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ISS GUT UND BLEIB SCHLANK – WENN DU KANNST

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Der Sacher. – Die Schöner. – Kursalon. – Die verdeutschte Speisekarte. – Trinkgelder. – Das Bierbeisl.

Das ist ein sehr gewöhnliches Kapitel, bei dem nicht viel literarische Ehren zu holen sind: das Essen … davon sprechen bekanntlich gebildete und feinsinnige Leute nicht. Aber kann ein Fremder den ganzen Tag gebildet und feinsinnig sein? Kann er ununterbrochen Kirchenfenster und Barockportale bewundern, bis er die Genickstarre kriegt und ihm die Redensarten ausgehen? Und vor allem: Wie soll er diese Bildungsstrapazen aushalten, wenn er den Leib nicht entsprechend stärkt? Außerdem ist das richtige, verständnisvolle Essen und Trinken in einer fremden Stadt ein viel schwierigeres Problem als das Kunstwandern durch Kirchen und Museen. Alles, was man dort gesehen haben muss, hat im Reisehandbuch seinen Stern, seinen Doppelstern. Man weiß also, bevor man noch hingesehen hat: Aha, das ist eine Sehenswürdigkeit, darüber werden zu Hause Onkel Fritz und Tante Ida von mir Rechenschaft fordern. Aber die Sterne der Gasthauswelt, die kann man nicht aus dem Baedeker erfahren. Er ist ja auch hier gewissenhaft wie immer und zählt die erstklassigen und die guten Lokale auf, aber für eine so feuchte Angelegenheit viel zu trocken. Restaurants, Gasthäuser sind keine Sehenswürdigkeiten, sondern Essenswürdigkeiten, und die kann man nur nach eigenem Geschmack herausfinden. Gut essen und trinken ist auch eine Kunst, und eine solche Kochkunstwanderung wird Ihnen gerade in Wien viel mehr von der »Landesart und Sitte« erzählen als sämtliche Kirchenfenster und Barockportale. Mit einem Wort: Lassen wir die Bildung und die Feinsinnigkeit einmal beiseite und sprechen wir ruhig vom Essen.

Wo soll man diese Kochkunstwanderung beginnen? Natürlich, da entsteht zwischen Ihnen sofort wieder eine eheliche Differenz. Ängstlich und korrekt, wie Männer meistens sind, verweist er auf die Inschrift im Hotelzimmer: »Falls die Hauptmahlzeiten nicht im Hotelrestaurant genommen werden, erhöht sich der Zimmerpreis um 25 Prozent.« Unserer reizenden Gnädigen ist das aber ganz egal, denn erstens weiß sie gar nicht genau, wie viel 25 Prozent sind und überhaupt erklärt sie dezidiert: »Ich will nicht immer in dem langweiligen Hotelrestaurant speisen. Das ist in der ganzen Welt dasselbe. Ich möchte in ein mondänes Lokal gehen, wo man Leute sieht.«

Wie wäre es mit einem Kompromiss: Das erste Mal essen wir im Hotelrestaurant, das genügt vollkommen. Die Warnungstafel im Zimmer? Aber was. Kundmachungen sind bei uns immer strenger textiert, als sie gemeint sind. Außerdem sind die Restaurants der erstklassigen Hotels wirklich sehr hübsch und elegant. Große, festlich beleuchtete Speisesäle, und in den meisten isst man sein Abendbrot nicht unter Tränen, sondern unter den Klängen einer Jazzband. Ja, wir haben uns in den letzten Jahren gewaltig herausgemacht und seitdem es uns sanierungswürdig schlecht geht, sind wir sehr mondän, elegant und luxuriös geworden. Die ältesten, konservativsten und feudalsten Lokale haben daran glauben müssen, haben sich auf Souper dansant und Barstimmung umgestellt. Pessimisten erblicken darin ein Zeichen des Verfalls. Aber auch der Verfall hat bei uns immer eine gewisse animierte Stimmung und selbst wenn wir auf dem berühmten Vulkan tanzen, geschieht es bestimmt im Shimmyschritt …

