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#3DIE UNTERSCHRIFT

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21.03.2004

Vorne an der Tafel erklärt der Lehrer Bruchrechnen. Schule halt. Lucas wippt mit dem Stuhl, während der Lehrer ihm den Rücken zudreht. Er wippt immer stärker, weit nach links und nach rechts, macht den Clown – und fällt. Die Mitschüler lachen; Lucas, der Turner, plumpst vom Stuhl! Er ist zerknirscht. Das wird einmal mehr einen Eintrag für schlechtes Benehmen auf dem Wochenblatt geben. Und einmal mehr wird Lucas darum die Unterschrift der Mutter fälschen müssen. Seine Eltern sollen nicht wissen, dass der Junge, der im Kunstturntraining so fleissig und konzentriert arbeitet, dem Lehrer in der Schule gerade wenig Freude macht. Lucas ist dreizehn und hat sein Kontingent an Leistungsbereitschaft längst ausgeschöpft. Neben dem intensiven täglichen Training ist er ganz einfach ein Kind, das sich mal gehen lassen muss, ein Kind, das hin und wieder verspielt sein will. Es nimmt sich die Zeit dazu im Schulunterricht – wann sonst? Und fälscht dafür Unterschriften. Einmal, zweimal, dreimal – bis es auskommt. Lucas weint. Lucas will nicht schwierig, sondern Kind sein.

In der fünften Klasse wurde ich dann in das Pilotprojekt «Schule und Spitzensport» aufgenommen. Das heisst, am Morgen gingen wir in die normale Schule im Dorf und am Nachmittag in eine spezielle Schule für Spitzensportler in Niederlenz. Hier paukten wir Kunstturner die Hauptfächer bis 15 Uhr. Bereits um halb vier waren wir in der Halle und trainierten weitere vier Stunden, bis halb acht. Am Mittwoch ging ich nur zwei Stunden zur Schule, da hatten wir schon am Morgen Training und am Nachmittag gleich nochmals. Kunstturner trainieren im Kindesalter fast schon so viel wie Erwachsene. Für mich wurde die Schule darum zum Ort, wo ich meine Verspieltheit auslebte. Ein Ort, den ich damals leider nicht sehr ernst nahm. Ich war unaufmerksam, das war dumm von mir, da ich sowieso schon wenig Zeit in der Schule verbrachte und ich mich wirklich auf den Unterricht hätte konzentrieren sollen. Aber ich war ständig im Zwiespalt zwischen Lernen müssen und Kind sein können. Ich setzte alles, was ich an Konzentration und Aufmerksamkeit aufbringen konnte, im Turntraining ein. Viel mehr als die anderen Turner, die in Niederlenz trainierten. Ich brauchte die Schule darum als Ausgleich. In der Schule war ich emotional und unkontrolliert, ich lachte manchmal einfach mitten im Unterricht laut heraus, blödelte – oder eben, fiel sogar vom Stuhl!

Sein Bruder Raphael, Raffi, ist anders. Er weint nicht, er turnt, macht, wie der Vater ihm sagt, aber er ruht sich auch gern einmal auf der Matte aus und geisselt sich nicht ständig zu immer grösseren Leistungen. Turnen und im Turnen weiter zu kommen scheinen den grossen Bruder nicht zu erdrücken. Raffi turnt gut, ist erfolgreich, vielleicht kein so grosses Talent wie der kleine Bruder. Er fällt aber auch nicht vom Stuhl, wegen ihm gibt es keine Elterngespräche in der Schule. Raffi war immer der Pflegeleichte, wird sein Vater Jahre später sagen. Raffi hat keine Krisen. Wie der Vater lebt er fürs Turnen, in Kinder- und Jugendjahren erturnt er Medaillen und als Erwachsener trainiert er die jungen Talente. Bereits als Kind erkennt Raphael Fischer den ungesunden Ehrgeiz seines kleinen Bruders. Er wünscht sich, der kleine Lucas würde auf ihn hören. Er wünscht, er könnte ihm helfen.

Auf mich, seinen Bruder, hat Lucii nicht gehört. Er hatte einfach einen zu grossen Ehrgeiz. Ich wünschte, man hätte ihn damals und auch später öfters mal gebremst. Man hätte ihm sagen müssen: «Zwei Elemente genügen, du musst jetzt nicht fünf machen.» Ich sah das Ganze lockerer, haderte dafür aber auch nie mit dem Turnen. Lucii hatte richtige Krisen, er war emotionaler als ich. Aber ich glaube, die wahren Talente sind einfach emotionaler als wir anderen.

Lucii ist ein Wirbelwind, Stillsitzen ist für ihn eine Pein. Und er ist laut, schrill, lacht viel, weint aber auch schnell. Der dreizehnjährige Lucas ist bunt und unangepasst. Zickig, sagt der grosse Bruder, oder auch: eine Diva. Nicht so geerdet und ruhig wie Raffi.

