Читать книгу Das kalte Licht - Ludger Bollen - Страница 9

2. Kapitel

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In welchem Ulrich eine höchst folgenreiche Bekanntschaftmacht und ärztlichen Zorn heraufbeschwört,ein Toter allerhand Rätsel aufgibt und schließlichgar ein leuchtendes Geheimnis offenbart.

Im Haus am Dovenfleet, das sein wahres Zuhause bildete, seit er im Herbst des Vorjahres von Leyden nach Hamburg zurückgekehrt war, galt es zunächst die Gemüter zu beruhigen. Elsbeth Hesenius hatte jenes Alter erreicht, in dem die Menschen unvorhergesehene Ereignisse zugleich als unheilvoll begreifen, da sie von ihnen aus ihren vertrauten Gewohnheiten geworfen werden. Seit dem Tod ihres Gatten war die fürsorgliche Natur seiner Tante, wie Ulrich bemerkte, mehr und mehr einer großen Ängstlichkeit unterworfen, und angesichts der Wendungen, die das Leben ihr und ihren Anverwandten bereitet hatte, fürchtete sie stets das plötzliche Hereinbrechen neuen Unheils. So glaubte sie auch jetzt, da er auf einmal weit vor dem Abend erschien, nicht anders, als dass sich ein schlimmes Zerwürfnis mit Ulrichs Vater begeben hätte, und es kostete ihn einige Mühe, sie von dieser Annahme abzubringen und ihr klarzumachen, dass er, obschon zu ungewöhnlich früher Stunde, so doch ganz einvernehmlich das Kontor verlassen habe und dass es einzig deshalb geschehen war, weil jemand anderes seine Hilfe erbeten hatte.

Da er aber nicht umhin konnte, ihr weiter zu berichten, dass es sich hierbei um die Beschau eines in der Nacht Verstorbenen handelte, währte ihre Erleichterung allerdings nur kurz. Ulrich gab zu verstehen, die vor ihm liegende Aufgabe sei vermutlich einfacher und alltäglicher als alle Übungen, die er je im Saaltheater der Anatomie in Leyden hatte auf sich nehmen müssen, aber es gelang ihm nicht, ihre dunkle Ahnung mit seiner zur Schau getragenen Unbeschwertheit zu zerstreuen. Zu oft hatte der Tod Elsbeths Familie gestreift, und sein Einwirken flößte ihr auch in diesem Falle Furcht ein.

Indes hatten die Jüngeren in der Familie Ulrichs verfrühtes Auftauchen so leicht genommen, wie es die Tante beunruhigt hatte. Agnes, seine Base, die von den beiden Kindern umringt, dem, was er zu berichten hatte, kaum tiefere Aufmerksamkeit schenkte, wünschte ihm gleichwohl viel Glück für die vor ihm liegende Aufgabe, und Gerdt, ihr Gatte, gab in seiner unbeschwerten Art einen derben Scherz zum Besten, über Quacksalbereien, von denen Ärzte angeblich noch bei Verstorbenen nicht lassen wollten, was ihm sogleich einen Tadel von Seiten Elsbeths eintrug. So gern sie die muntere Heiterkeit der kleinen Enkelkinder um sich herum verspürte, so zuverlässig erschienen ihr die Schwänke des Schwiegersohns anstößig und sündhaft und am meisten hatte sie dieses Empfinden, wenn sie sich auf eine Geschichte, die er auftischte, keinen rechten Reim zu machen wusste.

Nach den vielen Erklärungen, die er zu geben hatte, war die Zeit, die ihm verblieb, alle Vorbereitungen zu treffen und zum Neuen Zeughaus zu gelangen, knapp geworden. Hastig wechselte er den Rock, und nachdem er einige Utensilien, die ihn unentbehrlich dünkten oder von denen er zumindest annahm, sie könnten ihm möglicherweise von Nutzen sein, zusammengesucht und eingepackt hatte, machte er sich auf den Weg. Zum Neuen Ellerntor war es ein gutes Stück Wegs, zudem waren die Straßen rutschig, und er mochte unterwegs sehr wohl das eine oder andere Mal aufgehalten werden. Bald holte ihn der kalte dunstige Atem dieses Tages ein, und er begann zu frösteln, obwohl er kräftig ausschritt.

Der flache Hut aus schwarzem Wollfilz wärmte die Ohren nicht übermäßig, und so ging er, den Kopf leicht gesenkt und bis zum Kinn eingetaucht in den breiten Wollschal über seinem Umhang. Dazu presste sich sein linker Arm fest gegen die recht dicke, lederne Tasche, welche er sich mit einem langen Riemen über die Schulter gehängt hatte.

Als Ulrich St. Katharinen passierte, ließ das Glockenwerk der Turmuhr einen einzelnen Schlag ertönen. Einem fernen Echo gleich, wehte von einem der anderen Kirchtürme nochmals ein einsilbiger Ton hinterher. Unwillkürlich ging sein Blick nach oben, wo die Zeiger des Zifferblatts halb drei Uhr anzeigen mussten, doch schon auf halber Höhe begann die Fassade des Turms für das Auge zu verblassen, und mit jedem weiteren Fuß, den sein Blick aufwärts wanderte, wurde der Kirchturm zu einem körperlosen Schemen, um schließlich vollends in grauer, nebliger Eintönigkeit unterzugehen. Im Dunkel der vergangenen Nacht hatten Schwaden feuchter Luft über den Eisflächen Einkehr gehalten, hatten sich ausgebreitet und jeden Winkel der Stadt durchzogen. Selbst jetzt, da die Helligkeit des Tages noch gut zwei Stunden anhalten würde, hielt der graue Schleier alle Umgebung so gründlich verhängt, dass sie schon auf kurze Entfernung ihrer Farben und Konturen entkleidet war. Aus dem Häusermeer quollen unentwegt dunkle Rauchfahnen aus hunderten von Schornsteinen, stiegen auf, wie um die Trübnis des Tages noch zu vermehren, ehe sie, einige Klafter über dem Dächern, zögerlich von einem schwachen Wind erfasst und nach und nach zerzaust wurden.

Er hatte eine südliche Route durch die Stadt eingeschlagen, um dem Gedränge der Menschen und dem Verkehr der Kutschen und Fuhrwerke auf der recht breiten Steinstraße zu entgehen. Der Weg führte direkt am Elbhafen vorbei, wo die Schiffe, die nicht zur Ausbesserung oder Umrüstung auf Helge lagen, nunmehr seit Monaten so unbewegt ruhten, als habe sich die winterliche Erstarrung von der trostlosen weißen Eisfläche, die sie umgab, auf sie selbst übertragen und jeden Winkel ihrer Holzrümpfe erfasst. Über den dicht gedrängt nebeneinander liegenden Fleuten und Pinassen, den vielen Ewern und anderen kleineren Booten ragte ein kahler Wald von Masten empor. Nicht ein Fetzen Segeltuch ließ sich darin ausmachen, auch die Rahen hatte man bei Wintereinbruch abgetragen und verstaut. Längst war jede Handbreit Holz und jedes verbliebene Tau von Schnee und Eis mit einer frostigen Haut versehen. Nichts erinnerte mehr an das unentwegte, geschäftige Treiben, das hier vor Monaten geherrscht hatte. Die betäubende Vielfalt der Gerüche, die zu anderer Zeit von diesem Ort aufstiegen, war entschwunden, es fehlten das Stimmengewirr und die beständigen Rufe der Seeleute und Hafenarbeiter. Das Quietschen, Knarren und Schaukeln der Schiffe und ihr Auf und Ab im Tidenhub waren gewichen, und ebenso hatte die Eisdecke das vormalige sanfte Rauschen und Glucksen des Flusses und die ans Ufer klatschenden Wellen erstickt.

Ein versprengter Haufen von Arbeitern trotzte der erzwungenen winterlichen Ruhe, indem die Männer Hammer und Pickel schwangen gegen einen aufgetürmten Berg von in- und übereinander geschobenen Eisschollen. Oh ja, das Eis konnte gefährlich werden und einen ihm preisgegebenen Schiffsrumpf mit dumpfer, seelenloser Naturgewalt zerdrücken, wenn man es zu sehr gewähren ließ.

Hesenius passierte den gewaltigen Neuen Kran an der Kajenmauer, von dem es hieß, er könne ein Dutzend großer Fässer auf einmal heben, und der nun so unbeweglich stand wie ein dickleibiger, eingefrorener Riese.

Auf der gebogenen Hohen Brücke rutschte er plötzlich aus, wusste sich aber durch rasches Zupacken am Geländer auf den Beinen zu halten. Hinter dem Schaartor begann die Neue Stadt, und als Ulrich von der Brücke überm Herrengrabenfleet voranschritt, belebte sich das Straßenbild zusehends. Das Gedränge des Schaarmarkts umfing ihn, und unvermittelt sah er sich einer Menschentraube gegenüber, in der wie auf Zuruf plötzlich alle johlten und applaudierten. Einen Moment lang glaubte Ulrich, er sei womöglich in die Vorstellung einer fahrenden Theatertruppe geraten, doch das Schauspiel, das die Umstehenden so prächtig zu unterhalten wusste, lieferten nur ein redegewandter Zahnbrecher und sein schmerzgeplagter Komparse. Während ersterer mit triumphierender Gebärde seine Zange in die Luft reckte, um allen Anwesenden den bezwungenen Schmerzenszahn zu zeigen, wobei er überaus wortreich die Tapferkeit seines Patienten lobte, kauerte dieser stumm und blass auf einem Schemel und bemühte sich doch zugleich um eine Haltung, die der gaffenden Menschenmenge um ihn herum angemessen war, so dass er endlich mit geschlossenem Mund ein gequältes Lächeln zuwege brachte.

In der Mitte des Marktplatzes gab es eine offene Feuerstelle, wo Besucher und Verkäufer zwischendurch ihre in der Kälte mitunter taub gewordenen Glieder aufwärmen konnten, aber Ulrich war es daran gelegen, Engstellen und große Menschenknäuel zu meiden, und so durchquerte er rechter Hand den Platz, ohne in die dichtstehenden Reihen der Marktstände einzutauchen. Der anschließende Straßenzug führte geradewegs an der Großen Michaeliskirche vorbei, deren Bau er als Kind so häufig staunend verfolgt hatte.