Sogar beim Sacher können Sie jetzt ein Wiener Schnitzel mit Charlestongarnierung essen. Sie wissen doch, was der Sacher ist? Kein Hotel, kein Restaurant, sondern ein altösterreichischer Begriff, wie der Vater Radetzky, in dessen Lager bekanntlich einmal Österreich war. Dieses habsburgisch-aristokratische Österreich ist früher bei Sacher abgestiegen, hat dort im distinguierten Speisesaal soupiert oder in den Separees, die eine bevorzugte Lage hatten: an der Augustinerstraße gerade hinter der Hofoper und dem Hofopernballett. Hier hat nicht nur der selige jungwiener Jüngling Anatol seine besten erotischen Jahre verbracht, hier hat sich auch mancher Erzherzog höchsteigenhändig um das Wohl des Volkes bemüht … Hier geruhten Fürsten, Grafen und Exzellenzen sich herabzulassen und hier fing nicht nur der Mensch, sondern auch das Ballettmädel prinzipiell mindestens etwa mit einem Baron an … Dieses Hotel war aber auch das Absteigequartier des alten Österreich-Ungarn und seiner Politik. Hier hat nicht nur der Oberkellner, sondern leider auch unsere Diplomatie schwere Rechenfehler begangen, hier wurde ebenso wahllos konferiert und regiert, wie geliebt. Aber es war alles nicht viel wert und nicht von Dauer, die Politik wie die Liebe bei Sacher. In diesem Separeelager war einmal Österreich …

Man sagt immer »der Sacher«, aber eigentlich sollte man sagen: die Sacher. Nämlich Frau Anna Sacher, die dieses Hotel und sein Restaurant seit Jahrzehnten repräsentiert und leitet. Auch eine altösterreichische Originalfigur, eine Gestalt aus der Zeit der Fürstin Pauline Metternich. Die Frau Sacher ist keine gewöhnliche Wirtin, sie ist eine patrizische Dame mit einem Häubchen und einer weißen Schürze. Und dabei doch eine richtige Wirtin, die ihr Handwerk versteht, aber auch ihre Gäste. Zwischen ihr und ihren vornehmen Stammgästen besteht eine gewisse, intime, herzliche Vertraulichkeit, aber nur von Seiten der Frau Sacher, die immer Distanz zu wahren weiß. Und sie weiß auch genau, wem sie die Hand zu reichen hat, ein Händedruck, der hier zugleich eine Legitimation ist, eine Anweisung auf besonders aufmerksame Bedienung, auf einen besonders guten Platz. Dieses Sacher-Zeremoniell gilt auch in der Republik unverändert weiter und trotz aller Jazzkonzession an die heutige Zeit versteht die Frau Sacher keinen Spaß, auch dann nicht, wenn eine einzelne Dame sich den Spaß machen will, hier allein zu essen. Einzelnen Damen und mögen sie noch so einwandfrei sein, wird hier und in einigen anderen konservativen Lokalen nicht serviert. Frau Sacher lässt sich lieber wegen Ehrenbeleidigung klagen und verurteilen, als dass sie da nachgibt. Sonst ist die Frau Sacher eine charmante, gescheite Wienerin, aber dass eine Dame sich abends allein zu Tisch setzt, das geht über ihre Souperbegriffe. Und darüber entrüstet sie sich immer wieder: teils aus einer gestrigen Moral heraus, teils deshalb, weil eine Dame in Herrengesellschaft erfahrungsgemäß viel mehr konsumiert. Und eine Dame, die anständig isst und trinkt, die ist wirklich anständig …


