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Der Bote aus Frankreich
Freitags nach der Schule schlenderte ich wie gewohnt zum Schaufenster von Herrn Heinrichs Buchhandlung und guckte mir die Neuerscheinungen an. Von all den vielen Titeln, die ich Woche für Woche in Augenschein nahm, ist mir am lebhaftesten ein fremdartig klingender Name in Erinnerung geblieben: Lancelot, und als Untertitel sein Beruf, wie es mir schien: Der Bote aus Frankreich. Über dem rätselhaften Namen prangte das Bild eines Ritters in blanker Rüstung, hoch zu Roß, mit Schwert an der Seite und aufflatternden Wimpeltüchern in der linken Hand.
Es war eine Zeitschrift, die mit Titel und Titelbild so anziehend auf mich wirkte, daß ich nicht widerstehen konnte und sie mir kaufte – für eine Reichsmark fünfzig, obwohl ich jeden Pfennig dreimal umdrehen mußte, bevor ich ihn aus der Hand gab. Ich war zwanzig, besuchte das Lehrerseminar von Saarbrücken, hatte den »Parzival« gelesen und Gedichte über Tristan und Isolde geschrieben, konnte aber nicht ahnen, daß der Name Lancelot mich in meinen Vorstellungen weiter führen würde als alle anderen Heldennamen des Mittelalters. Die Herkunft seines Namens konnte mich nicht verleiten, an grausames Töten zu denken, ich sah den Ritter im ehrbaren Lanzenspiel eines Turniers –, und wie sich später herausstellte, legte er im Turnier von Pomiglei die Lanze beiseite und zog den Helm aus, weil die Königin ihn gebeten hatte, sich im wüsten Ritterspiel zurückzuhalten. Bei der Heimfahrt von Saarbrücken fing ich in der Zeitschrift zu lesen an, erwischte den zweiten Teil eines Romans in Fortsetzungen, vergaß überm Schmökern in Sulzbach auszusteigen, überfuhr eine Station –, erst beim Erreichen des Tunnels zwischen Friedrichsthal und Bildstock war ich am Ende der Fortsetzung angekommen.
In diesem Roman tritt ein kleiner Junge auf, der an einem Goldteich lebt, wo er die seltsamsten Abenteuer besteht, die er selbst erzählt. Ich wollte unbedingt wissen, was es mit diesem Jungen auf sich hatte. Sollte es etwa der junge Ritter Lancelot sein, der ja auch von einem Teich herstammt und sich jetzt in voller Rüstung auf dem Titelblatt einer Zeitschrift präsentiert? Dieser Ritter Lancelot mußte etwas ganz Besonderes gewesen sein: schon sein Name ist ja kein gebräuchlicher Vor- oder Familienname. Bevor ich die Aufsätze und Gedichte der Zeitschrift zu lesen begann, schlug ich im Duden nach. Ich fand nichts als den Namen, dahinter in Klammern eine Abkürzung, die so viel wie Familienname bedeutet. Erst der Volks-Brockhaus meiner Freundin Brigitte klärte mich auf: Lancelot vom See, Held des Sagenkreises von König Artus, einem anglo-normannischen Heerführer aus dem sechsten Jahrhundert. Zwölf der tapfersten Ritter saßen bei König Artus an der runden Tafel, außer Lancelot auch Parzival und Tristan, Erik und Iwein, speisten, tranken und redeten miteinander –, wie es der Dichter Chrétien de Troyes in seinem Buch über Lancelot erzählt.
Doch ist dieser Lancelot auch wirklich der kleine Junge vom Goldteich, fragte ich mich, las den Fortsetzungsroman noch einmal und wünschte mir, daß es so wäre. »Die Küste vom Grand-Travers war ein goldener Strich«, las ich, »ich ließ mich nach Westen treiben im vollen Bewußtsein meines Glücks. Ich fuhr den Ufern entlang, alles war für mich Erforschung, Entdeckung.« Demzufolge wähnte ich die Lagunen von Aigues-Mortes und die Dächer von Pérols hinter den bretonischen Wäldern an der Nordküste Frankreichs. Dort war nämlich König Artus von England her an Land gegangen, um ganz Europa zu erobern. Mich kümmerten keine geographischen Fakten, keine historischen Tatsachen, ich folgte der Erzählung des Dichters, der ja dem Leben seiner Wörter den Vorrang vor allen schon längst bekannten und benannten Dingen gibt, vertraute dem Wortlaut seiner Geschichte und spielte unbedenklich mit. Die Vorstellung, es könnte der kleine Lancelot vom See ebensogut wie der Junge vom Goldteich sein, ließ keine Zweifel aufkommen. Ich sah sie beide, einmal den einen, einmal den anderen bei den Fischern, den Jägern, den Hüttenleuten, in deren Gesellschaft sie sich wohlfühlten, so daß sie schließlich für mich ein und derselbe waren. Den einfachen Nachbarn vertraute er sich ohne Zögern an, sie versuchten nicht, in sein Leben einzudringen. Er teilte mit ihnen seine Ansichten über die Natur, über das Leben, über den Teich. »Bei ihnen schämte ich mich weder meiner dunklen Gefühle, noch meiner dunklen Hautfarbe«, erzählte er, »nur einen Winkel, nur einen Namen hielt ich geheim.« Noch machte ich mir keine Gedanken über den Namen, den er verschwieg, über die Hautfarbe, die ihn zum Außenseiter werden ließ.