Dem Kirchengemäuer gegenüber erklang nun allerdings sehr weltliches Gelächter, gemischt mit Rufen, die leicht aus dem Stimmengewirr der Straße hervorstachen, da sie ohne Zweifel von englisch sprechenden Zungen herrührten. Die Urheber, sechs durchaus würdevoll gekleidete Herren im besten Mannesalter, hatten sich auf dem abschüssigen Boden vor einer dichtstehenden Reihe von Brettern versammelt, die man in die Erde getrieben hatte. In ihrem solchermaßen begrenzten Feld, waren sie in ein Ballspiel vertieft, bei dem sie im Wettstreit eine Anzahl hölzerner Kugeln auf ein Ziel zu werfen trachteten, welches Ulrich nicht mehr ausmachen konnte. Etwas von der unbeschwerten Fröhlichkeit, das dem Spiel dieser Männer zu eigen war, fand für einige Augenblicke Eingang in sein Gemüt und zerstreute die Fragen, die er in Gedanken aufwarf.

Was mochte es mit jenem Toten auf sich haben, den es zu beschauen galt? War er einem seltsamen Übel erlegen oder eines gewaltsamen Todes gestorben? Und warum, um alles in der Welt, war ausgerechnet an ihn die Bitte ergangen, diesen Leichnam zu untersuchen? Hatte er bis dahin in der Gewissheit gelebt, seine Person sei über den kleinen Umkreis von Familie, Freunden und Bekannten hinaus gänzlich unbekannt, so wusste er nunmehr unter den bedeutenden Kaufleuten der Stadt jemanden, der auf ihn, den geradezu Namenlosen, besondere Hoffnungen setzte. Ihn selbst hingegen überfielen Zweifel, ob seine in der Medizin erlangte Fertigkeit wirklichen Nutzen zeitigen werde.

Er hatte betretenes Schweigen erlebt, wenn er anderen gegenüber zu schildern suchte, wie das Studium im Anatomiesaal beschaffen war, Männer, die ihr Unverständnis über seine Leidenschaft mit zotigen Anekdoten bekundeten, und Frauen, die sich im Anschluss an seine Erzählung versteckt bekreuzigten, als gelte es, sich ob der vernommenen Frevel himmlischen Beistands zu versichern. Nicht dass er deswegen an dem Gelernten gezweifelt hätte, aber soweit er die Menschen in Hamburg kannte, galt ihnen das gelehrte Streben nach Erkenntnis, eher als kauzige Beschäftigung, die keinen rechten Ertrag versprach, und wenn Ulrich von anderen gelehrt geheißen wurde, so war damit zugleich ausgedrückt, dass er ein wenig weltfremd sei und seine Zukunft fraglich und ungewiss.

Solcherart waren seine Gedanken, da nunmehr zur Linken die Straße allmählich auf die Stadtbefestigungen zuführte, in der das Neue Ellerntor die Pforte in westlicher Richtung bildete.

Das Neue Zeughaus war auf einem dem Ellerntor vorgelagerten, freien Platz erbaut worden. Männer in Uniformen gingen hier ein und aus und seinem ganzen Wesen nach gehörte das Haus zu den großen Wallanlagen, jenem vielzackigen Festungsgürtel, dem man das glückhafte Überdauern im großen Krieg zuschrieb und der auch jetzt, da doch längst Friede herrschte, rundum mit Kanonen bestückt und Tag und Nacht mit Wachsoldaten besetzt war.

Ulrich konnte sich erinnern, wie er als Kind bisweilen die Aufmärsche der Soldaten in Reih und Glied verfolgt hatte, doch war er nie zuvor, so wie jetzt, an die Torwache herangetreten.

Leicht beklommen sprach er einen der beiden Soldaten an, reichte ihm sein Schreiben und bat um Einlass. Statt den Weg einfach freizugeben, wurde Ulrich abschätzend gemustert und sodann verschwand der Mann mitsamt seinem Brief. Hesenius dämmerte zu spät, dass der andere womöglich nicht lesen konnte, aber es war zu spät, die Sache anders anzugehen, und ihm blieb nur, auf seine Rückkehr zu warten.

Ulrich fragte sich im Stillen, ob es im Winter zu den ungeschriebenen Gepflogenheiten des Wachdienstes gehörte, dass man im Gebäude verschwand und nachfragte, was zu geschehen habe, so oft und selbstverständlich auch so lange wie möglich, denn es bot sich darin allemal die Gelegenheit, sich aufzuwärmen.

Gerade als er zu spüren meinte, dass nach den längst klamm gewordenen Fingern sich auch von den Zehen her ein taubes Gefühl auszubreiten begann, zeigte sich endlich der Entschwundene und bedeutete ihm einzutreten. Ulrich erhielt seinen Brief zurück und folgte einem neuen, ihm zugeteilten Begleiter. Bald gelangten sie an eine breite Treppe, die der Mann ohne weitere Erklärung hinab schritt. Das spärliche, von oben einfließende Fensterlicht entschwand, und als Ulrich unten angelangt war, umfing ihn ein dunkles Gewölbe, das von einem warmen, unruhigen Flackern durchzogen wurde. Einzelne, dicht vor den rauen Steinwänden aufgesteckte Öllampen spendeten gerade genug Licht, dass er das Mauerwerk um sich herum erkennen konnte. Während seine Augen sich allmählich an die dämmerige Umgebung gewöhnten, fingen die ohren tropfendes Wasser und gedämpftes Gemurmel ein. Von irgendwoher erklang ein dröhnendes Gelächter, in das andere Kehlen mehrstimmig einfielen. In der Richtung, die sein Begleiter einschlug, erstarb dieser Lärm jedoch rasch, und schließlich verblieb nur das Hallen ihrer eigenen Schritte auf dem Steinboden. Hinter einem weiteren Gewölbepfeiler fiel Licht aus einer offen stehenden Tür und Ulrich spürte einen wärmenden Luftzug von der dahinter liegenden Kammer. Ein stattlich anzuschauender offizier mit flammend rotem Haar und einem ebensolchen, markanten Schnurrbart und ein junger, elegant gekleideter Herr, den Ulrich auf den ersten Blick als einen weiteren Besucher in diesem Gewölbe erkannte, standen sich dort gegenüber. Sie führten eine leise Unterhaltung, die sofort unterbrochen wurde, als sie der Person Ulrichs gewahr wurden, und beide bedeuteten ihm einzutreten. Dabei trat der vornehm gewandete Gast mit einem freudigen Strahlen auf ihn zu, umfasste mit beiden Händen seine Rechte, schüttelte sie, und da er hierbei die Kälte in seinen Gliedern erfühlte, führte er Ulrich sogleich mit sanftem Zug an den einfachen Kamin, in dem ein kleines Feuer willkommene Wärme spendete.

„Ihr müsst Ulrich Hesenius sein. Es ist ein ungewöhnlicher Ort, an dem ich eure Bekanntschaft mache, und es geschieht unter wahrhaft traurigen Umständen, aber ich freue mich aufrichtig, dass Ihr meiner Bitte nachkommen konntet“, sagte er und fügte, eben bevor er den Händedruck löste, mit einem beinahe heiteren Kopfnicken hinzu: „Ich bin Hermann Lengsdorp.“

Ulrich atmete auf. Dass Lengsdorp selbst an diesem Ort erschienen war, machte alles einfacher. Seine Begrüßung war angenehm und freundlich ausgefallen, aber es schickte sich für einen weltoffenen Kaufmann, dass er es verstand, auf andere Menschen zuzugehen und dabei die rechten Worte gebrauchte. Doch Ulrich glaubte auch herauszuhören, dass sie so gemeint waren, wie sie gesprochen wurden. Des anderen Freude oder war es eher Erleichterung? – schien ihm jedenfalls aufrichtig. So gewandt und sicher Lengsdorp in seinem Auftreten auch wirkte, schätzte Ulrich sein Alter auf nicht mehr als 26 oder 27 Jahre. Er war von durchschnittlicher Größe und Statur, hielt sich aber so tadellos gerade, dass man ihn gleichwohl auf Anhieb für groß und bedeutend wahrnahm. Sorgsam gekämmtes, eher braunes als dunkelblondes Haar reichte ihm bis zur Schulter hinab, sein Oberlippen- wie auch der Kinnbart waren mit der gleichen Strenge gestutzt. Wenn etwas Eitelkeit in seiner äußeren Erscheinung durchschimmerte, so war es doch eher so, dass er ein starkes Gefühl für Ordnung und das rechte Maß vermittelte. Dunkle Augen musterten Hesenius, doch geschah dies ohne den Eindruck von Strenge, da von ihnen zugleich ein freundliches Zwinkern auszugehen schien und zugleich formte dabei die unentwegte Andeutung eines Lächelns die Wangen des Kaufmanns.

Das zurückhaltende Schwarz seiner Kleidung wurde am Kragen und an den Ärmeln durchbrochen von weißen, fein geklöppelten Brüsseler Spitzen, zudem prangte noch eine breite, golddurchwirkte Schärpe von der linken Schulter hinab zur Hüfte. Ulrich vermochte nicht zu erkennen, welche Gilde die aufgestickten Ornamente versinnbildlichten, aber die prachtvoll bunte Schärpe war das einzige Kleidungsstück, das in dieser Umgebung vertraut wirkte, denn schmückende Bänder und Gürtel erfreuten sich anscheinend gerade bei den Wachoffizieren großer Beliebtheit. Der von Lengsdorp als Hauptmann van Horn vorgestellte Soldat hatte seinen Rock auf solche Weise gleich zweifach behängt, so dass sich über der Brust reich durchbrochenes und mit Schnallen besetztes Leder mit grün, rot und goldschimmerndem Brokat kreuzte. Eine der beiden Schärpen zählte zum Waffengeschirr, da an ihrer Unterseite das Rapier in der Scheide baumelte. Nachdem er gleichfalls Ulrichs Hand geschüttelt hatte, verabschiedete sich van Horn mit einem Schwenken seines federgeschmückten Hutes, um der sich anbahnenden Unterhaltung zwischen den beiden Bürgerlichen nicht die Vertraulichkeit zu nehmen.

Ulrich, der vor allem wünschte, den tieferen Grund seines Hierseins zu erfahren, wusste wohl, dass ihn zunächst einige wohlmeinende Fragen zu seiner Person und zu den Familienverhältnissen erwarteten. Derlei war als höfliche Einleitung gleichsam unumgänglich und auch Lengsdorp hielt sich daran.

