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#2DER KINDERGEBURTSTAG

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13.05.1998

Lucas staunt. Über die bunten Girlanden, die vielen Geschenke auf dem Gabentisch, über die organisierten Spiele, Reise nach Jericho, Sackhüpfen. Die anderen Kinder scheinen genau zu wissen, wie das alles geht, was wann gemacht wird und welche ungeschriebenen Regeln an einem Kindergeburtstag gelten. Für den achtjährigen Lucas eröffnet sich eine neue Welt. Zum ersten Mal nimmt er an einer solchen Feier teil. Lucas kann den Spagat und den Salto, nicht aber Sackhüpfen und Kindergeburtstag.

Er ist glücklich, er strahlt, verheddert sich beim Sackhüpfen. Endlich einmal ist er mit dabei, an einem Fest, mit seinen Kollegen, ein einziges Mal. Jahre später wird sich kaum noch eines der geladenen Kinder an diesen Tag erinnern. Lucas schon. Es wird sein einziger Kindergeburtstag bleiben. Ein Riesenerlebnis.

Ich war als Kind nur ein einziges Mal an einem Geburtstagsfest. Und auch da nur dank Kompromissen, ich musste zwar trainieren, durfte aber ausnahmsweise einmal früher aufhören damit. Trotzdem kam ich so zu spät an die Feier, sie war schon in vollem Gang, aber immerhin, ich konnte daran teilnehmen.

Es war spannend, dieses Festchen, aber es war auch etwas ganz Neues, dessen soziale Regeln mir fremd waren. Auch die Spiele kannte ich überhaupt nicht. Ich fragte mich zudem: «Warum hat man das, warum macht man das?» Am Schluss kriegte man ein kleines Säckchen mit Sachen, die man mit nach Hause nehmen durfte, Süssigkeiten, Schreibzeug und halt solche Dinge. Ich fand das megacool.

Nein, du hast dann Training.

Das geht nicht, das weisst du doch.

Du hast heute Training, du kannst nicht fehlen.

Nein, heisst es vom Vater, von der Mutter, vom Trainer, wenn Lucas fragt, ob er nicht doch einmal an einem Mittwochnachmittag oder einem Samstag etwas mit anderen Kindern unternehmen darf. Irgendwann kommen keine Einladungen mehr. Lucii muss trainieren, er kann nicht kommen. Das wissen bald alle Kinder.

Ich merkte, am Mittwochnachmittag hatten die anderen frei und es gab Geburtstagsfeste, wo ich auch eingeladen gewesen wäre, aber absagen musste. Das Training kann man als Kunstturner nicht ausfallen lassen. Das gibt es nicht. Und dann am Donnerstagmorgen sprachen alle über das Geburtstagsfest und ich fühlte mich ausgeschlossen, konnte nicht mitreden.

Fotos aus Lucas’ Kindheit zeigen, welchen Weg seine Eltern für ihn und den zwei Jahre älteren Bruder angedacht haben. Auf den Bildern ein kleiner Bub in glänzendem Turndress, man meint fast, in diesem Alter trage man doch noch Windeln. Und doch, der Kleine auf dem Foto macht den Spagat, grinst dabei fröhlich. Auf einem weiteren Foto, wiederum im Dress: Lucas, kaum älter, nutzt nun einen Stuhl als Turngerät. In seiner Vorstellung ein Barren wohl, wie er ihn kennt, wenn er die Mutter oder den Vater in die Turnhalle begleitet. Das Gerät, das ihm später das liebste sein wird. Andere Mütter würden ob der waghalsigen Turnereien die Hände verwerfen. Nicht Brigitte Fischer. Sie fotografiert den sichtlich stolzen Dreikäsehoch.

Solche Szenen sind bei Fischers Alltag. Fischers sind Turner. Nicht nur die beiden Söhne, Raphael, geboren 1988, und Lucas, Jahrgang 1990. Die Mutter beginnt selber mit fünf als Kunstturnerin. Sie turnt im Aargauer Kantonalkader. Dasselbe Programm bei Peter Fischer. Schon sein Vater, Lucas’ Grossvater, war Turner. Damals bestand die Elite noch aus Amateuren. Und doch, es gab damals viel mehr Kunstturner als heute. Und auch Peter turnt bei den besten Aargauern mit. Kennengelernt haben sich Lucas’ Eltern, wie könnte es anders sein, am Magnesiabecken im Turnzentrum in Lenzburg. Da, wo die Turner ihre Hände einreiben, damit sie an den Geräten guten Halt finden. Und, passend zur Sportlerbiografie, verlieben sich die beiden am Eidgenössischen Turnfest. Es wird früh geheiratet und natürlich weiter geturnt. Auch noch in der Schwangerschaft. Danach liegen Baby Raphael und später Baby Lucas auf einer Matte in der Turnhalle, während Mutter Brigitte andere Kinder im Turnverein Satus in Oberentfelden unterrichtet. Handstand, Hechtrolle, Hocksprung. Lucas schaut zu. Irgendwann kann Lucas laufen und zieht sich während einer dieser Unterrichtsstunden am Reck hoch. Und dann immer wieder. Wann er zum ersten Mal den Spagat macht, zum ersten Mal den Handstand, das weiss er nicht mehr. Früh auf jeden Fall. Als hätte es keine Zeit gegeben, als er solches nicht konnte.

