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3. Kapitel

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Worin die Ungereimtheiten kein Ende nehmen wollenund schließlich alles zu Papier gebracht wird,worin Ulrich ferner bedeutenden Herren die Augen öffnetund diese darüber einen bedeutsamen Beschluss fassen.

Wenngleich seine Aufgabe hier nun eigentlich beendet war und die Aussicht, einen ausführlichen Bericht über seine Untersuchung schreiben zu müssen, Grund genug gewesen wäre, sich auf den Heimweg zu begeben, beschloss Ulrich für sich, noch einmal Hauptmann van Horn aufzusuchen, von dem er sich eine besondere Auskunft erhoffte. Diesmal war es ein Leichtes, zur Offiziersstube zu gelangen, wo er einen jungen Burschen bat, ihn anzumelden. Fast unverzüglich durfte er eintreten. Van Horn empfing ihn mit wohlwollendem Lächeln. Er schien die Anwesenheit des jungen Gelehrten, wie er Ulrich zu nennen pflegte, weiterhin als willkommene Bereicherung dieses Tages zu sehen. Er saß entspannt hinter einem mit Karten und großformatigen Büchern bedeckten Tisch. Das Wams zur größeren Bequemlichkeit halb aufgeknöpft, wirkte er gleichwohl auch jetzt schneidig und elegant. Ulrich hatte den Eindruck, dass ein beträchtlicher Teil des Solds der Offiziere in den Taschen von Barbieren, Schneidern, Schuhmachern und Sattlern der Stadt landen müsse.

„Ah, unser junger Gelehrter hat noch etwas auf dem Herzen. Sprecht nur rundheraus“, sagte er lächelnd.

„Hauptmann, sollte es wohl möglich sein, einen der Männer zu befragen, die vergangene Nacht des Ratsherrn Leichnam hierher gebracht haben?“

Van Horn schlug zur Antwort einen schweren Lederband auf, blätterte zu einer bestimmten Seite und fuhr mit dem Finger über die dort eingetragenen Zeilen.

„Lasst sehen: Mönning, Kruse und … ah, ja, der alte Krayenbrink: An den wollen wir uns halten. Die beiden anderen sind, fürchte ich, so mundfaul, dass wir statt ihrer ebenso gut einen Ochsen befragen könnten.“ Er lachte über seinen eigenen Witz, läutete eine Schelle auf seinem Tisch und trug dem eintretenden Burschen auf, den von ihm ausgesuchten Mann herbeizubringen.

Da die Sache sich besser anließ, als er erhofft hatte, unterbreitete Ulrich dem Hauptmann sogleich, worauf er eigentlich abzielte.

„Wenn ihr gestattet, würde ich mich von eurem Soldaten gern an den Ort führen lassen, wo sie den toten Ratsherrn gefunden haben“, führte er seine Bitte fort.

„Soviel ist gewiss“, erwiderte van Horn mit einer Miene, die weiterhin Wohlwollen verhieß, „Ihr zählt unter diejenigen, die nicht ruhen, ehe noch die letzte Begebenheit zur vollen Zufriedenheit erkundet wäre, wie? Nun, Lengsdorp hält große Stücke auf eure Klugheit, und wir wollen nicht zurückstehen hinter seinem Urteil. Ihr bekommt euren Mann und er mag Euch führen, wohin immer Ihr es wünscht, sofern er nur seinen nächsten Dienst nicht versäumt!“

Er lachte erneut und Ulrich stimmte zaghaft mit ein, denn die heitere Natur des Hauptmanns vermochte auch sein gedankenschweres Gemüt ein wenig aufzuhellen.

Bald darauf trat er einem älteren, schmächtigen Soldaten gegenüber, dessen wettergegerbtes Gesicht an der linken Wange wie von einer alten Brandwunde vernarbt und verfärbt war. Seine Erscheinung war so schäbig, dass man nicht umhin konnte, Bedauern für ihn zu empfinden. Wenn sein Rock auch ausreichend sauber schien, so war er doch mit allerlei Flicken geradezu übersät und das Tuch dabei so ausgeblichen, dass seine ursprüngliche Färbung kaum mehr zu erahnen war. Ein leichtes Hinken beschwerte den Gang des Mannes, doch rührte es nicht von einem Leiden her, schuld war vielmehr sein schlechtes Schuhwerk, denn wie Ulrich bei genauerem Hinsehen erkannte, war der Absatz seines rechten Stiefels herausgebrochen.

Ulrich verabschiedete sich vom Hauptmann. Krayenbrink hatte Anweisung erhalten, ihn nach Kräften zu unterstützen, und er tat wie geheißen, beantwortete Ulrichs Fragen und machte einzig ein erstauntes Gesicht, als dieser ihn bat, sie möchten doch neben einer Laterne auch einen Reisigbesen und eine Schaufel mitnehmen.

Wenn etwas Zögerliches in seiner Haltung war, so konnte man dies Scheu und Unsicherheit zuschreiben. Ulrich nahm an, dass es seit den Ereignissen der vergangenen Nacht niemand für nötig befunden hatte, ihm oder seinen Kameraden dafür zu danken, dass sie den Leichnam des Vermissten entdeckt hatten.

So ging er betont freundlich auf seinen Begleiter ein, wusste sich zu entschuldigen für alle Ungelegenheiten, die seinen Wünschen entsprangen, und er bestand darauf, von ihrer kleinen Ausrüstung wenigstens den Besen selbst zu tragen, derweil sein Weggefährte voranschritt und ihren gemeinsamen Weg ausleuchtete. Sie bildeten ein seltsames Gespann, da Ulrich fortwährend die eine oder andere Frage an den vor ihm Marschierenden richtete, woraufhin Krayenbrink mit der ihm eigenen, heiseren Stimme antwortete. Hierbei wendete er jedoch nie den Kopf, so dass es schien, als spräche er zu der finsteren Umgebung, die sie beide umgab. Sein Führer ging langsam aber stetig, nur bisweilen hielt er kurz inne, schwenkte die Laterne höher als sonst, um sich an einer Häuserzeile zu orientieren, eine Gabelung abzupassen oder auch nur, um Ulrich auf eine Ungelegenheit ihres Wegs hinzuweisen.

Bald hatte er den Eindruck, das Vertrauen dieses Veteranen gewonnen zu haben. Was Krayenbrink unterwegs von der nächtlichen Begebenheit schilderte, deckte sich mit dem, was er zuvor von Lengsdorp über die Suche erfahren hatte. Vor Mitternacht hatte sie danach der Wachhabende angewiesen, bei der Suche nach einem Vermissten zu helfen, und alsbald waren sie in eilig zusammengestellten Häuflein jeweils zu dritt ausgeschwärmt.

Während der Alte Einzelheiten ihrer nachfolgenden Suche schilderte, steuerten sie schließlich auf einen Graben zu, an dem ihre Wanderung ein vorläufiges Ende fand.

Ulrich schätzte, dass sie jetzt ein gutes Stück nördlich des großen Rundbogens am Alten Wall standen. Die letzte Häuserzeile lag hinter ihnen und der hier verlaufende Graben musste durch ein Stück Brachland führen, um dann weiter weg irgendwo in das ungleich breitere Alsterfleet zu münden. Vorsichtig schritt Krayenbrink das Ufer ab und bedeutete Hesenius, zu ihm aufzuschließen. Das Licht der Laterne erhellte die schneebedeckte Eisfläche vor ihnen. Ulrich hatte insgeheim gehofft, er könne aus den verbliebenen Spuren im Schnee etwas herauslesen, aber den Tag über mussten bereits andere hier gewesen sein. ob nun vor allem Freunde des Toten, die Männer der Wedde, neugierige Anwohner oder bloß spielende Kinder sich eingefunden hatten – die Schneedecke war an vielen Stellen zertreten und scheinbar wahllos führten verschiedene Pfade über das Eis. Hinter dem Lichtschein, der die Spuren dieses Durcheinanders erhellte, vermochte Ulrich starke Pfeiler zu erkennen, welche die Balken einer hölzernen Brücke stützten. Von dort herab, so berichtete Krayenbrink, hatten er und seine Kameraden einen dunklen Körper auf dem Eis entdeckt, waren sofort umgekehrt und dann hier, an einer eher flachen Stelle der Böschung, hinunter geeilt, nur um einen Unglücklichen zu finden, für den jede Hilfe zu spät kam.

Ulrich entschied, dass sie zuerst ihr Glück auf dem Eis versuchen sollten. Krayenbrink ging voraus und die Laterne des Alten tanzte beim Abstieg unruhig hin und her, leuchtete dann aber von unten her stetig und einladend, so dass er sicheren Schrittes hinunter gelangte.

Die stumpfe Schneedecke machte das Eis gut begehbar. Kein Knacken war zu hören, nur ein sanftes Knirschen begleitete jeden ihrer Schritte.

„Wir wollen nun sehen, wo unser Mann von der Brücke gestürzt sein könnte. Wollt ihr mir daher, so genau es Euch möglich ist, bedeuten, an welcher Stelle der Körper gelegen hat“, fragte Ulrich.

Krayenbrink nickte und ging ohne zu zögern auf die Mitte der schmalen Brücke zu. Etwa zwei Schritte davor blieb er stehen und schwenkte die Laterne auf eine Weise hin und her, dass Ulrich erahnen konnte, in welcher Ausrichtung sie den Leichnam vorgefunden hatten. Genau hier, so erklärte der Soldat, sei es gewesen. Aber, dachte Ulrich, war die Erinnerung seines Begleiters tatsächlich so genau oder hatte er die Stelle mehr aufs Geratewohl angezeigt, um den beharrlich fragenden jungen Mann nicht zu enttäuschen?

„Wie könnt Ihr Euch so sicher sein?“, forschte er weiter, „der Brückenbogen ist alles in allem gut vier Klafter breit. Da könnte der Mann doch ebenso gut hier oder dort herüber gelegen haben. Was meint Ihr?“

„Nein, nein, junger Herr“, widersprach der Alte, „gerade hier herüber hat er gelegen, ganz einfach so, wie unsereins schlafen möchte, auf dem Rücken“, beschrieb er, während die Hand mit der Laterne nun eine kleine Kreisbewegung vollführte, „und dabei war sein Kopf grad’ hier.“

Und da er in Ulrichs Blick den Zweifel nicht ausgelöscht sah, setzte er noch ein weiteres hinzu. „Nein, seht nur, junger Herr“ sprach er und stieß dabei mit dem Stiefel mehrfach gegen einen recht spitzen und offensichtlich harten Buckel zu seinen Füßen, „hierauf hat der Vinzenz noch gemeint, was für ein Glück es gewesen sei, dass der Mann mit dem Kopf gerade neben dem Grat aufgekommen wär’, weil er sich andernfalls doch grad noch mal böse verletzt hätte“. Und das sei, so fügte er hinzu, doch arg töricht gewesen, solches zu sagen, da der Mann schließlich doch schon tot vor ihnen gelegen sei.