Hesenius berichtete, dass sein Vater bei guter Gesundheit sei, und da er seine Stiefmutter seit zwei Wochen nicht gesehen hatte, fiel es ihm leicht, statt von ihr lieber von Elsbeth und all jenen zu berichten, die ihm näher standen. Endlich kam die Erkundigung auch zu seiner eigenen Person.

„So habt Ihr also einstweilen das wackere Studium der Medizin verlassen, um hier in Hamburg das Kaufmännische zu betreiben?“ fragte Lengsdorp.

„Es war der Wunsch meines Vaters, dass ich für eine Zeit ins Kontor zurückkehre“, sagte er ebenso knapp aber wahrheitsgemäß.

„Doch wenn es nach eurem Herzen gegangen wäre, so wäret Ihr gewiss bei eurer Wissenschaft verblieben?“, fragte der Kaufmann.

Die Vermutung traf ins Schwarze, doch es schickte sich nicht, dies allzu deutlich zum Ausdruck zu bringen. „Gewiss“, entgegnete er, „doch ich bitte, meinen Vater zu verstehen. Nicht allein, dass die Geschäfte heute für ihn schwerer sind als in vormaligen Zeiten. Er musste auch unerwartet den Schreiber ersetzen, der ihm lieb und vertraut war. Und bei alledem: Es ist ohnehin nur bis zum kommenden Herbst, dass ich nach Leyden zurückkehren werde.“

So lautete das Abkommen, das Vater und Sohn geschlossen hatten, und er trachtete danach, es einzuhalten, wie er auch wusste, dass Johann Hesenius ihn anschließend freigeben und dass seine Entlohnung ihm wenigstens das Folgejahr an der Universität ermöglichen würde.

„Ich hörte wahrhaft Bemerkenswertes über euer Studium in Leyden, junger Freund. Hat nicht gar Wilhelm von Oranien Euch höchstselbst für besondere Leistungen eine goldene Medaille verliehen?“

Ulrich lächelte nachsichtig. Es war offenkundig, dass die Geschichte seiner Auszeichnung über eine lange Kette von Erzählern weitergereicht worden war, ehe sie Lengsdorps Ohren erreicht hatte. Allerdings, wenn man sie auch ihrer dabei erlangten Ausschmückungen beraubte, so beruhte sie schließlich doch auf einer wahren Begebenheit.

„Nun“, erklärte er, „es wurde durchaus keine Medaille vergeben und der Fürst war bei der Zeremonie auch nicht zugegen, allerdings ist er ein großer Förderer der Wissenschaften. So stiftete er in der Tat einen Preis, welcher durch den Kanzler der Universität verliehen wurde, und – es ist wahr – im vergangenen Jahr hatte ich das Glück, für meine eingereichte Arbeit ausgezeichnet zu werden.“

„Wollt Ihr dies eine als Ratschlag von mir annehmen: Stellt euer Licht nicht so tief unter den Scheffel, wie Ihr es eben tatet, und lernt stattdessen, die Dinge geradeheraus beim Namen zu nennen, wenn sie Euch zum Lob gereichen, denn ich halte dafür, dass Tüchtigkeit weit eher als Glück Euch zum Preis verholfen hat. Welcher Art war eure Abhandlung?“

Ulrich wusste nach seiner Erfahrung darum, wie rasch es seine Zuhörer ermüdete, wenn er sich in Einzelheiten der Medizin verlor, und so ließ er die ganze Anordnung seiner damaligen Versuche weg und antwortete nur soviel, dass er bei verschiedenen Menschen die Beschaffenheit der Adern untersucht habe, welche gekennzeichnet seien entweder durch schwer oder durch leicht fließendes Blut und dass er hieraus am Ende wertvolle Hinweise gewonnen habe, ob und wie häufig es geraten sei, Patienten zur Ader zu lassen.

Lengsdorp beglückwünschte ihn zu seinem Erfolg, ließ endlich aber seine schönen Worte ausklingen. Ulrich, der diesen Moment der Stille nutzte, ihn aufs Neue eindringlich zu betrachten, sah die Heiterkeit aus seinen Zügen entschwinden, und als er schließlich zu sprechen fortfuhr, tat er es bedächtiger und zögerlicher als zuvor, als bereite es ihm nunmehr Mühe, die rechten Worte für seine Erzählung zu finden.

„Ihr fragt Euch, wer der Tote wohl sein mag, und aus welchem Grund ich Euch an diesen Ort gebeten habe, ihn in Augenschein zu nehmen. Nun wohl, in der vergangenen Nacht, gegen halb zwei Uhr in der Frühe wurde der leblose Körper meines Freundes, des hoch geschätzten Kaufmanns und Ratsherrn Heinrich von Brempt, auf der Eisdecke eines schmalen Fleets in einem entlegenen Teil der Neuen Stadt gefunden.“

Ulrich hatte angenommen, dass der Tote zu den vermögenden Männern der Stadt zählen müsse, denn niemand hätte sich bemüßigt gefühlt, beim Hinscheiden eines armen, unbedeutenden Tropfs eine Untersuchung in die Wege zu leiten, aber da ein Ratsherr, einer der führenden Köpfe der Stadt, ums Leben gekommen war, wurde die Angelegenheit um einiges verständlicher. Laut fragte er: „Es waren Männer der Stadtwache, die den Toten fanden?“

Lengsdorp nickte anerkennend und fuhr an diesem Punkt fort zu berichten.

„Richtig. In der Nacht waren sowohl Nachtwächter von der Wedde als auch die hiesigen Wachsoldaten verständigt worden, dass Heinrich abends nicht zu seiner Familie zurückgekehrt sei. Man bildete eilends Suchmannschaften, denen je eine Tragbahre beigegeben wurde, um den Mann, falls er verletzt und ohnmächtig aufgefunden werde, rasch transportieren zu können. Als eine der ausgeschickten Streifen ihn schließlich fand, war er allerdings tot, aber die Männer entschieden dennoch, ihn sogleich aufzuladen, und sie brachten ihn hinter diese Mauern.“

„Wie, glaubt man, ist er gestorben?“

„Es waren drei Männer, die den Leichnam fanden, und ein jeder von ihnen berichtete übereinstimmend, dass von Brempt geradewegs am Fuß der Brücke, welche über das Fleet führt, gelegen habe. All dies legt nahe, er habe beim Überqueren den Halt verloren und einen tödlichen Sturz hinunter auf das Eis getan. Etwa zwanzig Schritte entfernt vom Toten fand sich an der Uferböschung sein Hut: möglich, dass ihn ein plötzlicher Windstoß von Heinrichs Kopf geweht hatte. Ein seltsamer Gedanke: Ja, Heinrich war ein Mann, der weit eher geeignet schien, einen Baum mit seinen bloßen Händen auszureißen, als dass man glauben möchte, er könne selbst fallen. Und doch, das Pflaster war rutschig, eine einzige törichte Bewegung, vielleicht dass er sich zu weit vorbeugte, seinen davonfliegenden Hut zu erhaschen, jedenfalls scheint es die einleuchtendste Erklärung für das Unglück. Dies umso mehr, da er in tiefdunkler Nacht mit einer Laterne in der Hand unterwegs war. Man fand sie erloschen neben Heinrichs Körper auf den Eisschollen.

Doktor Winckel, ein Bekannter der Familie, den wir bereits am frühen Morgen verständigten, hat bestätigt, dass eine Wunde, welche an Heinrichs Kopf zu sehen ist, vermutlich von dem schweren Stoße des Schädels auf dem Eise herrührt. Er war entweder sofort tot oder wenigstens ohne Bewusstsein, und musste bald darauf unweigerlich erfrieren.“

Ja, es war bitterkalt in den Nächten, und wie tückisch das glatte Pflaster auf einer Brücke sein konnte, hatte Ulrich gerade erst auf dem Weg hierher erfahren. Aber da war zunächst etwas anderes, worauf er sich keinen Reim machen konnte, und so warf er neuerlich eine Frage ein.

„Wenn von Brempts Tod durch einen unglücklichen Sturz verursacht wurde, wie doch alle annehmen, warum ist Euch gleichwohl daran gelegen, nach dem Befund dieses Doktor Winckel noch eine weitere Untersuchung durchführen zu lassen?“

„Ich habe sogar noch mehr veranlasst, als nur Euch mit hinzuzuziehen. Auf meine Bitte hin hat sich ebenso der hiesige Regimentsarzt bemüht, und ich habe außerdem noch einen Doktor Sriver um sein Erscheinen gebeten, einen wohl beleumdeten Amtsträger des Collegium Medicum. Ich hätte ihn allerdings bereits vor einer halben Stunde erwartet, doch wie es scheint, wurde er aufgehalten.“

„So muss ich also anders fragen: Warum habt Ihr geruht, in dieser Sache noch zwei weitere Ärzte und obendrein auch noch mich, einen Studenten der Medizin herbeizurufen?“

Lengsdorp antwortete nicht sofort. Er tat einige Schritte auf eine der roh gezimmerten Bänke im Raum zu, ließ sich seufzend auf ihr nieder und winkte Ulrich, es ihm gleich zu tun. Eine geraume Zeit lang starrte er wie abwesend in die Flammen der Feuerstelle.

„Es mag besser zu verstehen sein, wenn ich Euch kurz berichte, wie ich selbst die Unglücksnacht erlebte“, nahm er die Erklärung wieder auf, und sprach in vertraulichem Ton, doch leise und verhalten, so als ob mit den gesprochenen Worten die Erinnerung an Geschehnisse wachgerufen wurden, die er als seltsam unbegreiflich erfahren hatte: „Kurz vor der zehnten Stunde der vergangenen Nacht – glücklicherweise hatte ich mich noch nicht zu Bett begeben – klopfte eine Magd aus von Brempts Hause an meine Tür. Maria, Heinrichs Frau, hatte Gesinde ausgeschickt, Freunde und Bekannte um Hilfe zu bitten, weil ihr Mann von einer abendlichen Besprechung nicht nach Hause zurückgekehrt sei.“

„War er allein ausgegangen?“

„Ja, es ist ein überschaubares Stück Wegs von Heinrichs Haus zum Viertel der Sepharden, wo er einen befreundeten Geldverleiher für eine Unterredung aufsuchen wollte. Als ihr Heinrich weit über die Zeit, die er angegeben hatte, ausblieb, wurde Maria das einsame Warten unerträglich. Sie schickte einen Boten hinterdrein, und als dieser zurückkehrte, war sie sicher, es müsse Heinrich etwas zugestoßen sein, denn er berichtete, dass ihr Mann bereits vor geraumer Zeit von dort aufgebrochen war.