Es war das Jahr 1947, der Hunger groß, nicht nur nach Brot und Kartoffeln. Da kam dieser Lancelot im rechten Augenblick und stillte meinen Appetit auf Ungenossenes, das mir bislang fremdgeblieben war. Lancelot, der Bote aus Frankreich, brachte mir Nachrichten aus einem Land, mit dem wir viele Male verfeindet und in schreckliche Kriege verwickelt waren. Obwohl bis an die Zähne bewaffnet, kam dieser junge Ritter in friedlicher Absicht dahergesprengt, stieg von seinem Roß, schlüpfte in die Haut eines kleinen Jungen und war der Bote jener Erzählung vom Goldteich, war der Bote anregender Aufsätze über die Logik der Begriffe und die Logik der Symbole, über die wohlbedachte Eintracht von Vernunft und Phantasie.
Und er war der Bote eines Gedichts, wie ich es nur von deutschen Barockdichtern in Erinnerung hatte, eines feierlichen Liedes, wie es nicht nur in dieser Zeitschrift zu lesen war, sondern auch in meinem Lesebuch hätte stehen können. Es ist ein Sonett, in französischer Sprache und deutscher Übersetzung, das in festgefügten Versen »das große Menschenmorden in der Völkerherde« beschwört. Ich dachte sogleich an den gerade zu Ende gegangenen Krieg, noch tönten mir Sirenengeheul und Bombenhagel in den Ohren. Da es aber ein Gedicht von Jean-François Sarrazin aus dem Dreißigjährigen Krieg war, rief es mir die »Trauerklage« und die »Tränen des Vaterlandes« von Andreas Gryphius in Erinnerung, die das gleiche Leid besingen. Gleiche Sorgen, gleicher Trauergesang: zum erstenmal bedeutete mir diese Botschaft aus Frankreich mehr als nur eine flüchtige Nachricht aus einem anderen Land –, und ich schaute mir den Ritter Lancelot auf dem Zeitschriftendeckel ganz genau und mit staunenden Augen an.
Bevor ich zu dem kleinen Jungen an den Goldteich zurückkehrte, las ich einen Aufsatz von Pierre Emmanuel: »Dichtung als glühende Vernunft«. Und wieder war ich überrascht; ich wehrte mich, in Bezirke entführt zu werden, in denen ein anderer Wind weht als hierzulande. Dichtung als glühende Vernunft! Damit stieß mir der Bote aus Frankreich gewaltig vor den Kopf. In der Schule hatte ich gelernt, daß die Vernunft wenig mit der Dichtung zu tun habe und die gemütvolle Dichtung ihrerseits zu schade sei, sich in die herzlose Vernunft zu verstricken. »Eine wohlbedachte Übereinkunft mit der Phantasie«, las ich bei Pierre Emmanuel, darin bezeuge sich die dichterische Gewissenhaftigkeit. Ich lernte, meine Phantasie zu belauschen, das Spiel der Träumereien zu bespitzeln, denn nichts sei ärgerlicher als jenes Vorurteil, das die Dichter ausschalte, sobald man Angelegenheiten der Vernunft berühre, schreibt Pierre Emmanuel. Glühende Vernunft, gewissenhafte Phantasie! Schon spielte ich mit den Begriffen und brachte sie in meinem Kopf zusammen: Energie und Form, vereinigt in einer und derselben Wirklichkeit der Poesie.