Ulrich nickte zustimmend. Die Schilderung des Alten schien aufrichtig. Er besah sich den Wulst genau. Er war noch leicht von Schnee bedeckt und ließ nicht die kleinste Blutspur erkennen. Er nahm den reisigbesen und entfernte einiges vom Schnee. Bald ahnte man, was es war: Ein Stück Treibholz musste sich hier einst im Schlick niedergelassen haben, und sein schwarzgefärbtes Ende ragte nun gleich dem Maul eines erstarrten, unförmigen Fisches durch die Eisdecke.

Er trat ein paar Schritte zurück und versuchte sich vorzustellen, was sich an diesem ort abgespielt haben mochte. Wie viel einfacher wäre seine Untersuchung doch gewesen, wenn er den Toten hier unberührt vorgefunden hätte, doch hatten Krayenbrink und seine Kameraden wohl kaum anders handeln können, als ihn sogleich von hier fort zu tragen.

Wenigstens hatte er Vorsorge getroffen, dass sie einer Sache, die ihn beschäftigte, nunmehr nachgehen konnten. Dem Gewirr der vielen Spuren im Schnee war nichts weiter zu entnehmen, doch etwas Verborgenes darunter wollte Ulrich dennoch betrachten.

„Wollt Ihr mir nun helfen, dass wir mit Schaufel und Besen ein wenig Schnee beiseite schaffen, eben hier, wo der Unglückliche nach eurer Beschreibung lag?“ fragte er den Alten.

Er verriet nicht, wonach er suchte, aber das war einerlei. Wie alle Soldaten war Krayenbrink es gewohnt, zu befolgen, was man ihm auftrug, ohne nachzufragen. Ja, mehr noch, da der Alte sich insgeheim gewundert hatte, zu welchem Zweck er die Schaufel hatte schultern dürfen, schien ihm nunmehr Antwort genug, sie zu benutzen, und sogleich stellte er die Laterne ab und begann eifrig zu schippen.

Der Schnee lag nur wenig mehr als eine Spanne hoch und rasch hatten sie eine Fläche freigelegt, so groß, dass sich auch der stattlichste Bursche auf ihr hätte ausstrecken können.

Als Krayenbrinks Schaufel ihr Werk getan und Hesenius den Boden von Schneeresten gesäubert hatte, spiegelte sich der Schein der Laterne auf dem blanken Eis wider, doch mittendrin durchzog diesen Spiegel ein langer und tiefer Riss, gerade so, als sei etwas Schweres hier aufgeschlagen. Während der Soldat das Resultat gleichmütig aufnahm, hatte Ulrich sich kauernd niedergelassen und strich in gedankenverlorenem Schweigen mit der Hand über die kaltglitzernde oberfläche.

Als er sich nach einiger Zeit wieder aufrichtete, drückte seine Miene alles in allem Zufriedenheit aus. Er ließ sich vom Alten die Stelle zeigen, wo man den Hut des Verunglückten gefunden hatte. Krayenbrink war sich hierbei weniger sicher als vorhin, aber da Ulrich die Spuren vor einem Gebüsch am gegenüberliegenden Ufer untersuchte, fand er dort auf der Schneedecke Abdrücke von Stiefeln, und bei einer Spur fehlte der rechte Absatz, so dass kein Zweifel möglich war. Hier also war der alte Soldat geschritten und hatte den Hut, wie berichtet, eingeklemmt zwischen einigen Zweigen gefunden. Ulrich bedeutete ihm, dass er jetzt noch die Brücke begehen wollte, und so verließen sie beide die Eisfläche und mühten sich die Uferböschung wieder hinauf.

Wie es häufig zu finden war, wölbte sich die hölzerne Brücke ein wenig. So konnte man auch auf Kähnen stehend unter dem Bogen hindurch staken, wenn wieder die Zeit gekommen war, die Boote zu Wasser zu lassen. Ulrich prüfte die Festigkeit des Geländers, ließ sich dann von seinem Begleiter die Laterne reichen und überquerte die Brücke vorsichtigen Schrittes, leuchtete bald hierhin, bald dorthin und kehrte schließlich in der gleichen Weise wieder zurück. Da niemand sich die Mühe gemacht hatte, die Bohlen mit Asche zu bestreuen, war der Untergrund, auf dem er wandelte, auf tückische Art rutschig. Es war ein Leichtes, hier ins Stolpern zu geraten, gestand sich Ulrich ein. Doch hatte er im Ganzen bereits zu viele Dinge entdeckt, die dem vermeintlichen Unglück entgegen standen.

Er blickte auf die Fläche, die sie beide vorhin vom Schnee freigeschaufelt hatten und die sich jetzt, da sie hier oben standen, so dunkel abzeichnete, als hätten sie dort ein tiefes Grab ausgehoben. Zögernd trat Krayenbrink hinzu, der nicht recht wusste, ob es der richtige Moment war, ihre Heimkehr anzusprechen.

Ringsum herrschte Stille. Der flackernde Schein des einzigen Lichts inmitten großer Dunkelheit hüllte sie beide ein und brachte eine getragene Stimmung hervor. Es war diesmal der Alte, der das Wort ergriff, um etwas Tröstliches zu sagen. Schließlich wusste er das stille Verharren des Jüngeren nicht anders zu deuten, als dass ihn der Gedanke an den Verstorbenen bedrückte.

„Ich habe den Tod bei vielen Gelegenheiten gesehen, junger Herr“, sagte er, in dem Bemühen, die angemessenen feierlichen Worte zu finden, „und nun mal oft kam er in ganz furchtbarer Gestalt. Aber seid nur gewiss, dass der hohe Herr vergangene Nacht ganz geschwind gestorben ist. Mein Wort drauf, junger Herr, er hat ganz gewiss nicht leiden müssen, und so friedlich hat er dagelegen, wie wir ihn gefunden haben, als hätte der Herrgott selbst ihn noch, wie er gefallen ist, brav hingebettet.“

Ulrich stimmte ihm zu, denn das war höflich und den Bemühungen dieses aufrechten Veteranen angemessen. Etwas in den Worten des Alten hatte seinen Gedanken neuerlich einen Stoß gegeben, aber er hütete sich, auszusprechen, was ihn in Wahrheit bewegte. Was er im Ganzen an Ungereimtheiten aufgeworfen sah, würde er seinem Bericht anvertrauen, den er noch heute Nacht beginnen wollte.

Ulrich bat den Alten, er möge ihn noch durch die Finsternis zurück zum Haus am Dovenfleet geleiten. Sofern sie sich nur recht beeilten, würde Krayenbrink noch rechtzeitig zum Zeughaus zurückkehren können, ehe das Licht seiner Laterne niedergebrannt war.

So brachen beide auf, und da sie rüstig ausschritten, hatten sie bald die Alte Stadt erreicht. Straßen, die vor Stunden noch übervoll von Menschen gewesen waren, glichen nun verlassenen Schluchten, und nur spärlich verriet hier und da ein Lichtschimmer hinter geschlossenen Fensterladen, dass sich das Leben in Wahrheit nur zum Schlafen hinter die Häusermauern zurückgezogen hatte. Inzwischen mochte es auf die neunte Abendstunde zugehen. Als sie St. Nikolai und den Hopfenmarkt passierten, begegnete ihnen ein Nachtwächter auf seiner Runde, doch wirkte der Soldatenrock seines Begleiters amtlich genug, so dass Ulrich nicht erklären musste, weshalb er zu solch später Stunde noch auf der Straße unterwegs war.

Hesenius wurde durchaus nicht müde, Krayenbrink unterwegs weiter zu befragen, etwa danach, auf welche Weise dieser mit seinen Kameraden den Toten gepackt und aufgeladen hatte. Anfangs hatte er noch befürchtet, seine gesammelte Neugier könne den Soldaten am Ende misstrauisch machen und dazu führen, dass wilde Gerüchte über den Todesfall aufkamen, doch der Alte war von schlichtem, ehrlichem Gemüt, er antwortete gutwillig und würde hinter seiner ganzen Fragerei nicht mehr vermuten als die übertriebene Gründlichkeit eines jungen Mannes.

Am Dovenfleet angelangt, trennte er sich von dem Alten, der ihm ein durchaus angenehmer Begleiter gewesen war. Wiewohl Ulrich selbst zur Zeit nur den nötigsten Lohn empfing, fand er doch zum Abschied zwei Münzen in seinem Geldbeutel, die er dem hilfsbereiten Soldaten unter warmen Dankesworten in die Hand drückte. Womöglich war die Entlohnung sogar ausreichend für einen Besuch beim Schuster. Gern hätte er van Horn gegenüber lobende Worte für den Mann gefunden, aber er bezweifelte, dass er dem Hauptmann noch ein weiteres Mal begegnen werde.

Dort, wo er hineilte, fiel ein einzelnes Licht aus einem der Fenster bis auf die Straße und lenkte seine letzten Schritte: Elsbeth hatte eine Kerze vor die Scheiben gestellt, um wenigstens auf diese Weise zu seiner sicheren Rückkehr beizutragen.

Als er zu dieser späten Stunde endlich wieder das Haus betrat, umarmte er die beiden Frauen und ließ die vom Kummer gespeisten Vorwürfe in der Rede seiner Tante über sich ergehen, blieb selbst aber wortkarg. Auf ihre Weise half Elsbeth ihm dabei, denn nachdem er in der Küche zum verspäteten Abendessen Platz genommen hatte, verscheuchte sie abwechselnd Tochter und Schwiegersohn, die sich, von Neugier geplagt, dazu gesellen wollten, damit Ulrich ihnen von dem Erlebten berichtete. In diesen Dingen war Elsbeth ganz die gestrenge Herrin des Hauses und sie duldete nicht, dass er sein Mahl unterbrechen musste.

Er aß hastig, doch war es nicht so sehr der Hunger, sondern eine Ungeduld mit sich selbst, die ihn dazu anhielt: Den Kopf noch voller Gedanken, wollte er möglichst rasch mit der Niederschrift beginnen.

So schmeckte er weniger als sonst, was aufgetischt war. Dass die Tante die Pfanne überreichlich mit dem guten Speck zubereitet hatte, kam ihm erst zu Bewusstsein, als er sich lange vor dem letzten Löffel gesättigt fühlte.

Es war nicht schwer, Müdigkeit vorzutäuschen, und so vertröstete er alle, die sich eine spannende Schilderung erhofft hatten, auf morgen. Gerdt, der sich eine unterhaltsame Runde mit ihm beim gemeinsamen Würfelspiel versprochen hatte, suchte vergeblich, ihn zu einem weiteren Krug Bier zu überreden. Er wünschte allen eine gute Nacht und zog sich, mit dem Nötigsten versehen, in seine Kammer zurück. Auch wenn er anderntags ausließ, was vertraulich zu behandeln war, so blieb noch genug, was er seinen Lieben mitteilen konnte. Die Nachricht vom Tode Heinrich von Brempts würde sich ohnehin bald herumsprechen.