Als ich bei Maria eintraf, waren außer ihr und einigen Dienern, Mägden und Zofen des Haushalts bereits mehrere Nachbarn zugegen, die gleichfalls gerufen wurden. Sie ist eine tapfere Frau und hielt sich aufrechter als viele von denen, die um sie herum versammelt waren und wenig mehr als Jammern und Gebete beizusteuern wussten. Doch kamen wir bald überein, dass es angesichts der vorgerückten Stunde geraten sei, sowohl bei der Wedde vorzusprechen, als auch Männer der Stadtwache um Hilfe zu bitten. So teilten wir uns auf, dergestalt dass je zwei Mann sich dorthin begaben, derweil wir Verbliebenen uns zu zwei kleinen Haufen zusammen scharten, in verschiedener Richtung die umgebenden Straßen und Plätze abzusuchen. Wir ließen Maria mit den übrigen Frauen zurück, und dann suchten wir wohl bald zwei Stunden lang im fahlen Licht unserer Laternen eine Spur von Heinrich zu finden. Als die Kerzen zur Neige gingen, mussten wir uns die Vergeblichkeit unserer Bemühungen eingestehen. Während einige nach Hause eilten, mit dem Versprechen, die Suche am Morgen wieder aufzunehmen, falls es nötig sein sollte, übernahm ich es, Maria von unserer glücklosen Suche zu berichten. Auch wollte ich ihr beistehen und den Gedanken wachhalten, dass bessere Nachrichten eintreffen möchten. Es mag beinahe halb drei Uhr gewesen sei, als all unsere Hoffnung erstarb, da ein Soldat eintraf und meldete, er habe zusammen mit seinen Kameraden Heinrichs Leichnam gefunden. Als der Mann in seiner Schilderung kundtat, der Ratsherr müsse wohl durch einen unglücklichen Sturz von der Fleet-brücke zu Tode gekommen sein, war es endlich um Marias Haltung geschehen. Sie verfiel in ein so lautes Wehklagen, dass eines ihrer Kinder aus dem Schlaf gerissen wurde, und sie schwor, ihr Heinrich könne niemals durch eine solche, dem Teufel entsprungene Laune ums Leben gekommen sein. Bald schalt sie den Überbringer der Todesnachricht einen dreisten Lügner und, wiewohl alle ihr gut zuredeten, war sie doch kaum zu beruhigen.“

An dieser Stelle konnte Ulrich, wenngleich er der Schilderung zuvor ergriffen gelauscht hatte, sich nicht enthalten, den Erzähler zu unterbrechen.

„Wartet einen Moment“, fiel er ein, „Habe ich es recht verstanden, dass ihr Klagen nicht etwa begann, als man ihr berichtete, ihr Mann sei tot, sondern erst in dem Moment, da der Soldat ihr bedeutete, er müsse durch einen dummen Fehltritt zu Tode gestürzt sein?“

Lengsdorp führte eine Hand zur Stirn, offensichtlich bemüht, die Geschehnisse der vergangenen Nacht im Geiste richtig zu ordnen, und für einige Augenblicke verharrte er in dieser Haltung, ehe er fortfuhr zu antworten:

„Ich hatte noch keine Muße, die Dinge so zu erfragen wie Ihr. Nun aber, da Ihr es erwähnt, kommt es mir so vor, als habe es sich wirklich in dieser Weise zugetragen. Ja, es muss wohl so gewesen sein. Maria schien mir noch ruhig und gefasst, da ihr die Todesnachricht überbracht wurde, doch als der Mann weitersprach, wurden wir gewahr, dass ihr Betragen sich ins Gegenteil verkehrte. Vielleicht dass ihr Herz Zeit brauchte, die Worte in ihrer ganzen Tragweite aufzunehmen?“, setzte er ohne rechte Überzeugung hinzu.

„Aber wie dem auch sei, da keines der tröstenden Worte, die um sie herum gesprochen wurden, und keine Umarmung ihrer Freundinnen und Vertrauten ihren übergroßen Schmerz betäuben konnten, trat ich endlich vor sie hin. Ich sagte mir, es sei vielleicht besser, die eigenartigen Worte voller Zorn, die über ihre Lippen gekommen waren, nicht länger ersticken zu wollen, sondern sie mit einem feierlichen Versprechen zu beruhigen. Und so nahm ich endlich ihre Hand und schwor ihr an diesem Abend, dass alles, aber auch alles in die Wege geleitet werde, auf dass sie am Ende erfahren möge, wie Heinrich in dieser Nacht gestorben sei. Mag aus dem Versprechen auch nichts anderes erwachsen, als dass man später sagen wird, wir hätten endlos Zeit und Mühen aufgewendet, weil eine vom Schmerz betäubte Frau närrische Dinge sagt. Mag sein, dass ich am Ende selbst einem Narren gleich dastehen werde. Was gilt es mir, da ich doch endlich erleben durfte, wie Maria sich aufrichtete an meinen Worten und wie sie zurückfand zu der stillen Kraft, die ihr zu eigen ist.“

„Und deshalb“, schloss Lengsdorp und erwiderte dabei so fest und eindringlich den Blick seines Zuhörers, als gelte es, die letzten Sätze durch ein zwischen ihnen geknüpftes Band zu beschwören – „deshalb wollte ich es nicht dabei belassen, dass allein wackere Soldaten, die Männer der Wedde und unser braver Doktor Winckel den toten Freund in Augenschein nehmen.

Ihr seid jung und habt doch, wie ich von anderen erfuhr, bereits mit so vielen hochgelehrten Köpfen verkehrt, und ich halte dafür, dass, wenn mit Heinrichs Tod ein Geheimnis verknüpft wäre, Ihr auf eure Art so gut befähigt seid, es zu entdecken, wie andere, mögen sie auch klangvolle Titel führen und Euch nach Alter und Erfahrung voraus sein.“

Ulrich erwiderte nichts. Schweigen breitete sich aus. Inmitten der Stille verstand er, wie alles gekommen war, und warum der Ratschluss des anderen ihn schließlich an diesen Ort geführt hatte.

Da er eben befand, es sei an der Zeit, sich dem zu widmen, worum man ihn gebeten hatte, war eine polternde Unruhe von außerhalb zu vernehmen. Eine tiefe Stimme, welche von den Gängen her zunehmend laut und herrisch herüber klang, schälte sich aus dem Getrappel schwerer Schritte heraus. Gleich darauf erschien ein Wachsoldat in der halb offenen Tür und meldete die Ankunft eines Herrn, den er als „Gottfried Sriver, Arzt und zweiter Physicus der Stadt“ vorstellte. Als der Genannte eintrat, geschah es unter fortwährendem Schnaufen. Sriver war klein und von stämmiger Statur, in erster Linie jedoch war er über die Maßen dick und beleibt. Unter dem weit vorstehenden, prallen Bauch wirkten seine kurzen Beine fast schon schmächtig, und es erschien seltsam unzureichend, wenn beim Gehen wechselweise nur eines von ihnen die Schwere des ganzen Körpers auszubalancieren hatte. Ulrich schätzte den Mann, den er um Haupteslänge überragte, auf etwa drei Zentner und fragte sich im Stillen, ob er zeitweilig bereits unter Schmerzen in den Knien und anderen Gelenken zu leiden hatte, wie es bei so vielen der Fall war, deren Gewicht durch ständige Völlerei überhandgenommen hatte.

Unter einer schlecht sitzenden Perücke glänzte die schweißnasse Stirn, das breite Gesicht war von den jüngsten Anstrengungen tief gerötet. Ulrich konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Srivers Blut ganz sicher zu schwer floss: Es schien beinahe geboten, ihn sofort ausgiebig zur Ader zu lassen, um dem in der Brust heftig pochenden Herzen Erleichterung zu verschaffen.

Lengsdorp begrüßte den Doktor mit formvollendeter Höflichkeit. Hesenius erntete zwischendurch ein kurzes Schnaufen von Sriver, als er dem anderen vorgestellt wurde.

Der Kaufmann hatte sich für Srivers Eintreffen zwei Ehrenämter gemerkt, die der Arzt bekleidete, dazu noch eine Stellung, die er vormals innegehabt hatte, und er nahm sich die Zeit alles aufzuzählen, so dass der wonnigen Eitelkeit des Mannes mehr als Genüge getan wurde. Des Doktors Gemüt schien ob der freundlichen Ausführungen jedoch keineswegs aufgeheitert. Ein dumpfes Missvergnügen umwehte ihn und wollte nicht weichen, und man spürte dahinter, dass nicht Pflichtgefühl oder gar Neigung ihn hergeführt hatte. Gottfried Sriver war ganz gegen seinen eigentlichen Willen überredet worden zu kommen, und das Opfer, das er dem Kaufmann damit erbracht hatte, schien ihm keineswegs ausreichend gewürdigt.

„Eure freundlichen Worte in allen Ehren“, begann Sriver, „doch seid Ihr Euch im klaren darüber, dass wir eine höchst bedeutsame Sitzung im Ausschuss für den weiteren Ausbau des Spinnhauses verlassen haben, allein um eurem Wunsch zu willfahren? Und wir fragen uns weiterhin, weshalb Ihr ärztlichen Beistand erbittet, ganz so, als ginge es um eine Angelegenheit von großer Dringlichkeit, wenn unser Ratsherr, nach dem, was ich vernommen habe, sein Leben doch schon in der Nacht ausgehaucht hat?“

Es war eine taktlose Eröffnung. Ein Dunsthauch von Wein stieg auf, während Sriver sprach, und Ulrich war es gewiss, dass die Sitzung, von welcher der Doktor vorzeitig aufgebrochen war, eine üppig mit Speis und Trank beladene Tafelrunde einschloss.

„Viventes nostra ars curat, non mortuos!“ *, fuhr Sriver nunmehr in seinen Belehrungen fort, „Hat sich erst der Tod herabgelassen, so schlägt die Stunde der Pfaffen, die Seele der Verstorbenen mit ihren Gebeten zu begleiten. Zu welchem Nutzen soll es nun eigentlich führen, wenn ich in diesem Gewölbe doch nur den Tod konstatieren kann, zumal da jemand anderer, wie ich hörte, dies bereits vor uns tat?“

Lengsdorp hätte hierauf zweifellos eine geschickte Antwort zu geben gewusst, dergestalt, dass sie den Unwillen des Mannes besänftigen konnte und zugleich an sein Pflichtgefühl appellierte, doch wollte sich Ulrich nicht länger enthalten, das Wort zu ergreifen. obgleich sein ganzes Wesen von leiser und zurückhaltender Art war, empörte ihn doch, wie Ignoranz und auch Unwissenheit hinter der lauten Art dieses Mannes sichtbar wurden. Sriver mochte auf seine Weise ein gebildeter Mann sein, und er war in der Medizin zu Amt und Würden gelangt, aber bei alledem schienen ihm einige der Grundtugenden seines Berufes abhandengekommen zu sein.

