgeschenke bekamen: ihr erstes Kind. Der Junge kam am 20. Dezember zur Welt und wurde getauft auf den Namen Kylian Sanmi (kurz für Adesanmi, was auf Yoruba „die Krone passt mir“ bedeutet) Mbappé Lottin. Der Nachname Mbappé würde noch Anlass für viele Spekulationen sein: War Kylian der Enkel von Samuel Mbappé Léppé, genannt „Le Maréchal“, dem kamerunischen Mittelfeldspieler der 1950er und 1960er Jahre? Oder war er ein Verwandter von Étienne M’Bappé, dem Bassisten aus Douala? Nein, da gab es keine Verbindung, wie Pierre Mbappé erklärt: In Kamerun ist der Nachname Mbappé in etwa so verbreitet wie Dupont in Frankreich oder Schulz in Deutschland.
Pierre ist Kylians Onkel, auch er Fußballer. Er fing bei Stade de l’Est an und spielte später für Klubs wie Laval, Villemomble und Ivry. Als er zum Krankenhaus eilte, um seinen Neffen kennenzulernen, hatte er im Gepäck einen Minifußball als Geschenk für das Neugeborene. Im Scherz sagte er zu Fayza und seinem Bruder Wilfrid: „Ihr werdet sehen, aus ihm wird eines Tages ein großer Fußballer!“
Einige Tage nach dem freudigen Ereignis kehrten Mutter und Sohn heim. Fayza nahm wieder ihre Arbeit in der Stadtverwaltung von Bobigny auf, während Wilfrid nur über die Straße gehen musste zum Stade Léo-Lagrange, wo er seine Kids trainierte. Besonders einer hatte seine Aufmerksamkeit erregt: Er war elf Jahre alt und fünf Jahre zuvor aus Kinshasa im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, nach Bondy gekommen. Die Lage in seiner Heimat war prekär, daher hatten seine Eltern beschlossen, ihn nach Frankreich zu schicken, damit er zur Schule gehen und sich eine Zukunft aufbauen konnte. Der Junge hieß Jirès Kembo Ekoko; er war der Sohn von Jean Kembo, genannt „Monsieur But“, Mittelfeldspieler der zairischen Nationalmannschaft, die zweimal den Africa Cup of Nations gewann (1968 und 1974) und sich 1973, auch dank der beiden Tore von Kembo im entscheidenden Spiel gegen Marokko, als erstes Team aus Subsahara-Afrika für die Endrunde einer Weltmeisterschaft qualifizierte. Jean nannte seinen Sohn Jirès zu Ehren des französischen Mittelfeldspielers Alain Giresse, den er sehr bewunderte, und schickte ihn nach Frankreich zu einem Onkel und seiner älteren Schwester. 1999 erhielt Jirès Kembo Ekoko seine Spielberechtigung bei der AS Bondy. Wilfrid war sein erster Trainer und wurde bald auch sein Vormund und eine Art Vater.
„Es ist schwer zu erklären, aber es war, als wäre dieser Mensch seit jeher meine Bestimmung gewesen“, sagte Jirès Jahre später. Die Familie Lamari-Mbappé Lottin nahm ihn bei sich zuhause auf; zwar adoptierten sie ihn nicht, doch er nannte sie stets Mama und Papa, denn sie waren es, die ihm Zuneigung gaben und ihm halfen, schwierige soziale Verhältnisse zu überwinden und sich den Traum von der Karriere als Fußballprofi zu erfüllen. Jirès zog in die Allée des Lilas und wurde zu Kylians großem Bruder, Vorbild, Idol und erstem Fußballhelden. Die Nachbarn erinnern sich daran, wie er an den Wochenenden vom Leistungszentrum Clairefontaine heimkam oder Fayza und Wilfrid ihn zu wichtigen Spielen brachten.
„Die Familie stand sich sehr nahe, sie waren nette, bodenständige Leute“, sagt Pierrot.
„Wegen seiner Arbeit sahen wir Wilfrid nur selten, aber Fayza lief uns im Treppenhaus oder in den Geschäften hier im Viertel häufig über den Weg. Wir sahen Kylian aufwachsen. Sowie er laufen konnte, fing er an, in dem Zimmer über dem meiner beiden Mädchen mit dem Ball zu bolzen. Ich glaube, sonntagmorgens machte er sein Zimmer zum Fußballplatz“, erinnert sich Elmire mit einem Lachen. „Wann immer wir uns begegneten, entschuldigte sich Fayza unablässig. Ich versicherte ihr, dass schon alles in Ordnung sei und dass man ein Kind ja nicht anbinden könne! Schon damals hatte er nichts als Fußball im Kopf.“
Mit einem weiteren Lachen erzählt die Großmutter von der Zeit, als der kleine Junge von oben eine Djembé-Trommel bekam, es war entweder zum Geburtstag oder zu Weihnachten. „Er hörte gar nicht mehr auf, es dauerte eine Weile, bis er von seinem neuen Spielzeug abließ. Aber abgesehen vom Fußball und der Trommelei war Kylian ein reizender, sehr höflicher Junge, der stets ,bonjour oder ,bonsoir‘ sagte, wenn er mir begegnete. Seine Entwicklung als Fußballer haben wir nicht verfolgen können, weil die Familie ein paar Jahre nach der Geburt von Ethan, dem Nesthäkchen, das, wenn ich mich nicht irre, 2006 auf die Welt kam, in ein Wohnviertel im Süden der Stadt zog, auf der anderen Seite der Gleise, Richtung Les Coquetiers. Wir sahen ihn letztes Jahr im Mai, als er hierher ins Stadion kam, um die französische Meisterschaft zu feiern. Alle Kinder der AS Bondy waren da, mit einem Transparent, auf dem stand: ,Danke, Kylian, alle in Bondy stehen hinter dir!‘ Das war wirklich sehr schön. Kylian verteilte Trikots an die Kinder, und Idrisse schaffte es sogar, ein Foto mit ihm zu ergattern.“
„Zum Glück sah Fayza uns und rief: ,Wartet mal, das sind meine Nachbarn!‘, also stieg ich in den Wagen und machte das Foto, das meine Mutter jetzt hütet“, erläutert der Enkel.
„Wir verfassten zu diesem Anlass einen Brief, zusammen mit den drei anderen Familien, die hier wohnen, mit Daniel und Claudine Desramé, unseren Nachbarn aus der ersten Etage.“
Elmire steht vom Tisch auf, geht zu einer Ecke des Raumes hinüber, öffnet eine Schublade und blättert einen Stapel Papier durch. Schließlich ruft sie aus: „Hier ist er!“
Lieber Kylian,
Wir hoffen, dass du nicht erschrickst, wenn wir dich einfach so ansprechen. Wir erinnern uns an dich immer noch als den wohlerzogenen, zehnjährigen Jungen, den wir im Treppenhaus in der Allée des Lilas Nr. 4 trafen. Heute bist du ein großer Fußballstar und glänzt auf dem Platz. Wir verfolgen den überwältigenden Erfolg deiner sportlichen Karriere mit großer Freude. Wir reden oft über dich und deine Eltern, die wir sehr mochten. Sie haben dich sehr gut erzogen. Jedes Mal, wenn du deine Schuhe schnürst, vergiss nicht, dass deine Nachbarn deine größten Fans sind!
Mit den besten Wünschen für die Zukunft.