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DAS BUCH VON WIEN
ОглавлениеEpilog am Anfang
Nichts ist schwerer als ein intimes Buch über eine Stadt zu schreiben, die man ganz intim kennt, weil man hier geboren und aufgewachsen ist. Von selbst hätte ich dieses Buch über Wien bestimmt nie geschrieben. Aber da erschien im vergangenen Herbst der Dr. Freund vom Piper-Verlag in Wien und überfiel mich ahnungslosen Skizzenschreiber mit der Frage: »Wollen Sie ein Buch über Wien schreiben?« Dazu kam noch, dass er mir einen Vorschuss an die Brust setzte und dass meine Frau dringend einen Pelzmantel benötigte, um jene Blößen zu decken, die zu den wichtigsten Bestandteilen eines modernen Abendkleids gehören. Aus allen diesen Gründen lief ich nicht gleich davon, sondern hörte dem Dr. Freund zu, als er mir seine reizende Idee entwickelte: eine Serie von Büchern über die Hauptstädte Europas. Leitmotiv: Was nicht im Baedeker steht.
Und ich sollte das Buch über Wien schreiben, was doch für mich, den konzessionierten und langjährigen Beobachter und Schilderer der Wiener Dinge und Menschen ein Leichtes sein müsse, direkt eine Spielerei und ein Vergnügen …
Na ja … aber es ließ sich nicht viel dagegen einwenden und ich sagte zu, das Buch in zwei, drei Monaten zu schreiben: 16 Bogen oder 256 Druckseiten. Diese Ziffern legten sich mir schwer aufs Gemüt. Um Gottes willen, wie soll ich 256 Seiten lang fortwährend über Wien … Aber dann tröstete ich mich rasch: Wozu schreibst du seit 20 Jahren über Wien? Nichts Wienerisches ist dir fremd, über alles hast du schon irgendwie und irgendwann geschrieben, namentlich am Sonntag in der Neuen Freien Presse. Und da du zwar Berufsschriftsteller, aber ein sehr ordentlicher Mensch bist, hast du doch alle diese Sachen aufgehoben und schön nach Jahren geordnet. Nun wirst du sie also wieder hervorholen, durchlesen, zusammenstellen, ein bisschen was dazu, ein bisschen weg und das Buch über Wien ist fertig …
So gründlich bin ich schon lang nicht aufgesessen. Als ich in meinen alten Sachen blätterte, da merkte ich, dass dieses Wien der letzten 20 Jahre zum größten Teil gar nicht mehr da ist, dass mir die meisten Objekte meiner Beobachtung, Schilderung und Ironie abhandengekommen sind: demoliert, veraltet, entwertet, abgebaut, verschwunden. Der große Trennungsstrich zwischen den zwei Zeitaltern: vor dem Krieg und nach dem Krieg, der durch die ganze Welt geht, den hat die Zeit, das Schicksal nirgends so kräftig gezogen wie durch das Wiener Leben. Der ärgste Sieg hätte uns nicht so heftig verändern können wie unsere überwältigende Niederlage, wie diese Liquidation der alten GmbH Österreich-Ungarn. Das Unternehmen hat sich aufgelöst, aber das Wiener Zentralbureau funktioniert im Leerbetrieb weiter.
Nein, mit den alten Skizzen ist nichts anzufangen. Dieses Buch muss ganz neu geschrieben, diese Stadt ganz neu gesehen werden. Den Teufel auch, das ist keine leichte Aufgabe: alle die Dinge frisch sehen, die man durch täglichen Anblick gar nicht mehr bemerkt; das Gewohnte und Selbstverständliche charakteristisch schildern, alles erklären, nichts Wichtiges vergessen. Noch nie habe ich bei einer Arbeit so viel geächzt und geflucht: über Wien, über den Verlag, über den Pelzmantel meiner Frau. Hoffentlich merkt man’s dem Buch nicht zu sehr an …
Und schließlich fing die Sache an, mir stellenweise Spaß zu machen. Es ist ja etwas komisch, wenn man sich einer Stadt, in der man seit soundsovielvierzig Jahren zu Hause ist, plötzlich aufmerksam und interessiert nähern soll. So als ob man nach zehn Ehejahren wieder in seine Frau frisch verliebt ist und ihr den Hof macht. Ist auch nicht das Ärgste. Es kann sogar sehr nett sein. Während ich alle Kreise des Wiener Lebens durchwanderte, lernte ich selbst alles noch einmal kennen, staunte über Neues und machte allerlei Entdeckungen. Unter anderen auch die, was für eine merkwürdige, reizvoll gemischte Stadt dieses Wien ist, wie leicht und schwer, wie selbstverständlich und kompliziert ihr Wesen. Und auch die Entdeckung: dass ich wahrscheinlich nirgendwo anders leben möchte, leben könnte, als hier, wo das Leben oft so unerträglich ist.
