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Neu-Isenburg, Waldstraße 128 –
Ulrich Boelsen und Hans Hayn

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„Es ist so, als ob jemand eine Handvoll Streichhölzer in die Nordsee wirft und hofft, eines Tages trocknet die Nordsee aus und jemand findet ein Streichholz, trocknet es, zündet ein Feuer an und wärmt die Welt damit.“

Günther Weisenborn, Die Illegalen131

Eine alte Mappe mit vergilbten Papieren zwischen Dachsparren in einem schlichten Haus in der Neu-Isenburger Waldstraße. Gisela Mauer, die heutige Besitzerin, findet die Mappe vor einigen Jahrzehnten zufällig. Möglicherweise gehörte sie einem sozialdemokratischen Lokomotivführer, der in der Nachkriegszeit einmal hier gewohnt hat. Ein kaum noch lesbarer Text auf vergilbtem Papier, der sich neben anderen Aufzeichnungen darin befindet, fesselt die Finderin so, dass sie ihn abschreibt. Er stammt von dem Neu-Isenburger Zahnarzt und Widerstandskämpfer Ulrich Boelsen, der ihn „wohl als eine Art Rechenschaftsbericht für die Amerikaner“132 verfasste. Nach der Befreiung Neu-Isenburgs durch US-Panzertruppen Ende März 1945 hatte zunächst ein amerikanischer Offizier das Kommando in der vom Krieg zerstörten Kleinstadt südlich von Frankfurt am Main übernommen. Doch schon wenige Tage später übergab er den Ärzten Ulrich Boelsen und Hans Hayn die kommissarische Leitung der Stadtverwaltung, bis eine reguläre Verwaltung die Arbeit wieder aufnehmen konnte.

Gisela Mauer leitet eine Abschrift des Textes an das Stadtarchiv in Neu-Isenburg und das fragile Original an einen noch lebenden Angehörigen des Zahnarztes weiter. In dem Text heißt es: „Wir alle haben nun die Folgen zu tragen, dass wir glaubten, so bequem die Verantwortung von uns abwälzen zu können auf ein Regime, das mit Feuer und Schwert sich den ganzen Kontinent unterjochen wollte und in allen besetzten Ländern Menschen zu Millionen ausrottete und versklavte.“133

Boelsen und Hayn gehörten zum Leuschner-Widerstandsnetzwerk und blieben unentdeckt. Die beiden NS-Gegner arbeiteten bis Kriegsende eng mit Gustav Kettel und Christian Fries zusammen. Als die Befreier einrückten, notierte Boelsen:

„Niemand hat das Recht, über (…) Härten zu klagen, die ihm jetzt der verlorene Krieg bringt. Der Großteil des deutschen Volkes hat dem siegenden Hitler zugejubelt und hat die Ohren verschlossen vor dem, was von dem Schreckensregiment in den besetzten Ländern durchsickerte. So haben wir jetzt für das Unrecht zu büßen, das wir an Millionen Europäern verschuldet haben. Erst nach der Erkenntnis und Sühne seiner Schuld wird Deutschland wieder einen Platz in der Familie der zivilisierten Völker einnehmen können.“134

Dass Boelsen das Kriegsende noch erlebte, war, wie bei vielen anderen Widerständlern, pures Glück, denn die illegalen Strukturen, in denen sie sich bewegten, wurden von Unterstützern des NS-Regimes schon Jahre vorher erkannt. So ging etwa am 12. Juni 1941 bei der Gestapo in Darmstadt eine Anzeige der NSDAP-Ortsgruppe Neu-Isenburg gegen eine Bürgerin der 15.000-Einwohner-Stadt ein, die als NS-Gegnerin denunziert wurde.135

Der Vorwurf lautete, die Frau und ihr Verlobter träfen in Neu-Isenburg Menschen, die den Hitlergruß verweigerten, wie der ehemalige Bibliotheksrat Wilhelm Weinreich, der nach seiner Entlassung als Beamter nun Versicherungspolicen verkaufen musste. Er begrüßte die Menschen mit „Guten Tag“ statt mit „Heil Hitler“. Mehr lag 1941 nicht gegen Weinreich vor. Und es dauerte noch über ein Jahr, bis der Denunzierte zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen Widerstandsgruppe in der Stadt wurde. Boelsen erinnert sich in den 1970er-Jahren an die Jahre 1943 und 1944:

„In dieser Zeit entstand unsere illegale Widerstandsgruppe, der neben Dr. Hayn und mir nur wenige Mitglieder angehörten. Des Risikos bewusst haben wir den Kreis sehr klein gehalten, kamen aber über unseren gemeinsamen Patienten, den blinden Dr. Weinreich, in Verbindung zu Herrn Kettel, der seinerseits Kontakte zu deutschen sozialistischen Organisationen in Großbritannien hatte. Durch ihn erfuhren wir das Losungswort, das uns nach dem Einmarsch der Amerikaner zu ihnen die Türen öffnete.“136