Einige Bogen Papier und Schreibfedern hielt er hier oben in seiner Kammer immer bereit, und auch das Tintenfass auf dem kleinen Schreibtisch war ausreichend gefüllt. So saß er also und begann im Kerzenschein endlich mit der Niederschrift, anfangs noch zögerlich, da er immer wieder nachdenklich innehalten musste, doch bald füllte er Zeile um Zeile. Er beschrieb die Beschaffenheit des Leichnams in den notwendigen Einzelheiten und vergaß dabei nicht, die Körperteile und was er aus ihnen heraus gelesen hatte, im Lateinischen sowohl wie auch in deutscher Sprache zu benennen. Denn wenn die Blätter auch für wichtige Herren bestimmt waren, so würden sie doch in der Hauptsache Kaufleute und Rechtsgelehrte zu lesen bekommen, und solche Leute wussten nicht um die in der Medizin verwendeten Bezeichnungen.

Endlich, da die Kerze vor ihm so weit heruntergebrannt war, dass sie zu flackern und zu rußen begann, legte er die Feder beiseite. Er wusste nicht recht, wie viel Zeit vergangen war, doch war es einerlei. Alle anderen mussten sich längst schlafen gelegt haben. Elsbeth verwahrte die Kerzen so wohl wie die Dochtschere, und selbst wenn sie noch wach gewesen wäre, so hätte sie keineswegs eingewilligt, etwas davon herzugeben, um ihn bei seinem nächtlichen Treiben zu unterstützen. Es gehörte zu ihren unverrückbaren Grundsätzen, dass Gottes Hand Tag und Nacht geschieden hatte und dass es des Menschen Aufgabe sei, sich in dieser Ordnung einzurichten, anstatt, wie er es unternommen hatte, sein Tagwerk inmitten der Nacht fortzusetzen.

Kaum dass er dies überdacht hatte, spürte er, wie Müdigkeit ihn überfiel. Ebenso wurde er gewahr, dass der Rest Ascheglut, der den Weg vom Küchenherd in die alte Schüssel zu seinen Füßen genommen hatte, längst erloschen war und dass die Kälte der Nacht sich bereits merklich in der Kammer ausgebreitet hatte.

Fröstelnd ging er zu Bett und fiel sogleich in einen unruhigen Schlaf. Es träumte ihm, er müsse unentwegt seine rechte Hand vor anderen Menschen verbergen, da sie von einem fahl leuchtenden Schimmer überzogen war. Vergeblich suchte er das verräterische Mal abzuwaschen, doch es trotzte all seinen Bemühungen.

Als er noch vor der Morgendämmerung aus diesem Traum hochschreckte, pochte sein Herz so heftig wie von einer großen Anstrengung. Leicht verwirrt, doch mit einem augenblicklichen Gefühl tiefer Erleichterung sank er zurück auf das Kissen. Der gestrige Tag hatte ihm mehr aufregende Dinge beschert als all die Monate zuvor, seit er nach Hamburg zurückgekehrt war.

Beim morgendlichen Beisammensein erfuhren Elsbeth, Agnes und Gerdt von den Begebenheiten des Vorabends, was er sich selbst zu schildern erlaubt hatte, und wenn er auch vieles verschwieg, so nahmen sie dennoch lebhaften Anteil an seiner Erzählung. Agnes’ Kinder, die Martin und, nach der Großmutter, Elsbeth gerufen wurden, waren gar so in Bann geschlagen, dass ihnen immerfort neue Dinge einfielen, die sie erfragen mussten, und darüber vergaßen sie ganz, ihren Brei zu löffeln.

Zurück in seiner Kammer, ging ihm die weitere Arbeit an diesem Vormittage recht flott von der Hand: Zur Mittagsstunde befand er, alle seine wesentlichen Erkenntnisse und Mutmaßungen über den Tod Heinrich von Brempts seien nunmehr hinreichend dargelegt.

Er hatte sich jedoch überlegt, noch eine zweite Schrift aufzusetzen, welche ausschließlich einer Beschreibung des geisterhaft fahlen Lichtschimmers an der Hand des Toten vorbehalten war. Und so schilderte er die Umstände seiner Entdeckung und, so gut seine Worte es vermochten, die unerklärliche Natur dieser Erscheinung, auch wie er selbst und Lengsdorp schließlich das Mal tilgten, damit sich der Anblick nicht verbreite und böse Nachrede in das Gedenken an den Toten floss. Indem er diese so überaus seltsamen Begebenheiten gesondert zu Papier brachte, hatte er das seinige dazu beigetragen, sie weiterhin geheim zu halten. Er war sicher, dass Lengsdorp die Niederschrift nur an ausgewählte Amtsträger weiterreichen würde.

So trug er also statt einem Brief deren zwei mit sich, als er sich schließlich am Nachmittag zurück auf den Weg machte zu des Vaters Kontor. Es war ihm, als sei er nie weg gewesen. Der alte Harm bewachte die Eingangshalle, Johann Hesenius machte gerade seinen täglichen Rundgang durch die hinteren Speicherräume und gab Jacob und Fokko, die hier tätig waren, Anweisung, den Bestand verschiedener Waren zu prüfen.

Als Ulrich hinzutrat, wurde er nicht anders begrüßt, als sei er eben seiner kleinen Schreibstube entstiegen, um hier unten sein Tintenfass frisch zu füllen oder einen Stoß Papiere aufzunehmen.

Gerne hätte er noch den Gang durch die Stadt gemacht, um seinem Auftraggeber selbst die beiden Briefe zu überreichen, doch Johann Hes-enius beschied, dass Jacob mit seinen flinken Beinen dies ebenso gut erledigen könne. Tatsächlich wusste Ulrich seine Papiere bei ihm in guten Händen. Er kannte jeden Winkel der Stadt und war als Bote so zuverlässig, wie man es sich nur wünschen konnte.

Sein Vater stellte wenig Fragen nach dem, was Ulrich widerfahren war, doch nahm er die Nachricht vom Tod Heinrich von Brempts mit betroffener Miene auf. Wenngleich er den Ratsherrn nicht näher kennengelernt hatte, so wusste er natürlich um Bekanntheit und Ansehen des Mannes.

Ulrich fand es nicht eben einfach, nach den vergangenen Ereignissen seine Arbeit dort wieder aufzunehmen, wo er sie verlassen hatte: Die Aussicht, über Monate hin Briefwechsel zu führen, von denen kein einziger sein Herz berührte oder seinen medizinischen Verstand und seine Neugier so forderte, wie er es am gestrigen Tag erlebt hatte, bekümmerte ihn mehr, als er geglaubt hatte.

Dabei gestand er sich ein, dass er, verglichen mit jenem Teil der Buchführung, der sich dem Bestand an Waren, den Ankäufen und Verkäufen oder Umrechnung und Subsidien widmete, noch mit Aufgaben betraut war, die man abwechslungsreich nennen durfte. Da gab es etwa ein Schreiben vom Haushofmeister des Großfürsten und Kanzlers von Litauen, und dennoch erschien ihm sein Inhalt nunmehr öde und belanglos. Noch vorgestern hatte ihm das holprige Französisch des Mannes einiges Vergnügen bereitet und wie er umständlich sein Interesse an weiteren Gold-ledertapeten aus der Werkstatt von Le Maire bekundete, da des Kanzlers Frau und den Damen des Hofes die im Vorjahr erworbenen Wandbehänge so ausnehmend gut gefallen hatten. Jetzt spottete er innerlich über den umständlichen Tonfall des Mannes, der zwischen den Zeilen bereits zum Feilschen ansetzte. Im Ganzen war es ohnehin zweifelhaft, ob Johann Hesenius hiervon weitere Ware aus Amsterdam erhalten würde.

Spät am Nachmittag ließ Ulrich die Schreibfeder sinken. Von unten her vernahm er großen Trubel im Kontor, so dass er verwundert seine Stube verließ, um nachzusehen, was vorgefallen sei.

Auf der Treppe drang ein Gewirr von Stimmen aus der Halle hinauf, dazu vernahm er allerhand Lärm und tobende Kinderschritte.

Erst als er ein ihm wohlvertrautes lautes Lachen hörte, kam ihm zu Bewusstsein, was er doch hätte ahnen können: Seine Stiefmutter war mit den Kindern von ihrer Reise nach Lübeck zurückgekehrt. Volle drei Wochen hatte er Tilda nicht gesehen, und ohne sie und die Schar seiner Halbgeschwister war das Haus so ruhig gewesen, dass er häufiger als eigentlich notwendig, die Schreibstube des Vaters aufgesucht hatte, nicht so sehr um sich der richtigen Vorgehensweise mit all den vielen Papieren auf seinem Tisch zu vergewissern, als vielmehr, um zwischendurch über sein Tagwerk reden zu können und dabei die vertraute Stimme zu hören. Bisweilen war es gar vorgekommen, dass sie von den alltäglichen Dingen der Arbeit abschweiften und alte gemeinsame Erinnerungen hervorkehrten. Alles in allem hatten sie sich besser verstanden in den letzten Wochen als zuvor, und er wusste, dass es nun wieder so sein würde wie immer, wenn Tilda zugegen war. Er ging ihr und damit auch den anderen aus der Familie aus dem Weg, einfach indem er sich hoch oben in seiner Kammer vergrub.

Furcht und Scheu waren die ersten Empfindungen, die er ihr damals entgegenbrachte, an jenem Tag, als Johann Hesenius mit der ihm fremden Frau nach Hause zurückkehrte, und da seine Kinderseele sogleich zu spüren meinte, wie sie hinter ihren anfangs freundlichen Worten doch ganz anders über ihn dachte, verschloss er sich ihrem falschen Werben. Er gewöhnte sich an, sie zu strafen, indem er so wenig wie möglich mit ihr sprach, und brachte es zur Meisterschaft darin, ihre Fragen an ihn einfach zu überhören. Wenn es nicht zu vermeiden war, antwortete er unwillig, schüttelte aber meist nur den Kopf oder sprach die Worte doch wenigstens in Richtung des Vaters statt in ihre, als bedeute es zuviel Anstrengung, auf ihr drängendes Fragespiel einzugehen und sie zugleich anzublicken.

So lautete bald ihre Klage an Johann Hesenius, dass der Junge in jeder Hinsicht verstockt sei und seiner neuen Mutter in tausend Kleinigkeiten Verdruss zu bereitete. Jede neue Klage, die sie erhob, nährte seine Gewissheit, dass sie ihn im Grunde ihres Herzens hasste, und es war daher für ihn keine Frage, dass er recht daran tat, ihre Gefühle in gleicher Weise zu erwidern.

Als sie die ersten eigenen Kinder gebar, wurde es leichter für ihn, sich abzusondern, und dass seine Halbbrüder bald jene aufrichtige Zuneigung und Aufmerksamkeit von ihr erfuhren, die er selbst entbehrte, nahm er als Auszeichnung.

Johann Hesenius ertrug diesen Zwist in stillem Kummer. Früh hatte er die Hoffnung auf eine Besserung zwischen ihnen beiden aufgegeben. Bisweilen wies er seine Frau zurecht, wenn sie sich in Zorn geredet hatte, häufiger jedoch sah Ulrich sich gezwungen, Abbitte zu leisten, wenn er es an Respekt hatte fehlen lassen.