Mein grosser Bruder Raffi war ganz anders, ja. Aber meine Turnerförderung war auch strenger und so musste ich mich mehr in der Schule austoben. Das war nicht einfach für meine Eltern. Ich war eben beim Turnen total konzentriert und ehrgeizig, andere haben auch mal geredet oder sich etwas zurückgelehnt. Ich nicht, sicher nicht im Training!

Ich machte dann in der Schule Sachen, die ich nicht hätte tun sollen. Zum Beispiel hatte ich Angst davor, den Eltern schlechte Noten zu zeigen, oder wir hatten ein Wochenblatt, worauf stand, wie wir uns verhalten hatten. Wenn da stand, dass ich mich schlecht benahm, dann fälschte ich die Unterschrift der Eltern, damit ich es ihnen nicht zeigen musste. Irgendwann kam dieses Gebaren ans Licht. Ich weiss nicht mehr, warum, aber es gab deswegen ein Elterngespräch. Ich musste es dem Lehrer beichten und mich entschuldigen. Das war eine sehr unangenehme Erfahrung. Bei diesem Gespräch wurde ich sehr emotional, weil mir zu dieser Zeit irgendwie alles zu viel war. Ich weinte. Von mir wurde damals so viel verlangt, oder besser – ICH verlangte es von mir! Wie bitte sollte ich in der Schule nochmals voll mitmachen und Einsatz zeigen? Das konnte ich nicht. In dieser Zeit war mir wirklich alles zu viel.

Lucas liegt im Bett. Die Gedanken halten ihn wach. Schlafen war noch nie einfach für ihn. Die Gedanken kreisen während Stunden, bis ihn endlich der Schlaf übermannt.

Ich will nicht mehr.

Ich will kein Turner mehr sein.

Ich möchte sein wie die anderen.

Bitte, ich möchte aufhören mit dem Turnen.

Ich möchte einfach so sein wie die anderen. Lucas hadert. Er will gut sein, eines Tages an der Weltspitze turnen. Er träumt von den Olympischen Spielen. Aber er möchte auch Kind sein. Doch wieder einmal ist das Auto voll beladen mit Übungsgeräten. Die Fischers sind unterwegs nach Italien. Neben den Badekleidern ist auch der Turndress eingepackt, ein Übungsbarren und Holzelemente für das Handstandtraining sorgen dafür, dass der Kofferraum sich kaum noch schliessen lässt. Sommerferien! Bei Fischers heisst das Sonne, Strand, Meer – und Turnen. Jeden Morgen. Keine Ausnahme. Aber Lucas rebelliert auf seine Weise, erschwindelt sich ein Stück kindliche Freiheit. An manchen Tagen zieht Lucas den Turndress zwar an, fläzt sich aber wieder ins Bett. Er sagt den Eltern später, er habe bereits trainiert, während sie das Frühstück einkaufen gegangen sind. Man glaubt dem ehrgeizigen Jungen, der stattdessen einfach mal seinen Gedanken nachgehangen hat.

Wir verbrachten die Ferien immer mit einer weiteren Familie. Sie hatten überhaupt nichts mit Turnen zu tun. In diesen Ferien wäre ich gerne mehr wie diese andere Familie gewesen. Einfach ganz normal. Nicht wie eine Familie, die alles dem Turnen unterordnet. Während wir früh aufgestanden sind, um zu turnen, schliefen sie bis in die Puppen. Ferien, in denen wir nicht auch noch trainierten, das gab es nur ganz früher, als wir noch kleiner waren. Da gingen wir sogar noch Skifahren. Ich liebe Wintersport, aber wegen der Verletzungsgefahr ist Skifahren nicht so eine gute Idee.

Später, zurück im Aargau und im Alltag, eröffnet Lucas den Eltern, er wolle nicht mehr turnen. Fertig, aus, sein wie die andern und chillen am Mittwochnachmittag. Später wird Lucas froh sein, sagten die Eltern: Nein.

Nein, du kannst jetzt nicht einfach aufhören.

Lucas turnt denn nicht nur für sich selber, sondern auch längst für den Vater, für das regionale Leistungszentrum in Niederlenz, für den ganzen Aargau.

Ich hatte zwei Mal eine Phase, wo ich aufhören wollte. Man liess mich nicht, ich musste weitermachen. Heute verstehe ich das gut, damals tat ich es nicht. Am Anfang der Turnkarriere muss man halt manchmal auch dazu gezwungen werden, so viel zu trainieren.