Am Anfang weiss man nicht, warum man turnt. Man tut es einfach, weil man es immer tat. Das war unsere Welt, die meiner Eltern, die meines Bruders und meine. Am Anfang ist es einfach nur Spass, ein riesengrosser Spielplatz – und dann plötzlich wird es ernst.

In den offiziellen Kunstturnunterricht tritt Lucas mit viereinhalb Jahren ein. Er trainiert jetzt bereits zweimal die Woche. Ein spielerisches Programm. Lucas und die anderen Kinder dürfen ihren Mut an den Geräten unter Beweis stellen, sie verbessern ihre Beweglichkeit und Kraft. Für sie ist Turnen kein Training, die Halle ist ein Abenteuerspielplatz, wie ihn nur wenige Kinder kennen. Mit fünf schon geht er ins erste Trainingslager nach Rothrist. Anfänglich ist der Vater in solchen Lagern mit dabei, als Trainer. Turner nabeln sich früh ab von zu Hause, einen Grossteil ihrer Kindheit verbringen sie in Turnhallen, mit Trainern und Trainingskollegen. Sein Trainer Nikolay Maslennikov wird später sagen: Lucas ist wie ein Sohn für mich, so viel Zeit haben wir miteinander verbracht. Schon sehr bald turnt Lucas bei den Grösseren mit, in der Gruppe seines Bruders. Der Trainer nimmt ihn dazu, erkennt den rohen Diamanten. Sieht den Hunger in Lucas’ Augen. Hunger auf Erfolg. Auf den Fotos aus dieser Zeit ist Lucas der Jüngste, der Kleinste, aber auch der, der sich am besten dehnen und beugen kann, dessen Beine am schönsten durchgestreckt sind. Bald zeigen die Fotos den Kleinsten zuoberst auf dem Podest. Manchmal freut er sich mehr über das Geschenk, das es zur Medaille dazugibt, als über die Medaille selbst. Eine Taschenlampe zum Beispiel, ein kleines Spielzeug. Später sind es die Medaillen, die er will und für die er zwanzig Jahre seines Lebens investiert.

Lucas, zeig du die Übung vor.

Schaut euch Lucas an, wie er es macht, das ist Ausführung.

Nehmt euch ein Beispiel an Lucas.

Lucas merkt schnell, dass er gut ist. Sehr gut sogar. Dass er Potenzial hat. Dass er für das neue regionale Leistungszentrum in Niederlenz, das sein Vater mitaufgebaut hat, eine wichtige Nachwuchshoffnung ist. Und er übt noch mehr, noch fleissiger, er will die Erwartungen erfüllen. Wenn die anderen sich zum Ausruhen auf die Matte setzen, macht er noch einen Durchgang, will die Übung noch besser machen. Noch gerader die Füsse. Besser der Stand beim Sprung. Lucas ist im Primarschulalter längst ein Kindersportler, er trainiert jeden Nachmittag nach der Schule, ausser am Donnerstag. Dafür auch Samstag, vier bis fünf Stunden. Unbeschwerte Kindheit klingt anders.

Ich erinnere mich deutlich an eine Situation: Wir waren beim Trampolin, mein Bruder war im Nachwuchskader, ich noch nicht. Ich machte irgendetwas am Trampolin und der Cheftrainer kam und sagte: «Raffi, schau doch mal, wie Lucas es macht. So macht man das. Das ist Ausführung.» Dort begann es irgendwie, mit dem Druck. Ich wurde immer hochgehalten. Und so dachte ich als kleiner Bub, ich müsse nun der Beste sein, weil man mich immer wieder als Beispiel vorführte. Das ist ein grosser Druck für ein Kind, dessen war sich aber niemand bewusst. Ich dachte, ich muss liefern. Ich war dann auch im Kopf ganz verkrampft, hatte dauernd viele Gedanken: «Dem muss ich es recht machen, dem und auch dem.»