In den Jahren, da er die Kindheit hinter sich ließ und anfing, mit großen, staunenden Augen die Welt zu erkunden, war er wenigstens an schlimmen Tagen überzeugt, dass es auf dem Erdball keinen Menschen geben könne, den er mehr hasste als die Frau, die sich selbst vor anderen seine Mutter nannte. Als er endlich soweit herangewachsen war, dass sie zurückscheute, die Hand gegen ihn zu erheben, war er bereits besonnener in seinen Ansichten. Das Gefühl, dass er ihr im Grunde einfaches Wesen und ihre ewig gleichen Ränke gegen ihn leicht durchschauen konnte, stimmte ihn insoweit milde. Seit damals beließ er es dabei, dass er einfach verdeckten Spott in seine Rede einfließen ließ, wenn sie ihm Vorhaltungen machte.

Er wusste, dass die Liebe des Vaters zu ihr nicht tief war, doch die Verbindung mit Tilda aus der Lübecker Kaufmannsfamilie Hoop war nützlich und gut, und vor allem hatte sie ihm die Söhne geschenkt, die das Geschäft eines Tages übernehmen und fortführen würden. Im Grunde hätten Dietrich und der junge Johann ihm dankbar sein müssen, dass er, Ulrich, sich so früh von solchen Aussichten losgesagt und seinen angestammten Platz geräumt hatte, doch auch jetzt, da die Brüder ihm nach dem Erlebnis der Familienreise wieder gegenüber standen, maßen sie ihn mit jenem finsteren, abschätzigen Blick, den sie der Mutter abgeschaut hatten.

Sie tauschten keine falschen Umarmungen, aber er begrüßte Tilda mit der gebotenen Höflichkeit. Sie war bis auf ihr langes hellblondes Haar, das sie stets tadellos gekämmt und geflochten trug, vielleicht nicht als Erstes schön zu nennen, aber sie wirkte noch jung, war kräftig und gesund anzuschauen. Auch jetzt stand sie wie selbstverständlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, verteilte kleine Geschenke, richtete ihrem Gatten den Hemdkragen neu und erteilte zwischendurch Anweisungen an Ursel, ihre Magd, und an einen Diener, der die Reisenden wohl von Lübeck her begleitet hatte und den er nicht kannte.

Mehr als um alle anderen, die sich nun in der großen Halle drängten, war es Ulrich aber um eine kleine Gestalt zu tun, die sichtlich verloren dabei stand. Anders als ihre Brüder war Katharina, die Jüngste, bösen Einflüsterungen gegen ihn nicht zugänglich: Freudestrahlend ließ sie sich hochheben und küssen und freute sich, dass sie einen Zuhörer ganz für sich hatte, dem sie von ihrer wundersamen, zweitägigen Schlittenfahrt erzählen konnte. Es war am Ende die einzig schöne Erinnerung, die er von diesem Abend im Kontor mitnahm.

Die restlichen Tage der Woche dünkten ihn so eintönig, dass ihn unbewusst das Gefühl überkam, sein vorheriges Erlebnis müsse auf Einbildung beruhen. Es waren kleinere Dinge, die daran erinnerten, dass an diesem Tag im Gewölbe des Neuen Zeughauses wahrhaftig etwas Ungewöhnliches in sein Leben getreten war: Ein kurzes Dankschreiben von Hermann Lengsdorp traf ein für seine Berichte, und dann war da der Umstand, dass allenthalben in der Stadt über den ganz unerwartet verstorbenen Heinrich von Brempt gesprochen wurde. Die Neuigkeit war angereichert mit dem, was man über den großen Reichtum des Ratsherrn gehört hatte, oder man sprach von der jungen Witwe des Mannes, die, wie einige wussten, aus Venedig stammte. Als schließlich die Beerdigung anstand, sah man in St. Nikolai einen schier endlos langen Trauerzug. Alle hohen Herren und ihre Familien hatten sich eingefunden, um dem Gottesdienst beizuwohnen, und wer nicht zu den Bekannten und Freunden gehörte, wollte wenigstens dabei sein, um einen Blick auf den so schön geschmückten Sarg zu werfen.

Nach diesem Ereignis war es Sonntag geworden, und es gehörte zu den Freuden seiner Tante, dass er sie zur morgendlichen Messe begleitete. Er tat es ihr zu Gefallen, nicht etwa, weil er die Predigten übermäßig schätzte, die Caspar Mauritius von der Kanzel unter das Kirchenvolk ausschickte. Für die Zeit, da Elsbeth auf seinen Arm gestützt ging und er sie nach St. Jacobi zu ihrem Platz führte, war es für sie beinahe, als habe das Leben ihr verspätet doch noch zu einem Sohn verholfen. Der Pastor empfahl die Seele des verstorbenen Ratsherrn der göttlichen Gnade, und Ulrich dachte, wie bestenfalls eine Handvoll Leute nach seinem Bericht sich Gedanken anderer Art über diesen Tod machte. Er nahm innerlich Abschied von dem rätselhaften Aussehen des Leichnams und von dem noch rätselhafteren kalten Licht, bei dessen Anblick das versammelte Kirchenvolk wohl einen Teufelsspuk ausgemacht hätte.

Die jungen Leute hatten sich den Sonntagnachmittag zur Zerstreuung und allerlei fröhlichem Zeitvertreib eingerichtet, und es tat ihm gut, mit Agnes und Gerdt Freunde zu besuchen. Einige aus der geselligen Runde, die so zusammenkam, waren im gleichen Alter und er kannte sie zum Teil noch aus Kindertagen. Seine Tante setzte sogar gewisse Hoffnungen in diese Zusammenkünfte und wurde nicht müde, Ulrich zu schildern, wie vorzüglich fromm und tüchtig vor allen anderen jungen Frauen doch Gundel sei, eine der Töchter der befreundeten Familie Engelbrecht. Aber wenn Ulrich sich ihre Aufmerksamkeiten und ihr helles Lachen auch gerne gefallen ließ, so war es ihm doch nicht bedeutender als das anderer hübscher Mädchen, und keinesfalls kam ihm der Gedanke, er könne um ihretwillen für immer in Hamburg verweilen.

Die neue Woche begann für ihn nicht weniger trübe und eintönig, als die alte geendet hatte, doch am Morgen des folgenden Tages fand er alles seltsam verändert. Kaum hatte er das Kontor betreten, wurde er auch schon von Tilda aufgehalten, was für gewöhnlich der Auftakt für eine ihrer langen Belehrungen darstellte, die, wie sie wohl wusste, ihm zuwider waren. Diesmal jedoch teilte sie ihm in einem langen Wortschwall mit, dass am Abend vorher noch ein amtliches Schreiben für ihn eingetroffen und hinterlegt sei. Nachdem sie zu Ende geredet hatte, ließ sie sich diesen Brief, um die Angelegenheit noch bedeutsamer zu gestalten, umständlich vom alten Harm reichen, bevor sie ihn endlich aushändigte.

Das Siegel der Hansestadt war Ulrich bereits vertraut. Er entfaltete den Bogen und überflog rasch, was darauf geschrieben stand. Die Zeilen verhießen eine Wendung der Dinge, mit der er nicht gerechnet hatte, und plötzlich ahnte er, dass mehr darin sein mochte als nur, dass sich das Geschehen des heutigen Tages für ihn änderte. Ein Seefahrer, der auf ein unbekanntes Eiland zu steuerte ohne rechte Kenntnis von den Untiefen und Strömungen vor Ort, mochte sich ähnlich fühlen wie er in diesem Augenblick.

Soviel stand fest, dass man seinen Bericht über den Leichnam von Brempts gelesen hatte, und hohe Würdenträger im Rathaus baten ihn nun umgehend zu einer vertraulichen Sitzung, damit er ihnen auf ihre Fragen antworte.

Seiner Stiefmutter stand die Neugier ins Gesicht geschrieben. Zu anderen Zeiten hätte ihn dies nur gereizt, alles vor ihr zu verbergen, aber er war milde gestimmt und verriet zwar nicht eben viel, gab aber wahrheitsgemäß an, dass er einigen Herren im Rathaus seinen Totenbericht der vergangenen Woche erläutern solle.

Eigenartigerweise schien Johann Hesenius weder sonderlich überrascht, noch äußerte er Unmut, darüber, dass sein Sohn aufs Neue der Arbeit fern bleiben würde. Ulrich war hierüber froh, konnte sich seine Stimmung aber nicht recht erklären. Irgendwie war es, als sei das Band der festen Gewohnheiten, das zwischen ihnen bestand, eingerissen und etwas anderes, noch Unbestimmtes wäre an seine Stelle getreten.

Da er aufgefordert war, sogleich vorzusprechen, blieb keine Zeit, sich auf die angekündigte Befragung vorzubereiten, aber was er zum Tode von Brempts niedergeschrieben hatte, war fest in seinem Kopf verankert, dazu manches mehr, das ihn die Untersuchung gelehrt hatte.

Draußen hatte es inzwischen zu schneien begonnen, aber die Flocken fielen nicht sonderlich dicht und der bitterkalte Wind der vergangenen Tage war eingeschlafen. Bald stiefelte er vorbei am Dom, dessen Inneres in der alten Zeit vor der Reformation, wie man sich erzählte, so prachtvoll geschmückt war wie kein zweites Gotteshaus im Norden. Aber das lag weit zurück und bedeutete längst nichts mehr. Eine Kirche ohne Gemeindevolk hatte etwas Bedrückendes, wie Ulrich fand. Kleine Behausungen rankten am Kirchenschiff empor. Sie füllten allmählich jede Nische zwischen den Mauervorsprüngen, hässliche Anbauten, die wucherten wie schorfiger Pilz an der Rinde eines alten, kranken Baumes. Der Turm wenigstens erhob sich unverändert, hoch und trutzig ragte er auf wie ein steinerner Zwilling, den man St. Petri mit seiner spitzen Haube zur Seite gestellt hatte.

Am Ende des langen Straßenzugs, auf dem er unterwegs war, wurde er unerwartet aufgehalten. In einer aufgeregten Menschenmenge standen die Leute dicht an dicht und versperrten ihm den Weg. Inmitten des Rings, in dem Männer, Frauen und Kinder alles umstanden, sah man zwei Wagengespanne, die hoffnungslos ineinander verkeilt waren, wobei sich eines von beiden widernatürlich weit zur Seite neigte, als sei die Zeit für das Gefährt angehalten und kurz vor jenem Moment, da es zu Boden krachen müsse, alle Bewegung eingefroren. Der schlimme Unfall konnte nur einige Minuten zurück liegen. Aus der Menschentraube stiegen streitende Stimmen auf, Frauen trösteten ihre schluchzenden Kleinen und in das allgemeine Gemurmel mischte sich das ängstliche Schnauben und Röcheln eines verletzten Pferdes. Er mühte sich, eine Lücke zwischen den vielen Gaffern zu finden, fand mehr schlecht als recht eine Gasse, wurde zur Seite geschubst und landete kurz auf dem schneebedeckten Boden, der sich an einigen Stellen bereits schmutzig rot gefärbt hatte.