Es gibt Kinder, die fangen dies und das an, und nach einem halben Jahr geben sie schon wieder auf. Bei uns war es halt so, dass ich schon viel ins Turnen investiert hatte, als ich in diese Phase kam. Und darum sagten die Eltern: «Nein, du kannst jetzt nicht aufhören.» Für mich war es grässlich, dass ich dann doch weiter ins Training musste! Ich sagte: «Ich mag nümm, ich wott nümm.» Ich wollte es halt auch einmal so entspannt haben wie meine Schulkollegen aus der Dorfschule. Ich hätte meine Freunde auch gerne mehr gesehen. Meine Eltern sagten: «Du kannst jetzt nicht einfach aufhören, so einfach geht das nicht. Jetzt schauen wir erst einmal weiter, reden mit dem Trainer.»

Und irgendwann, ziemlich schnell eigentlich, wollte ich dann von selber auch wieder und hatte die Phase überwunden.

Ich hatte eben auch eine Weile Mühe mit dem Trainer. Mit Nikolay Maslennikov. Ich gab so viel, und er wollte immer noch mehr von mir. Ich hatte das Gefühl, er war nie zufrieden. Ich verstand damals nicht, dass ich so hart angepackt wurde, weil ich so gut war. Er trainierte mich halt so, wie das in Russland üblich war, verlangte mir extra viel ab.

In dieser Phase ist das Wunderkind für seine Eltern vor allem ein Sorgenkind, ein Kind, das Unterschriften fälscht, beim Ferientraining schummelt und das manchmal sogar das Turnen aufgeben will. Ein Kind, das beinahe seinen Traum opfert. Ein Kind, das Turnen eine Weile lang gleichermassen zu lieben wie zu verdammen scheint. Vater Peter Fischer weiss, er muss handeln.

Als Lucii zum zweiten Mal so eine Phase hatte, nahm ich es ernster. Ich wusste, jetzt müssen wir etwas machen. Wir redeten ausführlich mit dem Trainer. Es war mir und auch allen anderen wichtig, dass Lucas weitermacht. Nicht für mich als Vater, sondern für unser Zentrum und für den Turnsport überhaupt. Aber ich hätte es wohl auch akzeptiert, wenn Lucas gesagt hätte: «Ich mache unter keinen Umständen mehr weiter!» Man kann niemanden sechs Tage pro Woche in die Halle zwingen, wenn er nicht mehr will.

Wir sassen dann eben zu dritt zusammen, der Trainer, Lucii und ich. Lucas konnte sagen, wie es ihm geht, und ich sagte dem Trainer, dass wir hier unseren wenigen Talenten Sorge tragen müssen. Hier ist es nicht wie in Russland. Nach dem Gespräch wurde es schnell besser, auch in der Schule fanden wir eine Speziallösung, er durfte mehr Zeit mit seiner Stammklasse verbringen, statt in die Spitzensportschule zu gehen. All das half ihm, wieder mit Freude weiterzuturnen.

Und irgendwann in dieser Zeit wird aus dem Kind ein Teenager, einer, der in der Schweiz ganz vorne mitturnt und dem das Leben der anderen nicht mehr im Wege steht. Er träumt nun nicht mehr von Ferien, in denen er ausschlafen kann, oder von Mittwochnachmittagen an der Spielkonsole oder im Kino.

Lucas träumt nun von Olympia.

Turnen ist für ihn nicht eine Abfolge von technischen Elementen, die er möglichst perfekt ausführen will, sondern eine tiefe Leidenschaft. Eine Übung möglichst schön und mit Gefühl und Eleganz auszuführen, bedeutet ihm viel. Lucas drückt sich am liebsten über den Körper aus. Der Tanz mit der Perfektion stachelt ihn an. Täglich zu trainieren ist für ihn nun keine Last mehr, sondern gehört zum Leben eines ehrgeizigen, jugendlichen Spitzensportlers, der das Potenzial hat, sich in wenigen Jahren mit den Besten der Welt zu messen. Irgendwann in dieser Zeit legt Lucas auch den Wirbelwind ab. Das etwas schrullige, quirlige Kind mit dem Kraushaarkopf, das überschwänglich lachen oder auch weinen kann und über das sich die anderen Turner manchmal lustig machen, verschwindet. Lucas Fischer legt seine Persönlichkeit ab wie ein Kleidungsstück aus alten Tagen, für das man sich etwas schämt. Er lässt sich das krause Haar kurz schneiden. Der Wirbelwind-Lucii, so meint er zumindest, passt nicht in die Welt der Profiturner. Lucas Fischer wird ruhig, angepasst – vom Stuhl fällt er nicht mehr. Sein Weg und seine Etappenziele sind nun klar definiert. Lucas ist ein Turner, ein Soldat voller Leidenschaft für den Sport, er ist nicht mehr der Junge, den sein Bruder eine Diva nannte.

Zu diesem Zeitpunkt ahnt er nicht, dass sich zehn Jahre später, als er längst an Epilepsie erkrankt ist, seine alte, sorgfältig weggepackte Persönlichkeit wieder in den Vordergrund drängen und ihm helfen wird, die schwersten Zeiten zu überstehen.

Tigerherz

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