Nachdem Boelsen für einige Wochen auf Wunsch der amerikanischen Befreier als Bürgermeister amtiert hatte, bis sich ein erfahrener Kommunalpolitiker fand, der unbelastet war, arbeitete er auf Drängen der US-Kommandeure noch ein Jahr lang als Beigeordneter in der Verwaltung Neu-Isenburgs. Sein ehemaliger „Patient“ Wilhelm Weinreich schreibt 1947 an den jüdischen Emigranten Hermann Strauss nach Amerika, um von ihm Auskünfte über einen Nazi zu bekommen, der nach dem Verständnis Weinreichs ein zu mildes Urteil bekommen soll. In dem Brief erwähnt Weinreich auch seine Widerstandsarbeit. Er und seine Frau seien „heil durch das 1000jährige Reich gekommen […], obwohl uns der Ortsgruppenleiter einmal als Staatsfeind Nr. 1 bezeichnet hat und wir im letzten Jahr einen Freund aus Essen aufnahmen, der in die Revolte vom 20. Juli 44 verwickelt war und dem zuhause der Boden zu heiß geworden war“.137 Gemeint war Gustav Kettel. Weinreich war im Herbst 1944 auch über den Kontakt informiert, den Kettel zu Josef Kappius aufgenommen hatte. Kappius war vom OSS (Office of Strategic Services), dem Nachrichtendienst des US-Kriegsministeriums, angeworben worden, um unter anderem die Sabotage der Rüstungsproduktion im Ruhrgebiet zu organisieren.138

In der Nacht vom 1. auf den 2. September 1944 wurde Kappius mit einem britischen Lancaster-Bomber nach Deutschland geflogen. Er sprang über dem Emsland mit dem Fallschirm ab, reiste mit gefälschten Papieren nach Bochum und traf im Ruhrgebiet auch Kettel. Kappius reiste unter dem Decknamen „Wilhelm Leineweber“ als Bauingenieur und Truppführer der Organisation Todt unbehelligt durch die Lande. Die Neu-Isenburger Widerstandsgruppe, die nach dem 20. Juli 1944 auch Kettel und Fries aufnahm, war informiert. Fries schreibt 1947: „Wenn ich mich auch nach dem missglückten Attentat auf Hitler etwas reserviert verhalten musste, gelang es mir jedoch recht schnell, wieder Anschluss an eine andere Widerstandsgruppe zu finden. Die von Dr. med. Hans Hayn, wohnhaft Neu-Isenburg, Waldstraße 128.“139

Gegen Kriegsende, so erinnert sich Boelsen, habe man versucht, die Sprengung der Frankfurter Mainbrücken durch deutsche Truppen auf dem Rückzug zu verhindern. Man habe Plakate gedruckt, auf denen Frankfurt zur „offenen Stadt“ erklärt wurde:

„Kriminalrat Fries wollte diese durch seine Leute in Frankfurt anschlagen nach einem von uns ausgearbeiteten detaillierten Plan. Doch im entscheidenden Augenblick wurde Fries mit seiner Mannschaft in den Vogelsberg versetzt, unser Vorhaben fiel ins Wasser, samt den Mainbrücken. Eine völlig sinnlose Zerstörung – in kürzester Frist hatten die amerikanischen Pioniere Notbrücken errichtet und der Vormarsch rollte weiter.“140

In der Dokumentensammlung des Neu-Isenburger Stadtarchivs befindet sich auch das Protokoll einer „Erinnerungsbefragung“ der Medizinerin Trude Dreiling aus dem Jahr 1978. Dreiling war 1944 mit dem Arzt Hans Hayn verheiratet. Laut ihrer Aussage gehörten „an die 100 Leute“ zum „Bekanntenkreis“ rund um die Gruppe ihres „damaligen Mannes […], sogar einige nominelle Mitglieder der NSDAP“.141 Es hätten Kontakte zu „ähnlichen Gruppen in Frankfurt“ existiert, „wo es Männer gab, die von den Vorbereitungen zum 20. Juli 1944 wussten. Andererseits liefen über einen Verbindungsmann Fäden zur Union deutscher sozialistischer Organisationen in England“. Dreiling nennt die Namen nicht, doch höchstwahrscheinlich war die Rede von Kettel und Fries. Die gemeinsame Arztpraxis mit ihrem Mann sei zum zentralen Handlungsort der Widerstandsgruppe geworden:

„Auf einem Vervielfältigungsapparat in unserer Arztpraxis [wurden] Flugblätter hergestellt, die wir über Briefkästen verteilten. Schließlich wurde Durchreisenden, die ein bestimmtes Kennwort zu nennen wussten, Verpflegung und Nachtlager gewährt. […] Diese Aktivitäten wurden wohl aus zwei Gründen nicht entdeckt. Einmal wirkte die Arztpraxis, wo Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen und gehen, als eine gute Tarnung. Schließlich können auch Ärzte selbst jederzeit zu Hausbesuchen unterwegs sein. Der zweite Grund war die Schutzfunktion, die der Polizeibeamte Hedderich ausübte. Es war wichtig, jemand zu haben, auf den man sich in dieser Hinsicht völlig verlassen konnte.“142

Hedderich ist zwar nicht auf der Liste der Mitverschwörer aus Frankfurter Polizeikreisen verzeichnet, die Christian Fries nach dem Krieg erstellte, doch findet sich dort eine andere Person, die Dreiling zum „aktiven Kern“ der Gruppe in Neu-Isenburg zählte: „Wilhelm Reitz, wohnhaft in Neu-Isenburg, Waldstraße 130“.143 Reitz wohnte 1944 direkt neben Hans Hayn, der auch noch lange nach dem Krieg in der Waldstraße 128 seine Arztpraxis weiterbetrieb.144

Im Jahr 1991 verlieh die Landesärztekammer Hessen Hayn eine „Ehrenplakette“145, nicht dafür, dass seine Arztpraxis ein bedeutender Konspirationsort gegen die Nationalsozialisten war, sondern für seine „Pionierarbeit“ auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin und der Berufspolitik nach dem Krieg.

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