„Mortuos nos docent comprehendere vitaliter“ *, ließ er sich vernehmen. „Verzeiht, aber mir scheint doch, wir wären zunächst einmal hier, um durch eigene Anschauung zu den rechten Schlüssen zu gelangen, auf dass wir hinterher ein Urteil darüber fällen, wie denn ein Mann zu Tode gekommen wäre. Wie aber sollten wir wohl dorthin gelangen, wenn wir uns darüber erhaben wähnten, den Leichnam gründlich zu studieren? So stumm die Zunge eines Dahingeschiedenen auch bleibt, so kennt die Medizin doch allerhand Schliche, auch den Toten noch Geheimnisse zu entlocken, und darum wurdet Ihr gebeten, eure Kunst auch hier zu erproben. Kann eine Seuche nicht sehr wohl noch erkannt werden, nachdem das opfer ihr erlegen ist? Vermag nicht ein kundiger Arzt noch aus einem toten Neugeborenen herauszulesen, ob das Kind je einen Atemzug getan hat?“

Srivers ohnehin rötlich gefärbtes Gesicht schien sich noch weiter zu verdunkeln, da er den jungen Mann, den er bislang kaum beachtet hatte, überrascht und verwundert ansah, so, als könne er nicht glauben, dass dieser Widerworte gegen ihn gerichtet hätte.

„Wie?“, entgegnete er, „Höre ich recht? Will er mich belehren, was zu tun oder zu lassen wäre? Ich kenne euresgleichen zur Genüge. Junge Bürschlein, die über einem jeden Leichnam sogleich ihr Seziermesser erproben möchten und die es, wie einst ihr Patron Vesal, selbst dann schwingen würden, wenn das Leben noch nicht entwichen ist!“

Ulrich schüttelte den Kopf ob dieser frechen Lüge.

„Eine böswillige Legende, gestrickt von seinen Widersachern: Vesalius hat eine solche Torheit nie begangen. Auch wisst Ihr so gut wie ich, dass wir nicht ohne Grund und des Weiteren nicht ohne besondere Erlaubnis befugt wären, auf solche Weise auch in den Eingeweiden des Toten zu lesen. Sollte eine äußere Untersuchung des Leibes bestätigen, was wir über den Eintritt des Todes vermuten, so sehe ich durchaus keine Notwendigkeit für eine Sektion!“

„Vortrefflich!“ Sriver bedachte sein Gegenüber mit einem verächtlichen Blick, um sicherstellen, dass Ulrich die Schmähung, die er in das Lobeswort gelegt hatte, nicht entging. „So wisst Ihr eurem Eifer doch Grenzen zu setzen. Alsdann merkt Euch ebenso: Ein einfacher Fall wie dieser eignet sich nicht zum Disput. Jeder Wundarzt, ja selbst ein Bader hätte hier den nötigen Dienst verrichten können!“

„Glaubt Ihr denn wirklich, ein einfacher Bader hätte je von den vielen Regeln vernommen, welche Paolo Zacchia den Ärzten für die äußere und innere Leichenschau genannt hat?“

So etwas wie Verblüffung mischte sich in Srivers erregte Gesichtszüge, und Ulrich kam der Gedanke, dass der Mann selbst wohl nie einen Band der „Quaestiones medico-legales“ gelesen hatte. Nein, verbesserte er sich, vermutlich kannte Sriver selbst den Namen des großen Gelehrten nicht. Es sollte Ärzte geben, die immer noch allein die Weisheiten eines Paracelsus gelten ließen und alle welschen Lehrbücher der Falschheit bezichtigten, ganz so als sei die Medizin in den Ländern des Südens bei Galens Lehre vom Gleichgewicht der Säfte stehen geblieben.

Ulrich ahnte, was nun folgen würde. Tatsächlich ließ Sriver ihn mit nunmehr vollends zornentbrannter Stimme wissen, dass er durchaus nicht gewillt war, sich von einem jungen Mann ohne Ämter und Titel belehren zu lassen: „Weiß er eigentlich, wem er hier gegenüber steht? Ich studierte an der Leucorea in Wittenberg und beim jüngeren Simon Pauli in Rostock, zu einer Zeit, da Ihr noch nicht einmal eurer Mutter Brust entwachsen wart. Und doch fühlt man sich bemüßigt, mit kecker Rede mein Urteil in Frage zu stellen? Ich habe den Tod bei Kindern und Alten gesehen, bei ausgezehrten Krüppeln im Siechenhaus ebenso wie bei jungen Frauen auf weißem Linnen. Ich erkenne seine knochige Hand in jedweder Gestalt, doch ebenso vertraut ist mir der verschwenderische Eigensinn, der mitunter die Angehörigen umtreibt, Ärzte sonder Zahl herbeizurufen ohne Fromm und Nutzen!“

„Mir scheint, Ihr führt allzu rasch das Wort Verschwendung im Mund. In der Stadt Zürich lässt man die Verstorbenen gar von fünf geschworenen Meistern untersuchen, wenn die Ursache ihres Hinscheidens unklar ist. Warum sollten wir uns also nicht bemühen, den Leichnam des armen von Brempt in Augenschein zu nehmen, ein jeglicher nach seiner Art? Es mag nicht alles nutzlose Wiederholung sein, da doch in Wahrheit ein Einzelner nicht davor gefeit ist, Dinge zu übersehen, um die vielleicht aber der Nachfolgende weiß.“

Es war an Lengsdorp zwischen die Streitenden zu treten, und er tat dies auf eine zugleich entschiedene wie auch heitere Art, die es weder Sriver noch Ulrich erlaubte, weitere Worte anzufügen.

„Verzeiht, meine Herren! Ich habe wenig von eurem gelehrten Disput verstanden, doch mir scheint, wir wären dabei, eben jene kostbare Zeit zu verschwenden, über die doch gerade Ihr, mein lieber Doktor, am heutigen Tag nicht im Übermaß verfügt.“ Und mit einer einer lächelnden Wendung zu Ulrich fuhr er fort: „Deshalb möchte ich, wenn unser junger Freund hier einverstanden ist, sich noch ein wenig zu gedulden, vorschlagen, Euch nunmehr zur Totenkammer zu führen, die beinahe nebenan liegt. Denn wie Ihr es auch betrachtet, mein lieber Sriver, eure große Erfahrung scheint uns zu wertvoll, als dass wir darauf verzichten könnten.“

Und mit diesen Worten geleitete er ihn hinaus, so selbstverständlich, als ob er ein zänkisches Kind zur besseren Einsicht führte. Nicht allein, dass der andere es willig geschehen ließ: Eben noch laut und zornbebend, schien unter den munteren Beteuerungen des Kaufmanns eine willige Stimmung bei ihm einzukehren, die man zuvor vergeblich gesucht hatte.

Lengsdorp kehrte bald darauf zurück, da er den Doktor endlich bei seiner Arbeit wusste. Die kurze Zeit, in der er allein im Raum weilte, hatte indes gereicht, Ulrich ob des Streits, den er unversehens heraufbeschworen hatte, in eine reumütige Stimmung zu versetzen. Er fand, das Vertrauen, das der Kaufmann in ihn gesetzt hatte, sei womöglich verspielt, noch ehe er überhaupt seine Arbeit begonnen hatte.

„Verzeiht bitte, wenn ich den Doktor mit meiner Rede verstimmt habe“, begann er, „wenn ich auch seine Ansichten keinesfalls teile, so war es doch töricht, solche Widerworte zu geben, da Ihr doch auf seine Dienste hofft.“

Lengsdorp schien seine Besorgnis jedoch nicht zu teilen, seine Miene war so gelassen wie zuvor. Er legte eine Hand auf Ulrichs Schulter und sprach mit flüsternd vertraulichem Ton: „Es war nicht eure Schuld. Verwünscht seien Waldmüller und von Büren, die mir heute in der Versammlung in den Ohren lagen, es sei das Gescheiteste, in der Schar der hiesigen Ärzte weit oben anzuklopfen und wenigstens den Physicus secundus herbei zu bitten. Andere hätten wohl besser gewusst, dass der Mann ein eitler Tropf ist. Aber sei’s drum. Er hat sich bequemt, nun doch zu Werke zu gehen, und wenn ich noch einige Schmeicheleien aufzutischen weiß, so werde ich am Ende gar einen von ihm niedergeschriebenen Bericht bekommen. Nur daran soll mir gelegen sein.“

Ulrich fühlte sich erleichtert. Er spürte, wie Dankbarkeit und Achtung für diesen Mann, den er doch kaum kannte, in ihm aufstiegen und schwor sich zugleich, bei künftigen Anlässen seinen Verstand auch dafür zu gebrauchen, die eigene Zunge besser zu hüten.

„Eines beschäftigt mich nun doch“, bekundete der Kaufmann seine Neugier. „Vorhin glaubte ich von Euch herauszuhören, dass selbst aus dem winzigen Leichnam eines Neugeborenen noch die Todesursache zu lesen wäre. Sollte das wahrhaft möglich sein?“

„Oh gewiss!“, antwortete Hesenius und freute sich über das Interesse, das er beim anderen geweckt hatte, „üblicherweise ergeht eine Untersuchung hierüber, wenn die Mutter unter dem Verdacht steht, sie habe ihr Kind gleich nach der Geburt getötet. Ein kundiger Arzt wird dann einzig die Lunge aus dem kleinen Körper entfernen und sie einer Schwimmprobe unterziehen. Es verhält sich nämlich so: Mit den ersten Atemzügen eines Kindes bei seiner Geburt bläst es all die vielen Verästelungen und Kammern des eigenen Lungengewebes auf. In einem solchen Fall wird sich in der Untersuchung zeigen, dass das kleine Organ leichter ist als das umgebende Wasser und an der Oberfläche schwimmt. Sinkt die Lunge hingegen nach unten, einfach weil das Gewebe schwerer ist als Wasser, so kann das nur bedeuten, dass die Lunge noch keine solche ist, der Säugling also nie geatmet hat. Das Kind wäre folglich bereits tot zur Welt gekommen und die Mutter von aller Schuld freizusprechen!“

Solcherart unterhielten sie sich eine Zeitlang, und da Hesenius Gelegenheit fand, dass er weitere nutzbringende Erkenntnisse aus der Welt der Anatomie schilderte, so staunte Lengsdorp allmählich, wie tief einige in der Medizin doch zu den Geheimnissen des Lebens vorgedrungen waren.