Zwischen den Beinen der Umstehenden erspähte er das gescheckte Fell eines der Zugpferde. Das Tier war gestürzt und lag hilflos auf einer Seite. Von Zeit zu Zeit zuckten seine Hinterläufe und in verzweifelter, sinnloser Anstrengung strampelten dann die Hufe. Nur Hals und Kopf, die noch im Geschirr steckten, vermochte es zu erheben, weiter reichten seine Kraft über die eigenen Gliedmaßen nicht. Blut trat aus den schwarzen Nüstern, und in den weit aufgerissenen Augen standen so viel Schmerz, Leid und Todesangst, wie eine Kreatur nur empfinden konnte. Eine Welle tiefen Mitleids stieg in ihm auf: Das Tier war dem Tod geweiht, und er hoffte nur, dass sich bald ein Soldat einfand, ihm mit der Muskete den Gnadenschuss zu geben.

Ulrich wandte sich ab und schaffte es endlich, sich aus dem Reigen der Menschen zu befreien. Er folgte ein Stück der kreuzenden Straße, hielt sich rechts und hatte bald den Platz bei dem Rathause erreicht. Zur Linken, an der Trostbrücke, lag die Börse, geradeaus vor ihm erstreckte sich hinter einem vergitterten Zaun die Front des Alten und Neuen Rathauses. Da er sich mit der Ordnung der Räume dahinter nicht auskannte, steuerte er auf gut Glück das Hauptportal an. Die Namen der 21 Kaiser, deren Standbilder die Fassade schmückten, hatte er sich einst als kleines Kind so spielend leicht gemerkt, dass Johann Hesenius nicht umhin konnte, väterlichen Stolz zu empfinden. Jetzt, da er über diese Schwelle treten sollte, empfand er leise Beklemmung, und er hoffte inständig, dass seine Zungenfertigkeit in den nächsten Stunden seinem Gedächtnis nicht nachstehen würde. Der Wachmann ließ ihn mit Blick auf das Amtssiegel seines Briefes anstandslos durch, doch in der Vordiele hieß man ihn dafür so lange zu warten, dass er am Ende fast schon nicht mehr glaubte, überhaupt vorgelassen zu werden. Endlich, als er längst müde geworden war, die Schnitzereien und Wandgemälde an den Wänden zu mustern, führte ihn einer der Bediensteten eine Treppe hinauf ins nächste Stockwerk. Auf halbem Weg begegneten sie einem jungen Burschen, fast noch ein Knabe, der oben auf einer Leiter stehend, in einer engen Nische den Wandputz säuberte oder für eine neue Bemalung vorbereitete. Hinter der Tür, auf die sie zugingen, schien eine lebhafte Debatte im Gange zu sein, denn er hörte widerstreitende Stimmen.

Dann durfte er eintreten, und Ulrich atmete ein wenig auf. Dies war nicht der große Ratssaal, in dem eine Hundertschaft von Bürgern und Kaufleuten Platz fand, sondern eine viel kleinere Stube, in der sich genau elf Herren aufhielten. Wenn es hier zuvor eine Sitzordnung gegeben hatte, so war sie jetzt, in der Pause, die gerade herrschte, aufgelöst worden. Vor den Fenstern standen die Beteiligten in kleinen Gruppen, und man unterhielt sich gerade über die verschiedensten Dinge.

In dem größeren Pulk rechts sah er Lengsdorp, der seine Zuhörer mit einem launigen Schwank erheiterte. Irgendein leichtgläubiger Trottel hatte sich nach seiner Erzählung übervorteilen lassen und Delfter Steingut zum Preis von echtem Chinaporzellan angekauft, und die Runde amüsierte sich allenthalben über so viel Unbedarftheit.

Als er Hesenius bemerkte, kam der Kaufmann mit jenem gewinnenden Lächeln auf ihn zu, dass Ulrich schon kennengelernt hatte. Lengsdorp bedankte sich, dass Ulrich so rasch erschienen war. Er lobte voll Überschwang die Gründlichkeit seines Totenberichts, wie auch die Umsicht, mit der er den Bericht über das seltsame Licht davon gelöst und ganz für sich beschrieben hatte.

Erstaunt vernahm Hesenius, wie die Ergebnisse seiner Beschau die hohen Herren in nicht geringe Aufregung und Verlegenheit gestürzt hatten und wie sie sich anschließend beraten und mehrheitlich zu dem Beschluss gekommen waren, die Angelegenheit sei hinreichend bedeutsam, sie in einem kleineren Ausschuss weiterzuverfolgen.

Außer ihnen beiden, so flüsterte Lengsdorp ihm zu, kannten in diesem Raum nur Joachim Borsfeld, dem die Wedde unterstand, und Hieronymus Schilling, der als Ältester den Ausschuss führte, auch den Sonderbericht über das seltsame Leuchten, den er, Ulrich, aufgeschrieben habe, dazu noch Nicolaus Jarre, der Bürgermeister, der jedoch seiner vielen anderen Aufgaben wegen im Ausschuss nicht zugegen war.

Da Lengsdorp seinem gelehrten jungen Freund, wie er Ulrich bisweilen zu nennen pflegte, nunmehr die wichtigsten Dinge mitgeteilt hatte, übernahm er es, ihn mit den übrigen Anwesenden bekannt zu machen. So wurde Ulrich nacheinander den Ratsherren Harderust, Bruwer, Ker-kring und Mölln vorgestellt, die alle ihren schwarzen Ornat mit dem großen Mühlsteinkragen trugen. Der Talar von Schilling war zudem mit grauem Pelz besetzt, was dem weißhaarigen Mann, der aber unverkennbar noch mitten im Leben stand, unter den in der Ratsstube Versammelten heraushob und seine natürliche Autorität und Würde unterstrich.

Moritz Rinck, ein Kaufmann, der ebenso wie Lengsdorp nicht dem Rat angehörte, jedoch wie dieser ein enger Freund des verstorbenen Heinrich von Brempt gewesen war, lächelte ihm bei der Begrüßung aufmunternd zu. Dem älteren, beleibten Borsfeld, dessen rundes Gesicht fortlaufend von Lachfältchen gerunzelt wurde, stand ein bedeutend jüngerer, desto ernster dreinblickender Adlatus zur Seite. Cunradus Haich, wie er vorgestellt wurde, versprühte für Ulrich erkennbar Ehrgeiz und den Willen, fest zuzupacken, wenn es gegeben schien. Einfache Gemüter hätten seine Erscheinung einfach als finster beschrieben. Ulrich fand sogleich, dass der andere für die Kunst des Verhörs geeignet schien wie kein Zweiter unter den Anwesenden. In dem Gesicht, das von eindrucksvoll langem Haupthaar umrahmt war, standen dichte Augenbrauen, die zudem leicht zusammengewachsen waren und überwölbten ein waches Augenpaar. Das Dunkle dieser Augen erschwerte es anderen, in ihnen zu lesen, was seinen Blick bohrend machte und ihn selbst unnahbar wirken ließ.

Lorentz Nybur, ein Rechtsgelehrter mit unbewegtem Gesicht, und Cornelis van’t Hok, eine überaus hagere, fast dürre Gestalt mit Adlernase und kräftigem Schnurrbart, vervollständigten die Runde, der er gegenüber stand. Van’t Hok, der ein Paar Augengläser trug, war als erster Schreiber in der Wedde Borsfeld und Haich unterstellt. Seine Aufgabe hier bestand denn auch darin, das Protokoll zu führen. Er notierte beinahe unentwegt, was vorgetragen wurde, versagte sich aber angesichts dieser Beschäftigung eigene Fragen zu stellen.

Die Herren nahmen nach der vorherigen Unterbrechung ihre Plätze an der großen Tafel im Raum wieder ein und während Ulrich ihnen gegenüber stand, sollte die Sitzung fortgeführt werden. Lengsdorp sprach eine kurze Einleitung, in der er hervorhob, wie in Ulrichs Bericht einige beunruhigende Dinge geschildert seien, welche sonst bei keinem der drei weiteren Ärzte Erwähnung fanden. Aus diesem Grund sei man nunmehr hier zusammengekommen, um die Angelegenheit gemeinsam weiter zu erörtern. Er bedankte sich noch einmal im Namen aller Anwesenden, dass Ulrich sich so rasch für ihre Fragen zur Verfügung gestellt hatte.

Cunradus Haich, der Hesenius seit dessen Eintritt in den Saal nicht aus den Augen gelassen hatte, richtete sich gleich zu seiner ersten Frage auf. „Zunächst würde ich gerne hören, wie Ihr eigentlich dazu kamt, über die Beschau des Toten, die Euch als einziges aufgetragen war, hinaus weitere Untersuchungen vorzunehmen, Untersuchungen, die niemand verlangt hatte und die, wie ich leider feststellen muss, zuvörderst in den Amtsbereich der Wedde fallen“, erklang sein Vorwurf.

„Ihr werdet meine Unwissenheit über die genauen Zuständigkeiten in diesen Dingen wohl nicht als Entschuldigung gelten lassen“, gab Ulrich zurück, „aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass am Tag, an dem die Beschau vorgenommen wurde, niemand von der Wedde zugegen war, den ich hierfür hätte um Erlaubnis fragen können. Vielmehr war es so, dass der Tote in den Räumen der Stadtwache aufgebahrt lag, und da es überdies Soldaten des Regiments gewesen waren, die von Brempt gefunden hatten, schien es mir rechtens, die Erlaubnis des Hauptmanns vor Ort einzuholen, um mit einem seiner Männer noch eine weitere Erkundung vorzunehmen. Die Untersuchung der Kleider des Toten war schon allein deshalb notwendig, weil die Wundverteilung am Körper selbst schwer zu erklären war.“

Schilling schien die Richtung, in die Haich mit seiner Frage zielte, zu missbilligen und er unterbrach mit einer kurzen Handbewegung, noch ehe dieser eine weitere Anmerkung hinterherschicken konnte.

„Wir wollen hier nicht über den Eifer eines jungen Mannes richten“, tadelte er, „denn dass wir hier überhaupt in diesem Ausschuss versammelt sind, hat seine Ursache darin, dass wir für bedenkenswert halten, was aus diesem Eifer erwachsen ist. Wäre es nicht so, müsste man uns einen Haufen einfältiger Narren schimpfen, da wir darüber beraten, meint Ihr nicht?“

Haich wollte wohl etwas erwidern, aber Borsfeld flüsterte ihm einige Dinge ins Ohr, die ihren Eindruck auch nicht verfehlten, denn er blieb für diesmal stumm.