Von Anfang an herrschte dieses eigentümliche Zusammenspiel in der Geschichte vom Goldteich, der ebensogut hinter den Lagunen des Mittelmeers liegen konnte wie hinter den Klippen des Nordmeers. Nun waren der junge Lancelot vom See und der Knabe vom Goldteich untrennbar ineinander verwandelt. Das Mittelalter war unbemerkt in die Neuzeit übergewechselt: hier wie dort musizierten die Rohrdommeln ungestört im Schilf, spazierten die Schafe unbekümmert über die Weiden, verknorzte Ölbäume ächzten unter den Äxten und verrostete Wasserwinden knirschten an den Brunnensteinen. Wie zu König Artus’ Zeit beschimpften sich gegenseitig Weiße und Rote, »manche haben, ach und weh, den ritterlichen Tugendeid vergessen«, klagt Lancelot vom See; »man hätte meinen können, es gäbe auf dem Teich Vergewaltigungen und Massenertränkungen«, jammert der Junge vom Goldteich –, und ich erkannte nach und nach, daß ich mich sowohl in einem klassischen wie in einem modernen Roman befand. Ich las eine Geschichte, in der ein Junge zum citoyen heranwächst, von einem Jüngling, der zum Ritter erzogen wird. Ein festliches Ritual beschließt den Austritt aus der Kinderwelt. Flageolett und Saxophon spielen zur Farandole auf, es wird getanzt und getrunken, doch wer ist es, der des Guten zuviel tut und erschöpft das Fest verläßt? Ist es der Junge vom Goldteich, oder ist es Lancelot vom See, der gekräftigt zurückkehrt und die Polonaise fortsetzt?
Meine Besessenheit, das Mögliche mit dem Unmöglichen auf Teufel komm raus zusammenzubringen, brachte meinen Freund Walter, der sonst der ruhigste Mensch der Welt ist, fast aus der Fassung: er fürchtete, ich könne das Wirkliche aus den Augen verlieren. Ingrimmig versuchte er, mich von meinem Wahn zu heilen. Auch er hatte im Boten aus Frankreich die Geschichte vom Goldteich gelesen, auch ihm waren die Legenden um König Artus und seinen Ritter Lancelot vertraut. »Wenn du unbedingt wissen willst, worum’s tatsächlich geht, dann mach dich auf die Socken und reise nach Frankreich«, riet er mir, »ob du allerdings diesen provenzalischen Jungen an seinem Goldteich finden wirst, ist sehr fraglich, eher findest du den braven Lancelot an seinem See.« Tatsächlich dauerte es nur noch kurze Zeit, bis sich die Fremdenwerbung der Bretagne um die touristische Vermarktung dieses Wassers stritt.
Walter gelang es, mir die Nase lang zu machen. Bald roch ich den salzigen Dunst des Wassers, sah Hahnenfuß fluten und Seerosen flirren, sah in bunten Wunschbildern einen geheimnisvollen See vor meinen Augen. Ich durchstreifte in Gedanken Schluchten mit unzugänglichen Weihern, steuerte Schlösser an, deren Mauern von verwunschenen Teichen gesäumt sind. Schließlich machte ich mich auf den Weg, damit ich davon erzählen könne. In den kommenden Jahren stellte ich die ganze Bretagne auf den Kopf, von oben nach unten, von rechts nach links, kehrte das Hinterste nach vorn, lockte meine Reisebegleiter in das arkadische Wäldchen von Beg-Meil, folgte ihnen zu den Steinalleen von Carnac, verschwand mit meinem Freund Hans in Gauguins Zauberwald von Pont-Aven. Doch nirgends schlug sich ein Lancelot durch die Büsche, sprang hinter einem Felsblock hervor, tauchte aus dem Meerwasser auf und stand urplötzlich vor uns. Was tun?
Als Sohn des in der Schlacht getöteten Königs Ban geraubt, entführt und zu einem wundersamen Leben erweckt von der Fee Viviane, wächst Lancelot in der Tiefe eines Sees auf, erzählt der Dichter Chrétien de Troyes –, ohne den See beim Namen zu nennen. Ich spitzte die Ohren und lauschte der Lebensgeschichte eines Waisenknaben. Chrétien erzählt so spannend und so anschaulich, daß ich mir einbilde, seine Stimme zu hören. Über viele hundert Seiten erzählt er von Liebe und Treue, aber auch von Haß und Verrat. In sportlichen Ritterspielen, aber auch im todbringenden Schlachtengetümmel reiten Lancelots Kampfgenossen gegeneinander an wie die Landsknechte in Sarrazins Gedicht aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ich war erstaunt, wie einfach es ist, schwere Schuld und alle Sünden loszuwerden, man müsse nur ein langes Bittgebet, mit Herzblut erfüllt und fehlerfrei formuliert zum Himmel senden wie der zu Tode getroffene König Ban.
Ich las nicht mehr, als wäre ich noch der kleine, von Märchen verzückte Junge. Im Gegenteil: mir kribbelte es in den Fingerspitzen, denn was ich da las, hätte ich gern selbst geschrieben und nach eigenen Vorstellungen weitererfunden. Doch ich beherrschte mich und ließ mich in die Geschichte ein, die ich mir nach meinen verrückten Ideen fortspann. Es drängte mich, mehr von diesem Lancelot zu erfahren, und bald wußte ich, daß mir nichts anderes übrigbleiben würde, als mich auf seine Fersen zu setzen. Ich freute mich auf Reisen zu ihm in ein mir noch unbekanntes Land.