Schließlich wurde vom Gang her wieder das vertraute Schnaufen hörbar, das Sriver zu eigen war, und ihr Gespräch ward unterbrochen. Der unwillige Physicus hatte – in erstaunlich kurzer Zeit, wie Ulrich fand – seine Schau beendet.

Lengsdorp nickte Ulrich kurz zu, eilte auf den Gang hinaus, und während er mit Sriver einige belanglose Fragen austauschte, wusste er den korpulenten Mann zugleich wie zufällig so zu beschirmen, dass diesem ein neuerlicher Blick auf seinen jungen Kontrahenten verwehrt blieb. Der Doktor schien jetzt im Ganzen aufgeräumter Stimmung zu sein und des Kaufmanns vordringliche Sorge bestand darin, ihm nur ja keinen Anlass für weitere Händel zu liefern. Nach dem, was Ulrich vernahm, fand Sriver seine zuvor geäußerten Ansichten ganz und gar bestätigt, und so war er nicht allein zufrieden mit seiner Untersuchung, sondern wohl auch mit der Schnelligkeit, in der er sie vollbracht hatte. Einige Gesprächsfetzen drangen noch an sein Ohr, danach wurden die Stimmen der beiden beinahe unhörbar leise. Ulrich stellte sich bereits auf eine neuerliche quälende Wartezeit ein, doch Lengsdorp erschien gleich darauf noch einmal. Er war sichtlich in Eile, da er Sriver nicht lange allein lassen wollte. Der Doktor bedurfte schließlich einer Verabschiedung, welche seiner Eitelkeit Rechnung trug. Lengsdorp ermunterte Ulrich, nunmehr mit seiner eigenen Untersuchung zu beginnen.

„Hinter der vorletzten Tür, die Männer hier unten“ – er wies auf zwei Soldaten am Gangende, die gerade damit beschäftigt waren, eine lange Reihe von Stiefeln zu säubern – „sind angewiesen, Euch, wenn nötig, zur Hand zu gehen. Solltet Ihr noch weitere Fragen haben, so begebt Euch zu Hauptmann van Horn, den Ihr bereits kennengelernt habt. Ich selbst werde ebenfalls dort sein.“

Das war alles. Lengsdorp verschwand ebenso rasch wieder, wie er zurückgekommen war, und Ulrich dachte bei sich, dass nicht eben viele wohlhabende Kaufleute sich zu solchen Botendiensten herabgelassen hätten.

Er warf den beiden Burschen, die nahe der Totenkammer ihrer stumpfsinnigen Arbeit nachgingen, einen freundlichen Blick zu. Sie starrten regungslos schweigend zurück und gaben ihm dabei erst recht das Gefühl, er sei ein Besucher aus einer anderen Welt.

Die Kammer, die er nun betrat, war ebenso fensterlos wie viele andere Räume im Gewölbe, doch hatte man zwei große Leuchter herbeigeschafft und das Kerzenlicht beleuchtete den mit einem lockeren weißen Tuch verhüllten Körper, der ausgestreckt auf einer einfachen Bettstatt lag.

Er befand das Licht für ungenügend, ging kurzerhand vor die Tür, bat einen der beiden Männer, er möchte ihm noch einen kleinen Handleuchter besorgen, und schickte sodann den zweiten, eine Schale mit Wasser zu bringen.

Während er einige Utensilien aus seiner Tasche kramte, bemerkte er ein Bündel schmutzbefleckter und teilweise zerrissener Kleider, ein Paar Stiefel und Handschuhe in einer der dunklen Ecken der Kammer. Doktor Winckel, der am Vormittag die erste Untersuchung durchgeführt hatte, oder jemand anderes, musste sie dort abgelegt haben. Daneben lehnte eine einfache Tragbahre an der Wand, vermutlich jene, auf der man von Brempt in der vergangenen Nacht hierher gebracht hatte.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Betrachtungen. Einer der beiden Soldaten reichte ihm eine zur Hälfte mit Wasser gefüllte Schüssel. Der zweite hatte nur eine unhandliche Laterne auftreiben können, aber Ulrich nahm sie ergeben und bedankte sich. Er hätte hier unten den hellen Lichtkegel einer Schusterkugel gebrauchen können, aber es galt mit dem vorliebzunehmen, was die Männer herbeischaffen konnten.

Ulrich schloss die Tür, nahm das Tuch vom Leichnam und ließ das Bild des toten Heinrich von Brempt auf sich wirken. Er hatte viele unbekleidete Leichen gesehen, doch war er diesmal allein auf sich gestellt, auf eine Weise, die er zuvor noch nicht erfahren hatte. Beinahe fehlte ihm der eigentümliche, schwer zu beschreibende Leichengeruch, der während der Anatomiestunden im großen Schautheater der Universität hing. Er schrieb es der besonderen Kühle in den Kellergewölben zu, dass der Tote in dieser Hinsicht unscheinbar blieb. Die Stille des Augenblicks rief weitere Erinnerungen in ihm wach: an die allerersten Stunden, in denen er sich eigenhändig in der Sezierkunst üben durfte, und an den leichten Schauder, den er verspürt hatte.

In den Übungsstunden waren sie wenigstens zu zweit gewesen. Hier gab es keinen Mitstudenten, der sich der Aufgabe unterzog, seine laut gesprochenen Beobachtungen niederzuschreiben, aber er hatte Notizbuch und Griffel bereitgelegt und würde einfach abwechselnd den Leichnam untersuchen und die Resultate niederschreiben.

Er hatte nicht nach von Brempts Alter gefragt, aber der vor ihm ausgebreitete Körper konnte nicht älter als Mitte dreißig sein. Annähernd sechs Fuß groß, hatte die vormals zweifellos schlanke und athletische Gestalt an Fülle zugelegt, jedoch nicht im Übermaß. Wäre er von Brempt vor der Unglücksnacht begegnet, so dachte Ulrich, er hätte den Kaufmann zweifellos als eindrucksvolle Erscheinung wahrgenommen.

Die Augen des Toten waren friedlich geschlossen. Vorsichtig bewegte er ein Lid soweit, dass er einen Blick auf Iris und Augapfel werfen konnte. Anschließend vermochte er mit einiger Mühe Zunge und Mundhöhle einzusehen. Er fand keine Verfärbungen oder Schwellungen, wie sie von mancherlei Giften hervorgerufen werden, noch bemerkte er andere Eigentümlichkeiten.

Die Haut hatte im Ganzen jene unnatürlich helle, fast weiße Färbung angenommen, die sich üblicherweise mit dem Ableben einstellte und erst viele Stunden später, wenn die Totenstarre wieder ganz gewichen war, von einem wachsweichen fahlen Gelbton abgelöst wurde.

Jedoch herrschte dieser helle Hautton nicht überall vor. Nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hatte, bildeten sich durch das Absinken des Blutes am Leichnam Totenflecke aus. Statt der üblichen blauvioletten Verfärbung erschien die Haut hier an den betroffenen Stellen in einem stumpfen Rotton, aber Ulrich glaubte sich zu erinnern, dass eine kalte Umgebung diese Änderung bewirken konnte.

So war es nicht die Farbe, wohl aber die Art, wie die Flecke am Körper verteilt waren, die ihm ganz und gar ungewöhnlich dünkte. Während der Rumpf im Ganzen fast fleckenlos weiß erschien, waren Arme und Beine übermäßig betroffen, wobei er fast keinen Unterschied zwischen Vorder-und Rückseite feststellen konnte. Am Kopf waren vor allem Nase, Stirn, die Augenhöhlen und, so weit unter dem Haaransatz erkennbar, die obere Kopfhaut verfärbt.

Am dunkelsten aber erschienen Hände und Füße, und er notierte in lateinischen Stichworten, dass die Livores mortis sich distal häuften.

Nachdem er den Leichnam mit einiger Mühe auf die Seite gewälzt hatte, vermochte er einen Blick auf dessen Unterseite zu werfen: Auch an Schulter und Gesäß erschien die Haut fleckenlos weiß.

Daraus ließ sich schließen, dass von Brempt vermutlich auf dem Rücken liegend gestorben war oder wenigstens, dass er nach dem Tod längere Zeit in solcher Haltung dagelegen hatte, denn wo der Leichnam mit vollem Gewicht auf dem Untergrund ruhte, wurden alle Körpersäfte weggedrückt, und entsprechend konnte auch das Blut dort nicht mehr in die Haut austreten.

Etwas an dieser glatten weißen Haut dünkte ihn jedoch eigenartig, ohne dass er sogleich benennen konnte, was seinen Argwohn geweckt hätte. Er grübelte eine Zeit lang, ohne recht zu einem Ergebnis zu kommen und gestand sich endlich ein, alles sei normal. Doch kaum dass er dies in Gedanken ausgesprochen hatte, wurde es ihm bewusst, dass eben hierin das Eigentümliche lag.

Von Brempt sollte die Fleetbrücke hinab auf das Eis gestürzt sein, doch wo waren die Hinterlassenschaften eines solchen Sturzes? Ob an Becken, Schultern, Arm oder Bein: Nirgendwo schien die Haut abgeschürft oder geschwollen und verfärbt, wie es doch beinahe unvermeidlich geschah, wenn jemand einen schweren Sturz erlitten hatte. Streckte ein im Fall befindlicher Mensch nicht unwillkürlich die Arme aus, in dem Bemühen sich irgendwie abzufangen? Und doch bemerkte er weder Spuren einer Verstauchung noch gar Anzeichen dafür, dass Glieder gebrochen waren.

Wenn er die üblichen Veränderungen, denen jeder Leichnam unterworfen war, außer Acht ließ, so wirkte der ganze Körper nahezu unversehrt. Ulrich notierte nur drei kleine, eng begrenzte Blutmale unter der Haut des linken Handgelenks, deren Ursache er sich nicht recht erklären konnte, die andererseits aber auch nicht von der Gewalt eines Sturzes zeugten. Auch Hals und Nacken zeigten keine blutunterlaufenen Schwellungen, das Genick konnte keinesfalls gebrochen sein.

