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Einleitung

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In meiner Studie untersuche ich zeitgenössische europäische Spielfilme, die sich mit der Thematik von Geflüchteten auseinandersetzen. Mein Interesse an diesem Themenfeld stammt aus der Überzeugung, dass Filme soziale Umfelder verarbeiten und mitprägen. Das bedeutet, dass man aus Filmen etwas über die Gesellschaft erfährt, in der sie entstanden sind, und dass gesellschaftliche Vorstellungen durch Filme bestätigt oder erneuert werden können. In einer Zeit, die vom Thema der Migration geprägt ist (vgl. Bauman 2016, 21), ist es wichtig, genau hinzusehen, welche Art von Bildern und Geschichten diesbezüglich vermittelt werden:

Filmen [ist] immer eine realistische Dimension inhärent und zwar nicht in Form des vielzitierten Spiegels der Gesellschaft, sondern insofern, als dass Film sich einer bereits bearbeiteten Realität bedient und versucht, die Essenzen eines Themas verdichtet zu visualisieren, um als solche Zuspitzung wiederum auf die Wirklichkeit einzuwirken und dabei Deutungsmuster mitzuliefern. Wenn anderes Bildmaterial zu bestimmten Aspekten der Realität fehlt, so setzen sich die filmisch vermittelten besonders gut fest. (Grobner 2019, 10)

Ich lege den Fokus auf Filme, die sich mit dem Ankommen von Geflüchteten in Europa auseinandersetzen. Im Folgenden werde ich sie Ankunftsfilme nennen. Das Aufeinandertreffen von Europäer*innen und ‚Fremden‘ steht im Zentrum dieser Filme. Dadurch ist es nicht nur möglich die Inszenierung der ‚fremden Menschen‘ zu untersuchen, sondern es bietet sich auch der filmische Blick auf die Aufnahmegesellschaft zur Analyse an. Die Analyse wäre aber unvollständig ohne die Fragen danach, wer in diesen Filmen über wen spricht und an wen diese Filme gerichtet sind. Es handelt sich bei meiner Auswahl bewusst nur um Filme von europäischen Regisseuren, die vornehmlich für ein europäisches, in erster Linie nationales Publikum geschaffen wurden. Ausgeschlossen habe ich also Werke, die dem Accented Cinema angehören, d.h.:

Filme, die unter der Bedingung und dem Eindruck von Vertreibung, Exil, Migration, Leben in der Diaspora entstanden sind, diese Bedingungen reflektieren und nach ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten suchen, die die Besonderheit des Lebens und Arbeitens in der nichtheimischen Umgebung wiedergeben können. (Meyer 2012)

Dieser Ausschluss lässt sich dadurch begründen, dass solche Werke nicht eine bereits vorhandene Deutungsmacht von europäischen Werken unterstützen oder ihnen als Gegenbild dienen sollen. Vielmehr möchte ich mit meiner Wahl die Möglichkeit eröffnen, die Bilder, die im Kreise der Aufnahmegesellschaft produziert werden, kritisch zu untersuchen. Inspiriert von Edward Saids ORIENTALISMUS (1978) und Yosefa Loshitzkys SCREENING STRANGERS (2010) soll meine Analyse die Selbstpräsentation ‚des Westens‘ mindestens gleich stark in den Fokus rücken wie die Darstellung des ‚Anderen‘. Durch diesen Fokus sollen wir, die Zuschauer*innen und die Leserschaft, direkt angesprochen werden, denn wir sind mitgemeint mit der Gastgesellschaft, die in den jeweiligen Filmen präsentiert wird. So lässt sich sagen, dass die vorliegende Studie das Ziel hat, eine selbstkritische Nabelschau zu sein. Im Sinne der Selbstkritik muss an dieser Stelle auch gleich angefügt werden, dass mir bewusst ist, dass eine Einteilung in dichotome ‚Gesellschaften‘ keineswegs der komplexen Wirklichkeit gerecht wird, in der wir uns bewegen. Diese grobe Kategorisierung hat nur zum Ziel, Gedanken, bezüglich der privilegierten Disposition von Filmemacher*innen und Zuschauer*innen als Teil des wohlhabenden globalen Nordens anzustoßen. Mit dieser Haltung schließe ich mich Ipek Celik-Rappas und Philip Phillis an, die schreiben:

Yosefa Loshitzky explains that films made by filmmakers of the host society, which she aptly refers to as ‚hegemonic‘, highlighting the place of privilege from where they are made, allow us to explore the crisis of European identity in its preoccupation with the ‘Other’” (Celik-Rappas, Phillis 2018, 3).