„Bei alledem“, fuhr Ulrich fort, „war es einfach mein Bestreben, über gewisse Dinge, die mir bei der Untersuchung aufgefallen waren, Klarheit zu erlangen. Wenn ich auch das meiste nicht enträtseln konnte, so fand ich umgekehrt doch Hinweise darauf, dass die Art der Verletzung und der weitere Zustand des Leichnams nicht recht mit dem angenommenen Unfallhergang übereinstimmen wollten, und ich hielt es für meine Pflicht, dies in Ausführung meiner Aufgabe mitzuteilen.“

„Nun, für mein Teil schien mir die Vermutung, von Brempt sei einfach nur von dieser Brücke gestürzt, durchaus einleuchtend. Bedenkt doch nur die Eisglätte und den kräftigen Wind in jener Nacht“, ließ sich Ratsherr Bruwer vernehmen, „Wollt Ihr, für uns alle verständlich, noch einmal erklären, warum Ihr diese allgemein verbreitete Sicht der Dinge nicht teilen wollt?“

„Da wäre zum einen die Schädelverletzung, welche den Tod herbeiführte und die ich mir nicht durch einen Sturz erklären kann“, begann Ulrich. „Wohl wurde der Schädelknochen durch einen schweren Schlag zertrümmert, die Wunde lag jedoch recht weit unten am Hinterhaupt. Wollten wir annehmen, sie sei bei einem Sturz kopfüber entstanden, wobei der Schädel als Erstes auf der Eisdecke aufprallte, so hätte dies meiner Ansicht nach einen Genickbruch zur Folge haben müssen. Der Hals war aber ganz unversehrt!“

„Könnte der Hinterkopf nicht unglücklich auf der Kante einer Eisscholle oder auf einem anderen Hindernis aufgeschlagen sein?“, wandte Schilling ein.

„Eben dieser Gedanke verfolgte mich auch, weshalb ich in Begleitung des Soldaten Krayenbrink – einem der Männer, die in der Nacht zuvor den Leichnam fanden – den Schauplatz unter der Fleetbrücke untersuchte. Er konnte sich gut erinnern, wie der Körper gerade vor der Brückenmitte auf dem Rücken gelegen hatte, und da wir an dieser Stelle das Eis vom Schnee befreiten, entdeckten wir, wie es eben dort tatsächlich von einem Riss durchzogen war. Dieser Sprung im Eis muss entstanden sein, als der fallende Körper aufprallte! Wir wissen also um die genaue Lage des Toten. Das Fleeteis dort war bis auf ein einziges Hindernis, welches herausragte, völlig glatt. Auf diesem Grat jedoch kann der Hinterkopf wiederum nicht aufgeschlagen sein, da er von Schnee bedeckt und unberührt da lag!“

Alle schwiegen hierauf und er spürte, wie sie in Gedanken den Widerspruch erwogen, den er vorgebracht hatte.

„Ihr räumt aber nach eurer Schilderung ein, dass der Ratsherr von der Mitte der Fleetbrücke stürzte?“, fragte Haich schließlich.

„Sein Körper fiel von dort oben, doch denke ich nicht, dass er unglücklich gestürzt ist!“

„Wie?“

„Als ich an jenem Abend mit dem alten Soldaten die Brücke aufsuchte, war es in der Tat mühsam, sie zu betreten, denn die Bohlen waren rutschig und …“

„Nun, Ihr sagt es doch selbst!“, fuhr Haich dazwischen, aber Ulrich ließ sich nicht beirren und fuhr fort, „ … und ich drohte beim Begehen der Brücke ebenso auszugleiten, wie es mir Stunden vorher auf der Hohen Brücke vom Hafenkai zum Schaarmarkt passiert war. Sie ist nun freilich viel länger und breiter, aber doch auf gleiche Weise bogenförmig ausgeführt, so dass ein jeder, der sie überquert, hier wie dort, erst ein Stück Weg aufwärts zu gehen hat, wohingegen man zum anderen Ufer hin auf die gleiche Weise wieder abwärts schreiten wird.“

„Ich denke, ein jeder hier im Raum weiß eine Brücke zu überqueren“, spottete Haich.

„Oh, ganz zweifellos. Ich merkte mir aber an jenem Tag besonders folgende Begebenheit: Nur so lange ich aufwärts oder mehr noch auf der anderen Seite wieder hinunter schritt, lief ich tatsächlich Gefahr zu stürzen. Nahe dem Scheitelpunkt des Brückenbogens, also auf meines Weges Mitte, konnte ich ohne Steigung oder Gefälle sicher und geschwind ausschreiten. Deshalb“, erklärte Ulrich und richtete dabei seinen Blick auf den hartnäckigsten Fragesteller im Raum, „deshalb will es mir nicht einleuchten, dass der Ratsherr ausgerechnet auf der Brückenmitte das Gleichgewicht verloren haben soll!“

„Aber der Hut“, warf Ratsherr Harderust ein, „sein Hut wurde an der gegenüberliegenden Böschung gefunden. Er wurde ihm vielleicht durch einen heftigen Windstoß vom Kopf gerissen, und als er sich vorbeugte, ihn wieder zu ergreifen …“

„Nein, das ist nicht gut möglich!“

Alle starrten ihn an und in ihren Blicken las er den drängenden Wunsch, dass sie erfuhren warum.

„Die Hutkrone trug an ihrer Innenseite eine Blutspur, die ohne Zweifel von der blutenden Kopfwunde herrührte. Wäre der Hut unmittelbar vor dem Sturz davon geweht, wie Ihr vorschlagt, hätte er aber völlig unbefleckt sein müssen. Er kann also erst hinterher in die Böschung geraten sein!“

Er blickte in die Gesichter der Elf, und ihre Mienen wirkten jetzt unsicher und schwankend, wenn nicht ratlos.

„Da ist noch etwas Merkwürdiges, junger Mann“, ergriff Nybur das Wort. „Wenn wir das Rätsel dieses Huts und der tödlichen Schädelwunde einmal außer Acht lassen, so schreibt Ihr in eurem Bericht, das Fehlen weiterer Wundmale am Körper spräche gegen einen tödlichen Sturz!“

„Richtig“, fiel Haich triumphierend ein, „und vorhin gerade sagtet Ihr, er sei von dort oben gefallen – wollt Ihr uns diesen Widerspruch vielleicht erklären?“

„Es ist dies nur dann ein Widerspruch, wenn wir annehmen, dass ein Lebender von dieser Brücke stürzte, ich aber denke, dass von Brempt bereits tot war, als er fiel und dass jemand anderer seinen Leichnam von der Brücke auf das Fleeteis warf!“

Es war ein unerhörter Satz, den er gesprochen hatte. War es bis hierhin noch weitgehend ruhig und gesittet zugegangen im Ausschuss, so riefen nun alle wild durcheinander. Die einen bestürmten ihn sogleich mit weiteren Fragen, ohne achtzugeben auf die Nachbarn am Tisch, die gleichfalls mehr wissen wollten. Andere aus der Versammlung mussten einfach nur ihrer Überraschung Ausdruck geben und riefen diese laut heraus. Schilling hatte Mühe, die Gemüter soweit zu beruhigen, dass Hesenius fortfahren konnte in seiner Antwort.

„Ich schrieb, es sei ausgeschlossen, dass ein solcher Sturz, gut zwei Klafter tief auf harten Grund, nicht auch an anderer Stelle, sei es an Armen, Beinen oder am Rumpf, weitere Male hinterlassen hätte. Ein jeder von Euch Herren kennt dies: Wer einen wahrhaft schweren Stoß erleidet, wird alsbald auch eine schmerzhafte Beule an der betroffenen Stelle fühlen! Das Blut ergießt sich aus geplatzten Äderchen und tritt in das umliegende Gewebe aus, welches erkennbar anschwillt. Die Körpersäfte im Gewebe eines Toten jedoch verhalten sich nicht länger so: Einige Zeit nach dem Ableben wird man feststellen, dass die Haut des Toten kaum noch sichtbare Wundmale annimmt, selbst wenn sie übel misshandelt wird. Da der Sturz zweifelsfrei erfolgt ist, die dazugehörigen Prellungen und Abschürfungen der Haut jedoch fehlen, glaube ich, die einzig mögliche Erklärung für alles liegt darin, dass von Brempt zum Zeitpunkt, da sein Körper auf die Eisdecke prallte, bereits tot war!“

Auch hierauf sprachen wieder alle durcheinander, aber es war mehr ein allgemeines Gemurmel oder gar ein Geflüster, bei dem die Herren die Köpfe zusammensteckten, sich untereinander austauschten und ihre Ansichten und Meinungen verglichen.

Moritz rinck, der Ulrichs Ausführungen bis hierhin wohlwollend zugehört, dabei aber mehr geschwiegen hatte als die meisten, reckte sein fülliges Haupt aus dem Kreis der anderen empor und richtete endlich auch das Wort an Ulrich.

„Junger Hesenius, Ihr habt uns manches vor Augen geführt, was nicht recht zusammenpassen will, und soeben einen ganz unerhörten Ablauf der Dinge angedeutet. Wenn Ihr in dieser Begebenheit, über die wir heute beraten, alles zusammennehmt und eure Schlussfolgerung zieht – was glaubt Ihr, könnte Heinrich von Brempt an jenem Abend tatsächlich zugestoßen sein?“

Bruwer, Mölln und andere fielen ein und bald verlangten alle, dass Hesenius offenbarte, wie die düstere Begebenheit vonstattengegangen wäre.

Ulrich sammelte seine Gedanken. Es war wichtig, dass er auch jetzt die richtigen Worte fand.

„Ehe ich versuche, den Ablauf zu schildern, so wie sich mir alles darstellt, möchte ich die Herren bitten, jenen Teil meines Berichts hervorzukehren, der die Verteilung der Totenflecke beschreibt. Ich bitte diese Blutmale nicht misszuverstehen: Es sind keine Wunden, sondern einfach Stauungen des Blutes unter der Haut, welche nach dem Tod einsetzen. Da das Herz nicht mehr schlägt, endet der ständige Kreislauf des Blutes, und es sinkt ab, so wie es Flüssigkeiten sonst überall zu eigen ist. An von Brempts Leichnam war die Haut jedoch vor allem an Kopf, Armen und Beinen blutunterlaufen, so als wären diese Teile nach dem Tod tiefer gelegen als der restliche Körper: Ich habe lange nach einer Erklärung hierfür gesucht und glaube sie heute geben zu können.“

„Wurde diese blutunterlaufene Haut auch von anderen bemerkt?“, unterbrach ihn Haich, der vor der Sitzung offenbar nicht alle Berichte gelesen hatte. Bruwer, Mölln und andere am Tisch versicherten ihm, wenigstens Doktor Winckel und der Regimentsarzt Scharf hätten die gleiche Beobachtung niedergeschrieben, jedoch ohne hieraus weitere Schlüsse zu ziehen.

„Nach meiner vorherigen Darlegung wird es wohl niemanden hier überraschen, wenn ich sage, dass Heinrich von Brempt nicht an der kleinen Fleetbrücke gestorben ist. Den Ort, wo er umkam, kennen wir nicht, aber ich werde gleich erläutern, dass er ein gutes Stück Weg entfernt war von dort, wo man den Leichnam später auffand.