Allein am Hinterhaupt, etwa zwischen der Schädelmitte und dem rechten Ohr, klaffte jene Verwundung, die den Tod herbeigeführt haben musste. Er rückte beide Kerzenleuchter und seine Handlaterne so weit an des Kaufmanns Kopf heran, wie es möglich war, ohne dass er selbst geblendet wurde. Ausgetretenes Blut war in das dichte Haupthaar gesickert und hatte die Strähnen stellenweise zu schwärzlichen Klumpen verklebt, so dass ihm der Blick auf die darunter liegende Kopfhaut verwehrt wurde. Er tränkte ein Tuch mit Wasser aus der Schüssel, beträufelte die Klumpen wieder und wieder, um das Haar anschließend mit Hilfe einer kleinen Bürste, die er seinem Ranzen entnommen hatte, soweit zu lösen, dass er es auseinander streichen konnte. Schließlich glaubte er, Ausdehnung und Art der Kopfwunde erfassen zu können, und notierte mit rascher Hand die vor seinem Auge sichtbaren Einzelheiten.

Der Schädelknochen war auf gut zwei Zoll Länge und etwa in gleicher Breite zertrümmert und eingedrückt, jedoch war kein tiefes Loch entstanden, wie es etwa nach einem mit spitzer Waffe geführten Hieb der Fall gewesen wäre. Mit einer Pinzette ertastete er größere und kleinere Knochensplitter, die in der Wunde obenauf verblieben waren. Es war offensichtlich, dass der Kopf einen ganz und gar stumpfen, jedoch mit tödlicher Wucht auftreffenden Schlag erlitten hatte.

Die Wunde selbst sprach nicht gegen einen Sturz, doch fand er ihre Lage am Schädel eigenartig. Er versuchte sich verschiedene Arten vorzustellen, von einer Fleetbrücke zu stürzen, aber es gelang ihm nicht gut, und in den Bildern, die er heraufbeschwor, ruderte der Fallende stets verzweifelt mit den Armen und Beinen.

Aufflackerndes Licht riss ihn aus seinen Überlegungen. Wie um das Ende der Untersuchung anzumahnen, erlosch gleich darauf eine der bereits tief herabgebrannten Kerzen im Raum. Es war Zeit, die Beschau zu beenden. Den Körper wieder auf den Rücken zu wälzen, erwies sich als einfach. Er begann gerade seine Utensilien einzusammeln, als ihm einfiel, es könne vielleicht hilfreich sein, auch das in der Ecke abgelegte Kleiderbündel in Augenschein zu nehmen.

Doktor Winckel oder seine Helfer musste es Mühe bereitet haben, den Körper inmitten der Totenstarre zu entkleiden, wie er einer völlig zerrissenen Ärmelnaht am Gehrock entnehmen konnte. Beinkleid und Mantel des Toten waren feucht und klamm und überaus schmutzig. Breite, schwarze Schlieren zeichneten sich an Wollstoff und Leinen ab, und Ulrich fragte sich, warum die Soldaten den Leichnam achtlos durch allerlei Unrat geschleift hatten, ehe sie ihn auf ihre Bahre luden. Am Mantel waren selbst die Haare des gewiss kostbaren Pelzkragens schlammgetränkt und dadurch büschelweise verklebt.

Als er die umgeschlagene Innenseite des Kragens betastete, erfasste seine Hand modrige, dunkle Erdklumpen, vermischt mit kleinen Stein-chen, Blättern und Gras. Er wollte die Hand gerade wieder säubern, als ihm der Gedanke kam, wie doch selbst dieser Unrat von den Kleidern des Toten auf seine Weise eine Spur des nächtlichen Geschehens darstellte, welches den Ratsherrn ereilt hatte. Und da er mehr denn je den Wunsch verspürte, die Umstände dieses Todes zu verstehen, und diese Spur, wie er sich weiter sagte, eine solche war, die er endlich gar mitnehmen und in aller Ruhe zuhause betrachten konnte, so füllte er kurzerhand Proben des Schmutzes in zwei der vielen mit Stopfen verschließbaren Gläschen, wie sie in seinem Ranzen zu finden waren.

Gewiss, eine über Fragen der Medizin hinausgehende Untersuchung der Todesumstände gehörte nicht mehr zu seinen Aufgaben, doch er hatte das ungute Gefühl, dass sie am Ende niemandes Aufgabe sein würde, und der Gedanke verdross ihn.

Ulrich schätzte, dass er inzwischen eine knappe halbe Stunde mit der Untersuchung verbracht hatte: Es war nun Zeit aufzubrechen. Er löschte die bereits bedenklich flackernde Kerze auf dem zweiten Leuchter und trat einen Schritt zurück, seine Tasche aufzunehmen, doch ohne den Kerzenschein verschätzte er sich. Sein Fuß stieß mit einer unbedachten Bewegung die abgestellte Laterne um, und das letzte Licht in der Kammer erlosch. Er murmelte eine Verwünschung, kniete vorsichtig nieder und tastete mit der freien Hand über den Boden, bis er das warme Gehäuse aus Glas und Schmiedeeisen fühlte. Er dachte, wie doch das menschliche Auge allzu träge war für den plötzlichen Wechsel vom Licht zur Dunkelheit: Einige lange Augenblicke glaubte er noch den Widerschein des längst erloschenen Kerzenlichts zu sehen, ehe er das volle Ausmaß der Schwärze um sich herum wahrnahm. Er war eben im Begriff aufzustehen, als ihm zu Bewusstsein kam, dass etwas nicht stimmte. Die Finsternis hätte nun vollständig sein müssen, doch zu seinem Erstaunen war sie es nicht. Schemenhafte, fremdartig wirkende Konturen schälten sich aus dem Nichts. Unsicher blickte Ulrich zurück in Richtung der Tür. Ganz schwach zeichnete sich der Spalt zwischen ihrer Unterkante und dem Steinboden ab, doch der spärliche Widerschein des Gewölbes, der hindurch gelangte, reichte kaum einen Fuß weit in die Kammer und ringsum war nichts als lichtlose Schwärze. Der fahle Schimmer, den er wahrnahm, konnte nicht von dort herrühren, er verbreitete sich vielmehr direkt vor ihm, wie er nun feststellte. In einem kalten, grünlichen Schein erhoben sich schwache Formen aus der Dunkelheit und nahmen die Gestalt einer ausgestreckten Hand und schließlich eines ganzen Unterarms an.

Der Schrecken durchfuhr ihn so ruckartig, dass er sich nach hinten abstützen musste, wo seine Hand schmerzhaft in die noch immer heiße Laterne fasste. Längst verdrängte Schauergeschichten aus seiner Kindheit, in denen dämonische Gestalten aus einem nebelhaften Licht hervorlugten, stürmten auf ihn ein und verbreiteten eine Welle von Angst.

Er hätte rufen mögen, aber es war, als hielte die Erscheinung nicht nur seinen Blick sondern alle seine anderen Sinne gefangen. Er kauerte stumm und unbeweglich, wie in stiller Anbetung dieses Lichts, das so plötzlich und unerwartet aus der Finsternis gekrochen war.

Er zwang sich, ruhiger zu atmen und das Unwirkliche zu hinterfragen. Es gab keine Dämonen. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das fahle Licht blieb.

Er schloss sie erneut, diesmal für einige Sekunden, doch augenblicklich kehrte der Lichtschimmer zurück, als seine Lider sich hoben.

Er stand vorsichtig auf, löste seinen Blick von der Hand des Toten und bewegte sich mit großer Vorsicht zwei Schritte zum Kopfende hin. Der Lichtschimmer reichte nicht bis dorthin. Er ging zurück, tat zwei Schritte auf das Fußende zu und hatte das gleiche Erlebnis.

Allein sich zu bewegen und zu beobachten hatte gut getan. Der Schauder über das Unbekannte war verflogen, und er folgte jetzt einfach seinem Begehren, mehr zu erfahren, und zu verstehen, was hier in der Kammer vor sich ging.

Das Licht schien wahrhaftig seinen Ursprung von der Hand des Toten zu nehmen. Er führte seine Rechte nahe an die des Leichnams heran und vermochte in dem grünlichen Schein seine eigenen Finger so gut zu erkennen wie die des Toten. Die Haut fühlte sich, dort wo es schimmerte, ebenso kalt an wie anderswo, das Licht verbreitete anscheinend keine Wärme. Er begann, einzelne Finger der Totenhand mit einem Tuch abzudecken, und beobachtete, wie sich der Eindruck veränderte. Schließlich fand er, dass Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger als eigentliche Quelle der Erscheinung anzusehen seien, oder wenigstens hatten diese Glieder den Hauptanteil daran.

Die Dunkelheit ringsumher und das unwirkliche Licht vor seinen Augen verbreiteten eine seltsam entrückte Stimmung, in die er einzusinken begann, während sein Verstand das gerade Erlebte zu begreifen suchte.

Jäh fiel ihm ein, dass seine Entdeckung so befremdlich war, dass niemand von außerhalb sie ihm glauben würde. Er brauchte ein zweites Augenpaar, das sie bezeugen konnte, und er wusste nur einen Zeugen, von dem er sich wünschte, er wäre hier, um zu schauen, was er geschaut hatte.

Er stand auf, bezwang sich, langsam tastend zu gehen, um nicht aufs Neue zu stolpern, erreichte den Ausgang und öffnete die Tür. Die beiden Soldaten kauerten nach wie vor am gleichen Ort, und auch der Stiefelberg zwischen ihnen schien kaum verändert. Ulrich bat einen der beiden, sich rasch zu Hauptmann van Horns Stube zu begeben, und Hermann Lengsdorp noch einmal zu ihm zu bitten. Er hoffte inständig, der Kaufmann möge noch nicht gegangen sein, und verwünschte die Zeit, die er, in Gedanken brütend, allein in der Kammer verbracht hatte, ohne an das Naheliegende zu denken. Der Mann tat wie geheißen, und Ulrich nutzte die Wartezeit, um mit Hilfe des anderen Soldaten die erloschene Kerze in der Handlaterne neu zu entzünden. Dann erblickte er eine wohlgekleidete, vertraut aussehende Gestalt, die auf sie zu kam: Es war Lengsdorp, der sich sofort aufgemacht hatte und unterwegs gar Ulrichs Boten enteilt war. Hesenius bat seinen Auftraggeber, ihn in die Kammer zu begleiten, schloss die Tür und führte ihn vor den Toten.