Was mich aber am meisten an diesem Buche gereizt und interessiert hat, das war die Aufgabe: einmal jenes Wien zu zeigen, das nicht im Baedeker steht und in den sonstigen Handbüchern der Schlagworte und Redensarten. Denn über keine andere Stadt der Welt sind so viele Schlagworte und Redensarten im Umlauf. Nette und anerkennende: alte Kultur, weiche, lässige Grazie, Zauber des Barocks, Musik in der Luft, lächelnde Anmut der Frauen … schrecklich, wenn man das, so wie ich, seit Jahren immer wieder anhören und lesen muss. Und die geringschätzigen Redensarten: unseriös, unsachlich, spielerisch, arbeitsscheu, charakterlos. Das mag alles noch so richtig und falsch sein, egal. Aber warum steht in allen Büchern und Betrachtungen über Wien nie etwas anderes? Nicht eine Ahnung, eine Andeutung, dass es außer dieser überlieferten Redensartenstadt doch noch ein anderes Wien gibt, ein wirkliches, lebendiges, gewöhnliches, mit Menschen, die alle diese Redensarten längst ausgewachsen haben, wie ein großer Bub seine Anzüge. Und wenn ich nur dieses eine getroffen habe: durch das von Schlagworten und Redensarten verrammelte Baedeker-Wien hindurchzukommen zum wahren Wien, wenn ich dem Fremden nur einen ungefähren Begriff davon gebe, wie wir, ohne Reisepedanterie, ohne Literatur und Schmockerei gesehen, tatsächlich und tagtäglich sind, dann ist mir dieses Buch nicht ganz danebengelungen.
Aber immer allein umhergehen und allein in Lokalen sitzen, das habe ich nicht ausgehalten. Darum habe ich mir eine nette Begleitung gesucht und erfunden, und das sind Sie, mein Herr Leser und Sie, meine Frau Leserin. Sie sind zwei Fremde, die zum ersten Mal nach Wien kommen. Ein Herr und eine Dame, die gar nicht zusammengehören, aber ich, der Autor, habe mir erlaubt, Sie beide für die Dauer dieses Buches ein bisschen miteinander zu verheiraten. Welchen Gebrauch Sie davon machen, das geht mich nichts an, auch nicht, ob Sie nach der letzten Seite sofort gehässig auseinandergehen, was ja heutzutage in den glücklichsten Ehen vorkommt. Die Hauptsache ist, dass wir uns bei dieser Wiener Wochenehe zu dritt viel leichter tun werden: beim Spazierengehen, beim Anschauen und Unterhalten. Der Herr Gemahl interessiert sich mehr für die seriösen Dinge: Kunst, Technik, Wirtshäuser, und die gnädige Frau wieder für die leichteren, vom Einkaufen bis zum Tanzen. So gehen wir einmal zu dritt, dann wieder zu zweit und werden uns herrlich vertragen. Manchmal aber gehe ich auch ganz allein: wenn ich ein bisschen empfindsam werden will oder ausfällig. Das wird sich schwer vermeiden lassen. Ein bisschen Gereiztheit, Ironie und Skepsis darf in einem Buch über Wien nicht fehlen, sonst wäre es nicht echt.
Über Wien kann man nur unpathetisch schreiben, mit einem lächelnden und einem nörgelnden Auge. Auch auf diese Art kann man von einer Stadt begeistert und in sie verliebt sein. Und vielleicht ist es nicht einmal die schlechteste Art. Wer wirklich liebt, singt keine Liebeslieder.
Wien, Faschingssonntag 1927
Ludwig Hirschfeld