Alle mir bekannten aktuellen Ankunftsfilme sprechen sich grundsätzlich zu Gunsten der ankommenden Figuren aus. Der narrative Rahmen der Filme ist vielfältig, was sich in meinen Fallbeispielen widerspiegelt: Die Geschichte eines kurdischen Jungen aus dem Irak, der mit Hilfe eines französischen Schwimmlehrers den Ärmelkanal überqueren möchte in WELCOME von Philipp Lioret (FR 2009); ein junger syrischer Mann, der übernatürliche Kräfte entwickelt, in JUPITER HOLDJA (JUPITER’S MOON) von Kornél Mundruczó (HU 2017); ein illegal angestellter Gärtner, der nach einem Unfall zur Bedrohung für ein Schweizer Paar wird, in USGRÄCHNET GÄHWILERS von Stefan Guggisberg (CH 2017); eine Familie, die freiwillig einen Geflüchteten bei sich zu Hause aufnimmt, in WILLKOMMEN BEI DEN HARTMANNS von Simon Verhoeven (DE 2016); ein junger Gabuner, der in der titelgebenden Hafenstadt strandet, in LE HAVRE (F 2011) und ein Geflüchteter aus Syrien, der aus Versehen in Finnland und dort in einer Restaurantküche landet, in TOIVON TUOLLA PUOLEN (THE OTHER SIDE OF HOPE) von Aki Kaurismäki (FI, FR 2017). Hinsichtlich der Gattungen teilen sich die Filme in Tragödie und in Komödie auf; hinsichtlich der Genres entsprechend in Melodrama respektive Komödie. Je nach dem wird angestrebt, die Situation der Geflüchteten durch Ernsthaftigkeit und Empathie zu vermitteln oder Vorurteile mit Humor anzusprechen und der Thematik die Schwere zu nehmen. Was die Filme verbindet, sind gemeinsame narrative Muster und audiovisuelle Formen der Gestaltung, welche sich mit dem Begriff des Stereotyps untersuchen lassen.

Die Besprechung des ‘filmischen Stereotyps’ nach Jörg Schweinitz (2006) soll als Verständnisgrundlage für den Einsatz von filmischen Stereotypen im Rahmen der Narration dienen. In der erhellenden Monografie FILM UND STEREOTYP wird umfassend dargelegt, was filmische Stereotype sind, wie sie funktionieren und wie sie zustande kommen. Für die Untersuchung des Themenfeldes des ‘sozialen Stereotyps’ werde ich mich am kulturwissenschaftlichen Begriff des Stereotypisierens von Stuart Hall (2004) als normierende Repräsentationspraxis, die im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Ordnung steht, orientieren. Ich werde sodann den Stereotypbegriff von Jörg Schweinitz, der das filmische Stereotyp als narrative und filmästhetische Fertigformel konzeptualisiert, in Verbindung mit dem kulturwissenschaftlichen Konzept setzen. Diese Zusammenführung erlaubt den Schluss, dass soziale Stereotypisierung in die filmischen Stereotype eingeschrieben ist. Diese Erkenntnis stellt uns vor folgende Aufgabe: Da Film als semiotisches System auf konventionalisierte Fertigformeln angewiesen ist, muss sich ein reflexiver Umgang mit diesen Versatzstücken finden lassen. Insbesondere wenn man, wie ich in dieser Studie, am postmodernen Film arbeitet, der „als ein Kino, das das ‚Mythenrepertoire‘ der populären Kultur anzapft und für seine Zwecke verwendet“ charakterisiert wird (Eder 2002, 12). Wie Selina Hangartner in ihrer Studie schreibt, ist Ironie ein geeignetes Mittel, um die „Mythen unserer Massenkultur“ kritisch zu reflektieren (2018, 100). Deswegen werde ich auf die Funktionsweise und die Spielarten von Ironie eingehen und das jeweilige reflexive Potential beleuchten. Um dieses Theoriegebäude in die Praxis zu übersetzen, sollen in der Analyse zweier Ankunftsdramen (WELCOME, JUPITER HOLDJA) die filmischen Stereotype herausgearbeitet und kritisch betrachtet werden. Durch die Analyse zweier Ankunftskomödien (WILLKOMMEN BEI DEN HARTMANNS, USGRÄCHNET GÄHWILERS) zeige ich sodann auf, dass der bloße Einsatz von Ironie noch nicht genügt, um die Reproduktion von sozialen Stereotypen, die den filmischen Stereotypen eingeschrieben sind, zu verhindern. Denn Ironie als Stilmittel kann unter Umständen selbst zu einem narrativen Versatzstück werden und durch die Konventionalisierung ihre reflexiven Eigenschaften verlieren.

Dass aber ein reflexiver Umgang mit filmischen Stereotypen durchaus möglich ist, möchte ich anhand einer vertieften Analyse von Aki Kaurismäkis TOIVON TUOLLA PUOLEN zeigen. Dem Film gelingt es immer wieder, die Zuschauer*innen zu adressieren und zur Reflexion des Gesehenen zu bringen. Was Kaurismäkis Film von den anderen Beispielen unterscheidet, ist nicht bloß eine präzisere und durchdachtere ironische Handhabung von filmischen Stereotypen, sondern ein ganzes Arsenal an Techniken zur reflexiven Auseinandersetzung, die ich abschließend genauer beleuchte.

Europa und die 'Anderen'

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