Lucas wünscht sich, der Trainer würde nicht immer ihn aufrufen, nicht auf ihn zeigen. Ein Scheinwerferlicht, so kommt es ihm vor, das Tonnen wiegt.

Irgendwann fragt Lucas nicht mehr, ob er an Geburtstage darf. Der Druck, das Talent zu sein, das man in ihm sieht, und sein Ehrgeiz sind stärker als Sackhüpfen. Er weiss, wenn er als Kunstturner ganz an die Spitze will, muss er täglich trainieren. Hart trainieren. Während andere genau das machen, was der Trainer sagt, will Lucas mehr, will früher und schneller weiterkommen. Lucas ist mutiger als die meisten, probiert immer wieder etwas aus. Eine Drehung mehr im Sprung, noch eine Schraube anhängen – furchtlos.

Darf ich das machen?!

Kann ich ein neues Element einbauen?

Ich möchte aber lieber schon diese Übung machen. Es wird klappen, bestimmt!

Ich habe dieses Element gesehen, ich möchte das auch probieren. Darf ich?

Der Trainer hat Mühe, ihn zu bremsen. Lucas, du musst dich erst in diesem Element stabilisieren, bevor du weitergehst! Nikolay Maslennikov ist aus Russland in die Schweiz gekommen und unterstützt hier das neu gegründete regionale Leistungszentrum in Niederlenz als Cheftrainer. Lucas’ Eifer macht ihm Freude, auch wenn er ihn immer mal wieder bremsen muss. Es gefällt ihm, dass der Kleinste in seiner Gruppe mit dem grössten Hunger auf Erfolg zu trainieren scheint. In Moskau, wo Maslennikov zuvor als Trainer gearbeitet hatte, gab es viele solche Talente. In der Schweiz damals nur eines. Lucas. Und das war sein Schüler. Er war streng mit ihm. Strenger als zu allen anderen. Denn von Lucas erwartete er mehr. Und Lucas will es richtig machen, will die Erwartungen erfüllen. Manchmal rennt er nach dem Turntraining nach Hause, dreieinhalb Kilometer von Niederlenz nach Möriken-Wildegg. Um die Fesseln hat er Gewichte gebunden. Extra Training.

Der Wille war so unglaublich gross, dass ich mich allem ergab, auch solchen Zwängen. Ich dachte, wenn ich es nicht mache, wenn ich ohne Gewichte nach Hause renne, dann habe ich keine Chance. Dann komme ich nicht an die Spitze. Wenn ich nicht alles, nicht auch noch das Letzte aus mir raushole, dann schaffe ich es nicht.

Zu Hause. Lucas legt die Gewichte ab, duscht, es gibt Znacht. Den Turner legt er nicht ab. Kann er nicht. Längst sind der Vater und der ältere Bruder in eine Diskussion verwickelt. Über Elemente, Ausführung, Trainingspläne, nächste Wettkämpfe. Lucas möchte über etwas anderes reden, aber das geht unter. Der Vater, der neben seiner Arbeit in der Forschung mit Herzblut Trainer ist, gibt Ratschläge. Für ihn ist Turnen am Feierabend nicht vorbei. Bruder Raphael scheint es nicht zu stören, dass man sich weiterhin in der Turnwelt bewegt. Obwohl jetzt das Essen auf dem Tisch steht und Lucas noch andere Themen hätte. Er möchte abschalten, über Freunde, Kollegen reden, darüber, was am TV läuft oder was auf dem Pausenplatz gerade in ist. Doch die Leidenschaft des Vaters dominiert den Znacht. Er will, dass die Turner aus Niederlenz die beste Förderung erhalten und Erfolge erzielen. Nicht nur seine Buben, ihm liegt das Leistungszentrum am Herzen. Es ist noch im Aufbau, beansprucht viel seiner freien Zeit. Lucas versucht nochmals das Thema zu wechseln. Erfolglos.

Und die Mutter denkt sich bei den Nachtessen immer wieder: Andere Eltern fragen kurz nach, wie es war, wie das Training verlief, wenn sie ihre Kinder bei der Turnhalle abholen. Danach haben sie andere Themen. Das Training ist nach dem Training vorbei. Bei uns nicht. Und sie fragt sich in solchen Momenten, ob die anderen Mütter wohl doch recht haben. Die, die sie manchmal tuscheln hört:

Die armen Fischerbuben. Das ist doch keine Kindheit!

Tigerherz

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