„Was ich Euch zu zeigen habe, bedarf der Dunkelheit“ erklärte er und löschte sodann ohne weitere Vorrede das Licht. Die Finsternis umfing sie beide und entzog Ulrich allen fragenden Blicken des anderen.

„Wartet bitte einige Augenblicke und richtet eure Augen dabei einfach nur dorthin, wo Ihr im Laternenlicht die Hand eures toten Freundes erblicktet“, bat Ulrich.

Er hörte den anderen seufzend atmen, gleich darauf vernahm er ein Räuspern, dann aber folgte der Ausruf des Erstaunens, den er erwartet hatte.

„Was ist es?“ Die Frage kam flüsternd.

„Ich weiß es nicht“, bekannte Ulrich. Er vermochte jetzt im Widerschein des Lichts die Gesichtszüge Lengsdorps zu erkennen, der gebannt auf die Knie gesunken war, das Wunder aus der Nähe zu betrachten, und der nun zaghaft begann, die schimmernde Haut zu betasten. Doch sprang er im nächsten Augenblick so plötzlich auf, als hätte er unerwarteten Schmerz erlitten. Hastig keuchend wich er mehrere Schritte zurück, und als er zu sprechen begann, war die sonst so sichere Stimme mit Furcht beladen.

„Meint Ihr nicht, dass es, dass es … Verbreitung finden könnte?“

Ulrich verstand. Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Habt keine Angst! Was immer es sein mag, dieses Leuchten stellt keine Krankheit dar, die den Tod eures Freundes bewirkt hätte. Er starb, weil etwas seinen Schädel zertrümmerte. Eure Ärzte werden dies ebenso festgestellt haben wie ich selbst.“

Ulrich trat selbst nah an den Arm des Toten heran.

„Seht her“, sagte er und stellte befriedigt fest, dass Lengsdorp seinem Urteil offenbar vertraute, denn dieser hatte sich ebenso rasch wieder gefangen, wie er zuvor von Unruhe gepackt worden war, und beugte sich neuerlich ohne Scheu über die ausgestreckte Hand.

„Ihr werdet bei genauer Betrachtung feststellen, dass der Lichtschimmer seinen Ausgang vom Daumen und von diesen beiden Fingern nimmt, ja mehr noch von den Kuppen dieser Glieder, und mir scheint, dass dies keinen Zufall darstellt!“

„Was meint Ihr?“

„Ich meine, dass von Brempt vor seinem Tod etwas sehr kleines, leuchtendes … nun, was auch immer – ich will sagen, er könnte etwas zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten haben, etwa so“, sagte Ulrich und dabei führte er die Bewegung mit der Rechten aus, wobei ein Zoll Luft zwischen seinen Fingern verblieb, was gleichsam ein Bröckchen von jenem Unbekannten darstellte, das er zu beschreiben suchte: „Stellt Euch irgendetwas vor, das auf unerhörte Art leuchtet. Und ferner wollen wir annehmen, dieses Leuchten hätte sich, allein, indem es auf die beschriebene Weise angefasst wurde, an den besagten Stellen der Haut abgedrückt, nicht viel anders, als wenn jemand von uns unbedacht ein undichtes Tintenfass zur Hand nähme, so dass sich umgehend die Finger schwarz färben.“

Er sah Erstaunen aber auch Zustimmung in den Augen des anderen.

„Habt Ihr von einer solchen Begebenheit schon einmal gehört?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, … oder vielleicht, … ich hörte von einem Gerücht, wonach Boyle in Oxford einen edlen Stein besitzen soll, welcher bisweilen auf eine seltsame Art zu leuchten vermag. Aber ich habe nie vernommen, dass derlei Kraft sich auf die Haut eines Menschen übertragen hätte. Alles in allem muss ich Euch gestehen, dass ich in dieser Begebenheit nicht mehr als bloße Vermutungen zum Besten gebe. Doch sollte ich recht haben, so würde es uns vielleicht möglich sein, den Lichtschimmer wieder von der Haut abzuwaschen. ohnehin scheint mir, das Geheimnis, welches wir beide gerade gesehen haben, sollte tunlichst keine Verbreitung erfahren. Die Leute fürchten sich vor den Dingen, die sie nicht verstehen, und sehen alsbald Teufelskünste am Werk. Es möchte euren Freund am Ende übel beleumden, sollten sich Gerüchte verbreiten von einem höllischen Licht, welches seinem Körper anhaftete.“

Falls Lengsdorp noch Unschlüssigkeit und Zweifel in sich getragen hatte, so bewirkte allein die letzte von Ulrichs Überlegungen, dass diese verflogen.

„Was kann ich tun?“, fragte er, wie jemand, der Unterweisung von seinem Lehrer erhofft.

„Vorerst versucht bitte einfach nur eine Schüssel mit guter Seifenlauge und eine Bürste zu besorgen. Derweil werde ich während eurer Abwesenheit versuchen, ob sich nicht wenigstens eine kleine Probe des Schimmers von den Fingerkuppen abnehmen und aufbewahren lässt.“

Lengsdorp drückte nur kurz seinen Arm, sein Einverständnis zu signalisieren. Vor der Türe angelangt stellte Ulrich mit Erleichterung fest, dass die wortkarge Ergebenheit der beiden Soldaten im Gewölbe durch nichts zu erschüttern war.

Weder schienen sie sich darüber zu wundern, dass die Herren ein weiteres Mal das Licht ihrer Laterne verlöschen ließen, noch zeichnete sich eine Spur fragender Neugier in den Gesichtern ab, derweil einer von ihnen mit Lengsdorp auszog, die Lauge heranzuschaffen.

Im Licht der neu entzündeten Laterne mühte Ulrich sich wenig später mit einem kleinen Schaber, dessen Metallblatt einer stumpfen Schneide gleichkam, eine winzige Spur des nunmehr freilich wieder gänzlich unsichtbaren Lichtschimmers von den Fingern abzulösen und in einem weiteren seiner Gläschen aufzufangen. Er tat dies mit größter Vorsicht, da die Haut spürbar bereits alle elastische Spannkraft, wie man sie vom lebenden Gewebe gewohnt ist, verloren hatte.

Der Ertrag war am Ende kaum auszumachen. Hätte er nicht mit einem scharfen Skalpell noch etwas von den Fingernägeln abschneiden können, so mochte man ebenso glauben, das frisch verschlossene Glas in seiner Hand sei leer, doch war Ulrich sicher, dass er einige Hautschuppen hatte gewinnen können.

Es klopfte an der Tür, und gleich darauf trat Lengsdorp wieder in die Kammer, einen grob gearbeiteten Holzeimer vor sich her schleppend. Etwas von der hellgrau gefärbten, leicht dampfenden Lauge darin spritzte über den Steinboden, als er ihn absetzte und so weit zurecht schob, dass Ulrich mit der Waschung beginnen konnte. Die obenauf schwimmende Bürste war allerdings derart groß und klobig, dass sie nicht zu gebrauchen war. Bald hatte er seine kleine Taschenbürste wieder hervorgekramt, die für ihr Ansinnen weit besser geeignet schien. Es war die wohl seltsamste Waschung, die man sich vorstellen konnte, da sie bei Lichte besehen als überflüssiges Possenspiel erscheinen mochte. Weder war die Hand schmutzig, noch wollte sich durch das Waschen überhaupt eine sichtbare Veränderung einstellen.

Nach einigen Minuten in denen er die Finger wieder und wieder eingeseift und gestriegelt hatte, entbot sich Lengsdorp, ihn ablösen, doch Ulrich fand, dass die Haut unter der Behandlung, die er ihr angedeihen ließ, bereits gelitten hatte, und er fürchtete, sie möchte stellenweise endlich vom Fleisch reißen, und so erklärte er, dass sie es stattdessen wagen wollten, ein weiteres Mal das Laternenlicht auszublasen, denn ob seine Bemühungen den erhofften Erfolg erzielt hatten oder nicht, konnte allein die Dunkelheit ihnen verraten.

Als die Nachtschwärze sie ein weiteres Mal umfing, verspürte er den pochenden Herzschlag in seiner Brust. Er hörte die Atemzüge des anderen, der jetzt ebenso angestrengt in die Schwärze starrte wie er selbst, und hielt unwillkürlich seinen eigenen Atem an, als vermöchte dies seine Sinne zu schärfen.

Nichts.

Er schloss die Augen, öffnete sie wieder und wartete, wie er es in den beiden Malen zuvor getan hatte. Die Finsternis blieb unverändert. Sein Herz schlug jetzt langsamer, eine Welle der Zuversicht breitete sich in seinem Körper aus.

„Es ist verschwunden“, flüsterte Lengsdorp schließlich.

Ja, das rätselhafte, schimmernde Licht war von dem Toten gewichen. Wenn sie später von Brempts Leichnam herrichteten und ihn ins Totenhemd kleideten, so würde niemand mehr eine Spur dessen entdecken, was sie beide gesehen hatten, und er wusste, das war gut so.

Als Lengsdorp sich einige Minuten darauf von ihm verabschiedete, hatte sein Gesicht das einnehmende Lächeln wiedergefunden, mit dem er Ulrich gut zwei Stunden zuvor begrüßt hatte, und dies obwohl ihn der ungewollt lange Aufenthalt im Zeughaus, wie er erklärte, um eine recht bedeutsame Unterredung an anderer Stelle gebracht hatte. Sie verabschiedeten einander mit einem herzlichen Händedruck und Ulrich versprach, seinen Bericht zügig niederzuschreiben und dafür Sorge zu tragen, dass er dem Kaufmann so schnell wie möglich übereignet werde. Als Lengsdorp das Eingangsportal durchschritt, schien ihm noch etwas eingefallen zu sein, da er inmitten der Bewegung innehielt und sich ein letztes Mal umwandte.

„Hesenius?“

Ulrich blickte fragend in des anderen Gesicht. Nun, da auch für ihn eine Sache ausgestanden war, trat die Müdigkeit darin umso deutlicher hervor.

„Ihr habt Euch klug und besonnen verhalten. Ich bin sehr froh, dass ich Euch begegnet bin“, sagte Lengsdorp. Dann drehte er sich um und schritt hinaus durch das Tor.

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* Die Lebenden heilt unsere Kunst, nicht die Toten!

* Die Toten lehren uns, lebendig zu begreifen.

Das kalte Licht

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