Der Ratsherr ist an diesem Abend also allein unterwegs, vermutlich auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie. Irgendwo unterwegs lauert ihm jemand auf. Von Brempt wird, dafür spricht die Lage der Schädelwunde, vermutlich hinterrücks erschlagen – mit einer stumpfen Waffe oder auch nur einem schweren Knüppel und fällt zu Boden.

Doch nun geschieht etwas Seltsames: Der Unbekannte, oder vielleicht sollten wir besser sagen, die Unbekannten, denn ich halte es für wahrscheinlich, dass die Tat wenigstens von zwei Schurken verübt wurde, berauben ihr Opfer nicht etwa und verschwinden wieder – nein, sie lassen den Geldbeutel und auch die anderen Dinge von Wert, die der Ratsherr bei sich trägt, unangetastet. Irgendwie scheinen sie erschrocken über ihre eigene Mordtat: In der ersten Regung versuchen sie den Körper auf plumpe Art zu verstecken. Sie zerren ihn in ein Gebüsch oder etwas Ähnliches.“

„Habt Ihr einen Beweis für diese Behauptung?“, warf Haich zweifelnd ein.

„Sofern Kleidung und Hut des Toten, wie von mir angeraten, sorgfältig aufbewahrt wurden, werdet ihr daran vielerlei Schlieren finden, weniger am Beinkleid, wohl aber am Mantel, dazu verkrusteten Schmutz, der sich tief unter dem Kragen verfangen hatte.“

„All das könnte ebenso erst später entstanden sein, durch das unachtsame Betragen der Männer, die ihn schließlich fanden.“

„Oh nein! Die drei Soldaten, die von Brempts Leiche fanden, führten eine einfache Tragbahre mit sich, auf dass sie im Notfall einen Verletzten bergen konnten. Einer von ihnen, der alte Krayenbrinck, versicherte mir, dass sie den toten Ratsherrn in der Nacht ohne Unschicklichkeit aufluden und forttrugen. Der Mann sprach aufrichtig. Ich bin sicher, dass diese einfachen Menschen auch über den Tod hinaus Ehrfurcht und Scheu vor dem hohen Amt und der Würde eines Ratsherrn bewahrt haben. Folglich waren es von Brempts Mörder, die ungewollt seine Kleider verunstalteten.“

Haich machte eine Handbewegung, dass Ulrich fortfahren möge.

„Einer von ihnen packt das Opfer also an den Stiefeln, hebt die Beine hoch und zerrt es ein Stück weit hinter sich her. Von der scheußlichen Behandlung ist der Pelz nun ordentlich beschmutzt, und allenthalben werden Schnee, Erde, Blätter und kleine Äste unter den Kragen gekehrt. Von Brempts Hut hat sich unterdessen von seinem Kopf gelöst. Als der Getötete im Gebüsch liegt, probieren die Täter, den Hut wieder aufzusetzen. Der Haarfilz wird dabei mit dem Blute beschmiert, das aus der Schädelwunde austritt. Nach dieser ganzen überhasteten Anstrengung aber überlegen die Täter es sich anders. Sie beschließen, dass alles wie ein tragisches Unglück aussehen soll, ein einfacher, folgenschwerer Sturz, wie er sich mitunter bei winterlicher Glätte ereignet, und als Ort hierfür wählen sie die Anhöhe der kleinen Fleetbrücke, weil diese so einsam gelegen ist, dass sie dort ungestört alles herrichten können.

Doch auf dem Weg dorthin muss ihr Opfer – und es ist ein stattlicher Mann, den sie gefällt haben – getragen werden. Ihr werdet fragen, wie sie dies bewerkstelligten? Nun, es eignet sich besser zu zeigen als dass man versucht, es in Worte zu fassen. Mit Erlaubnis des Vorsitzenden Ratsherrn Schilling und aller anderen hier, würde ich gern für einige Augenblicke jemand von außen zu uns herein bitten, einzig für eine stumme Vorführung.“

Schilling blickte nicht weniger überrascht als alle anderen, aber da er in die Runde schaute und niemand Einwände erhob, nickte er schließlich und bedeutete Hesenius mit einer Handbewegung, er möge sein Glück versuchen, hinter der Türe jemanden zu finden für seine Zwecke.

Ulrich huschte also hinaus, und es dauerte keine Minute, da sah man ihn wieder eintreten mit eben jenem Handwerksburschen aus dem Treppenhaus, der nun von seiner hohen Leiter gestiegen war. Er stellte den jungen Jean vor, dessen Eltern aus La Rochelle den Weg nach Hamburg gefunden hatten, und alle sahen, dass Hesenius ihn vor allem anderen gewählt hatte, da er klein und leicht war und er sich folglich gut eignete, getragen zu werden. Auf Ulrichs Anweisung hin stand er ganz still und ließ alles folgende mit sich geschehen. Ulrich ergriff seinen rechten Arm oberhalb des Handgelenks und hob ihn ganz in die Höhe. Dann duckte er sich, ging ein Stück in die Hocke, und als er sich wieder aufrichtete, trug er den Jungen, dessen Körper nunmehr bäuchlings über Nacken und Schulter geworfen war. Sein linker Arm umfasste die herunterbaumelnden Beine, mit der Rechten hielt er weiterhin des Jungen Unterarm gepackt, so dass der Getragene nicht herunterrutschen konnte. Alle am Tisch staunten ob dieses Anblicks, und Ratsherr Brouwer sprang, von Erregung gepackt, so hastig auf, dass er seinen Stuhl umwarf.

Ulrich tat, bepackt mit seiner menschlichen Last, einige Schritte, machte kehrt und ging wieder zurück und bat die anwesenden Herren nur darum, sich die Einzelheiten der ganzen Haltung einzuprägen. Als er den jungen Jean wieder absetzte, sah man, wie diesem leicht schwindelte, da er zuvor kopfüber gehangen hatte und nun, da er wieder aufrecht stand, das vermehrt in den Kopf gestiegene Blut wieder von dort abfloss. Ulrich bedankte sich bei seinem Gehilfen für sein Mitwirken und führte ihn anschließend wieder zur Tür hinaus, ohne dass der Junge sich auf das gerade Erlebte einen Reim machen konnte. Wenn er erst wieder oben auf seiner Leiter stand, würde er sich recht ausgiebig wundern über die Grillen der hohen Herren hinter der Saaltür.

Als Ulrich wieder vor die Ausschussmitglieder trat, verstummte das Flüstern, mit dem sie ihre Eindrücke untereinander austauschten. Niemand stellte zweifelnde Fragen, und er konnte ungestört fortfahren in seinem Bericht: „Was wir eben gesehen haben, erklärt alles, was an von Brempts totem Körper sonst noch auffällig war: die ungewöhnliche Verteilung der Totenflecke an Armen, Beinen und Gesicht, die unterbrochene Rotfärbung der Haut oberhalb des Handgelenks, wo jemand den Arm fest gepackt hielt, und sogar die drei kleinen Wundmale dort, die ich bei der Aufzählung der Verletzungen in meinem Bericht erwähnte und deren Ursache mir lange Zeit unklar blieb.“

Nybur, der offenbar über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte, warf für die Anwesenden kurz ein, dass der Regimentsarzt dieselben Male auch in seinem Bericht aufgeführt hatte.

„Es waren ganz einfach die Fingernägel desjenigen, der den Getöteten trug. Sie gruben sich, während der Unterarm gepackt wurde, post mortem in Haut und Fleisch. Ich kann nicht sagen, wie lange dieser schaurige Transport dauerte, aber er verrät uns einiges über von Brempts Mörder. Der Ratsherr war, wie schon erwähnt, um vieles schwerer als der kleine Jean, den ich eben, gleichsam passend zu meiner eigenen Körperkraft, wählte. Wer immer den Toten auf diese Weise hochheben und forttragen konnte, muss von wahrhaft großer und sehr kräftiger Gestalt sein. Ebenso ist die Hand dieses Riesen überaus groß, da sie auf halber Länge des Unterarmes das Austreten des Blutes unter der Haut durch das Zupacken verhinderte. Dieser Hüne, nun er muss, wie gesagt, wenigstens einen, vielleicht auch mehrere Helfer zur Seite haben, er geht also hinter dem anderen her, der vorausspäht, in der Dunkelheit, achtgibt auf den Weg und hier und da mit der Laterne leuchtet und die Richtung weist. Nachdem sie so heimlich marschiert sind, gelangen sie endlich zu dem kleinen Fleet, begeben sich zur Mitte der Brücke und lassen den Leichnam von dort oben hinunter fallen auf die schneebedeckte Eisfläche. Des Ratsherrn Hut aber stecken sie unten an der Böschung gut sichtbar zwischen die Zweige eines Busches, damit er nicht auf Nimmerwiedersehen davon weht, sondern gleichfalls gefunden wird.“ Alles schwieg und ein jeder schien in Gedanken dumpf vor sich hin zu brüten, als er geendet hatte.

„Bei Gott Hesenius“, flüsterte Rinck für sich und war dabei doch laut genug, dass alle es hörten, „ich glaube fast, Ihr habt in allem recht. Unser guter Heinrich, wenn wir doch nur wüssten, …“ Er beendete den Satz nicht, doch allen war es gewiss, dass er nach denen fragte, die ein solches Verbrechen begangen hätten.

„Ein Letztes noch, ihr Herren“, nahm Ulrich seine Rede noch einmal auf, „es mag einigen hier schwerfallen, das Geschehen so zu betrachten, wie ich es tue, denn es hieße, wir hätten einen abscheulichen Mord aufzuklären anstatt dass wir einfach nur ein Unglück betrauern, wie anfangs ein jeder – ich selbst eingeschlossen – dachte. Der Ablauf der Dinge, so wie ich ihn eben zu schildern und zu zeigen versuchte, erklärt aber nicht nur vieles, was sonst unverständlich bliebe, es erübrigt auch ganz und gar eine Frage, die sonst unvermeidlich zu stellen wäre: Welchen Grund hätte Heinrich von Brempt gehabt, nächtlich diese abgelegene Brücke aufzusuchen? Dahinter sind bestenfalls verschneite Felder oder weiter östlich das große Alsterfleet zu finden.“

Nicht jeder schien sich bislang diese Frage gestellt zu haben, aber nun, da Ulrich sie offen ausgesprochen hatte, grübelten sie vergeblich, und die Lösung, so wie Ulrich sie vorgegeben hatte, stand ihnen nur umso deutlicher vor Augen.

„Nun gut“, verkündete Schilling und blickte sich bedächtig um, „wenn von den Anwesenden niemand eine weitere Frage hat …?“

Er blickte nacheinander alle an, doch niemandem wollte neuerlich etwas einfallen. Selbst Haich, der sonst nicht um Einwände gegen Ulrichs Rede verlegen war, biss sich schweigend auf die Lippen.

Schilling brach das allgemeine Schweigen: „Die Versammlung bittet den jungen Hesenius jetzt, uns einige Minuten allein zu lassen, damit wir weiter in vertraulicher Runde beraten können. Ihr werdet anschließend unseren Beschluss in dieser Sache vernehmen.“

Lengsdorp, der während der langen Befragung das eine oder andere Mal versteckt geschmunzelt hatte, wenn Ulrich die Fragen anderer parierte, schien überaus zufrieden mit dem Verlauf der ganzen Unterredung. Er führte Hesenius zur Tür, bat ihn um etwas Geduld und setzte verschwörerisch flüsternd hinzu, er möge, falls er von den Herren um einen weiteren Dienst gebeten werde, einfach nur mit einem vernehmlichen „Ja“ antworten.

Und so wartete Ulrich vor der Amtsstube, zog sich dabei aber soweit zurück, dass seine Ohren nicht weiter hören konnten, was drinnen gesprochen wurde. Wohl vernahm er noch, wenn jemand laut genug die Stimme erhob, und so war ihm einmal, als würden Haich und Lengs-dorp Worte wechseln, oder die dunklen Bassstimmen von Schilling oder Bruwer fielen ein und schallten herüber zu ihm.

Er wünschte sich bald eine der guten Taschenuhren, wie sie vermutlich ein jeder dieser Herren bei sich trug, um seine Ungeduld in Minuten abzumessen, aber nachdem solcherart die Zeit für ihn zäh dahin geflossen war, wurde er schließlich doch, wie angekündigt, hereingebeten, und nun gingen die Dinge auf einmal so rasch vonstatten, dass er das Gefühl bekam, er müsse nur gleichsam auf einen Wagen aufspringen, der längst begonnen hatte zu rollen.

Nybur war aufgestanden und trug ihm den Beschluss der Runde vor. Der Ausschuss sehe sich verpflichtet, sprach er, wegen der ungeklärten Umstände, welche den Tod Heinrich von Brempts überschatteten, weitere umfassende Aufklärung anzugehen, nach Schuldigen eines möglichen Verbrechens zu suchen und diese, wenn möglich, einer gerechten Bestrafung zuzuführen.

„So ergeht unsere Bitte an den hier anwesenden Ulrich Hesenius“, schloss er seine kurze Rede, „welcher durch seine Vorarbeit wesentlich zu unseren Erkenntnissen beigetragen hat, sich weiterer Ermittlungen anzunehmen. Und daher frage ich Euch: Wäret Ihr gewillt, diese Aufgabe als die eure anzunehmen und dem Rat der Stadt Hamburg hierin mit eurem Wissen und euren Fähigkeiten zu dienen?“

Wenn Ulrich anfangs während der Befragung Aufregung verspürt hatte, so war sie doch rasch gewichen, da er in jedem Moment zu antworten vermochte, wie es ihm Klugheit und Wissen eingaben. Doch nun, da man im Begriff stand, eine Verantwortung auf seine Schultern zu laden, wie er sie zuvor nie getragen hatte, wollten die Worte nicht recht über seine Lippen kommen. Er blickte unschlüssig zu Lengsdorp hinüber, der unmerklich nickte, und hörte sich endlich sagen: „Ihr Herren, wenn es dem Wunsch des Rates entspricht, so bin ich bereit!“

Ein zustimmendes Gemurmel erhob sich daraufhin in der Runde. Abgesehen von Haich, der seine Stimmung nicht nach außen kehrte, schien ein jeder über diesen Ausgang der Sitzung erleichtert. Borsfeld machte ein überaus zufriedenes Gesicht, und Moritz Rinck wollte ihm sogleich die Hand schütteln.

„Wenn die Herren erlauben“, meldete sich van’t Hok, der zuvor so stille Protokollführer, zu Wort, „und bevor wir die Versammlung auflösen, gebe ich Folgendes zu bedenken: Sofern der junge Hesenius tatsächlich recht haben sollte mit seinen Vermutungen, hätten wir es mit einem abscheulichen Verbrechen zu tun und die Suche nach den Schuldigen könnte am Ende für ihn zu einer allzu gefährlichen Unternehmung geraten. Daher sollte er, ehe wir uns allzu rasch seiner Dienste versichern, noch einmal Gelegenheit haben, sich zu bedenken!“

Ulrich war, nachdem er einmal soweit gekommen war, entschlossen, den neuen Einwand abzuwehren, aber Lengsdorp, der nachdenklich dreinschaute, wusste die Sache anders anzugehen.

„Mir scheint, unser Schreiber hat vollkommen recht. Wenn wir auch nach unserem Willen einen Ermittler bekommen haben, so mag es bei dieser Aufgabe am Ende gar bedrohlich zugehen, was wir nicht ausreichend bedacht haben. So wie ich den jungen Hesenius einschätze, wird er freilich von der einmal übertragenen Aufgabe nicht zurücktreten wollen, und doch stehen wir alle hier auch in der Verantwortung für seine Sicherheit. Ich schlage daher vor, ihm jemanden zur Seite zu stellen, der unerschrocken und erfahren ist und auf dessen Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit wir bauen können. Borsfeld, Ihr habt doch gewiss einen Wächter in euren Reihen, der geduldig zu folgen versteht, aber im Notfalle ebenso hart zuschlagen kann, wie?“

„Meine Leute stehen alle im Dienst. Ich habe kaum genug, die vielen Märkte und des nachts alle Rundgänge zu beschicken“, antwortete der Weddeherr, „aber unter den ausgemusterten Veteranen wiederum würde sich mancher über solch ein kleines Zubrot freuen. Ihr bekommt also euren Mann, wenn alle hier dies wünschen.“

Niemand erhob Einwände. Auch Hesenius, der noch ein wenig betäubt schien von der Plötzlichkeit, mit der sich die Aufgaben in seinem Leben verändert hatten, nahm den Beschluss hin, ohne recht zu wissen, ob ihm dieser nun gefiel oder nicht.

Nachdem Schilling die Versammlung für beendet erklärt hatte, verabschiedeten sich nach und nach alle und verließen die Ratsstube. Rinck, Mölln und Kerkring, die unter den Letzten waren, die gingen, beglückwünschten Ulrich allesamt mit warmen Worten zu seiner neuen Aufgabe und wünschten ihm ein gutes Gelingen.

Als er mit Lengsdorp allein war, sah Ulrich den Moment für eine Aussprache zwischen ihnen beiden gekommen.

„Ihr hattet alles geplant, nicht wahr?“, begann er, „meine Vorladung für den heutigen Tag, der Beschluss, den die Versammlung fasste, das war alles euer Werk!“

„Soweit es in meiner Macht lag, ja“, antwortete Lengsdorp ehrlich, „aber ohne Euch und euer Geschick wäre es vergeblich gewesen. Ich bin ein guter Menschenkenner, Hesenius. Ich wusste spätestens, als Ihr bei unserer ersten Begegnung diesen unwirklichen, fahlen Lichtschimmer entdeckt hattet, dass ich mich nicht in Euch getäuscht hatte. In unseren Kreisen gibt es viele kluge Köpfe, aber wir haben unsere Augen und Ohren geschärft für den Handel. Wir sind klug darin, dass wir den Nutzen eines Geschäfts abmessen können, und wir haben es stets verstanden, unsere Rechte zu verbriefen gegenüber anderen, die Gleiches wollen.

Euer Scharfsinn aber kommt aus einer anderen Welt. Ihr betrachtet die Rätsel vor Euch mit den Augen der Wissenschaft, weshalb Ihr Dinge aufspürt, die anderen verborgen bleiben – und das ist es, was uns vielleicht helfen wird, den Tod meines Freundes aufzuklären.“

„Haich denkt nicht so, und wer weiß, am Ende könnte er sogar recht behalten. Was wird sein, wenn ich keinen Hinweis auf die Mörder unseres Ratsherrn finden kann? Wie, wenn ich gar die bisherigen Spuren falsch gedeutet hätte, und es doch ein Unglück gewesen ist?“

„Ich glaube so wenig wie Ihr selbst, dass Ihr in einem großen Irrtum befangen seid. Aber mein Wort darauf: Selbst wenn Ihr nichts weiter finden solltet, werde ich am Ende dennoch zufrieden sein. Ich könnte guten Gewissens vor Maria von Brempt treten, weil ich weiß, dass wir alles versucht haben, die Geschehnisse dieser verfluchten Nacht zu enträtseln.“

Ulrich wechselte das Thema: „War es schwierig, die Versammlung für meine Person zu gewinnen?“

„Durchaus nicht. Alle zeigten sich nach der Fragestunde von Euch beeindruckt. Am Ende galten die Einwände allenfalls noch eurer Jugend, und dann sprachen wir natürlich noch über die Frage des Entgelts.“

„Aber Haich …“

„Haich ist nicht dumm, und er ist eine gute Stütze für den guten alten Borsfeld, der nicht mehr allen seinen Aufgaben nachkommen kann, wie er es früher vermochte. Aber sein Ehrgeiz steht ihm häufiger im Weg, als er ahnt. Auch heute hätte er mehr Besonnenheit an den Tag legen sollen.“

„Wie habt Ihr meinen Vater dazu gebracht, eurem ganzen Vorhaben zuzustimmen?“, schoss Ulrich seine nächste Frage ab.

Diesmal war Lengsdorp so verblüfft, dass seine Miene für einen Moment wie gefroren schien und er sein übliches Lächeln gänzlich einbüßte. „Hat er es Euch gesagt? Nein, woher wisst Ihr …?“, fragte er zurück. Wohl zum ersten Mal an diesem Tag schien ihm ein Faden entglitten, den er doch fest in seinen Händen wähnte.

„Ich wusste es lange Zeit nicht“, erklärte Ulrich, „Wohl bemerkte ich heute morgen, dass mein Vater anders gestimmt war als sonst, aber eure Rolle hierbei erriet ich erst, nachdem Ihr diese Versammlung erfolgreich auf meine Dienste eingestimmt hattet. Da wurde mir plötzlich klar: Ihr würdet kaum alles so kunstfertig eingefädelt haben, wenn nicht zuvor bereits eine Abmachung getroffen wäre, dass Johann Hesenius zugunsten des Rats auf die Dienste seines Sohnes verzichtet. Ihr selbst habt ihm gestern Abend meine Vorladung zu dieser Versammlung überbracht, und anschließend – der Himmel mag wissen wie – habt Ihr meinen Vater überredet, mich nach eurem Wunsch hin für diese Aufgabe frei zu geben.“

„Und wie gut das war!“, antwortete der Kaufmann, und sein verschmitztes Lächeln war dabei wiedergekehrt. „Übrigens hält die Weinstube im Alten Rathaus nebenan einige gute Tropfen bereit und auch die Küche dort weiß manches aufzutischen, das uns munden könnte. Wenn Ihr einverstanden seid, würde ich gern alles Weitere, was zu bereden wäre, mit Euch bei einem Krug Wein und einem Stück Braten angehen.“

Ulrich war es nur recht. Er verspürte großen Appetit.

Das kalte Licht

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