Übrigens ist der Sacher absolut kein Wurzlokal. Jetzt können Sie als gewöhnlicher, anständiger Mensch oder als gut angezogener Hochstapler hierherkommen und sich ein Menü um 8 Schilling geben lassen, das wirklich sehens- und essenswert ist. 3 Schilling Trinkgeld, 1 Schilling Garderobe, 5 Schilling für die Musik, macht für ein Ehepaar etwa 30 Schilling. Für das Geld sehen Sie noch gratis die Überbleibsel des gestrigen Österreich, einen Kinsky, Schönborn, Sternberg oder Salm, die scheinbar nichts davon spüren, dass der Adel in der Republik Österreich abgeschafft ist, dass sie nur mehr Fürsten und Grafen in der Klammer sind, die alle noch genauso anmaßend distinguiert aussehen wie einst, als noch eine hohe, schlanke Figur ein Verdienst um den Staat war und die unverändert fesch-leger über die Tontschi und die Trixie sprechen, über den Gaul und den Bock. Hier ist, trotz Jazztanz, die Zeit stehen geblieben, hier lebt von 10 Uhr Abend bis 2 Uhr Früh das gestorbene Österreich ewig weiter.

Aber mir scheint, für die Gnädige ist dieses historische Hotel nicht das richtige. Wir müssen sie unbedingt in eines der noblen Ringstraßenhotels führen: IMPERIAL, GRAND HOTEL oder neues BRISTOL. Hierher kommt die zwar im kaufmännischen Sinn nicht immer gute, aber die gut gekleidete Wiener Gesellschaft nach dem Theater. Nämlich jener sehr klein gewordene Kreis, der sich in einem Speisesaal zu Tisch setzt, um eine Toiletten- und Schmuckschau zu veranstalten, und der mit kostspieligen Vorspeisen, Fischen und Geflügel seinen Appetit stillt und seinen Kredit hebt. Ob wir ins Imperial, ins Grand Hotel oder in den Grillroom des neuen Bristol gehen, ist ganz egal. Überall ist das gleiche Publikum: Fremde und das letzte Aufgebot der Wiener Luxusnachtmahlesser, überall die gleiche Küche: internationale Hotelkost mit wienerischem Einschlag.

Alle diese Hotelrestaurants kann ich Ihnen bestens empfehlen. Auch das Restaurant des Hotel MEIßL & SCHADN auf dem Neuen Markt mit seinem berühmten Wiener Rindfleisch. Die eleganten Ringstraßenrestaurants, in die Sie als Fremder sozusagen instinktiv finden, sind der HARTMANN auf dem Kärntner Ring und das OPERNRESTAURANT neben der Staatsoper. Als richtiger Wiener habe ich eine Scheu vor feierlich gespreizten Smoking- und Frackmahlzeiten. Wenn ich abends in netter Gesellschaft gut essen will, dann weiß ich mir ganz andere Lokale. Beispielsweise: Wenn man im Theater Bekannte trifft und nachher den Abend zusammen verbringen will, so sagt man nach verschiedenen Vorschlägen meistens doch: »Gehen wir lieber zur SCHÖNER«. Das ist der Name einer ungemein tüchtigen und charmanten Gastwirtin, die im 7. Bezirk, in der Siebensterngasse, ein Altwiener Lokal betreibt, das seit etwa zehn Jahren sehr populär ist: weil es so hübsche, kleine Zimmer hat, in denen man gemütlich intim beisammensitzen kann, wie in einer zwanglosen Gesellschaft, da man ja doch fast alle zumindest vom Sehen kennt und weil hier die interessanten Leute vom Theater Stammgäste sind: der Hubert Marischka mit seiner schönen Frau Lilian und seiner schönen Schwägerin Lily, hier sitzen Lehár und Kálmán und können ihre Tantiemen nicht aufessen, hier sieht man das Soubrettennaserl der Kartousch und das wesentlich größere Naserl des Komikers Max Brod, den liebenswürdigen Theateronkel Hofrat Gyömerey, den chronisch lächelnden Direktor Professor Dr. Rudolf Beer vom Deutschen Volkstheater, die reizvoll magere kleine Koeppke, und wenn ein ausländischer Star auf einer Wiener Bühne ein Gastspiel absolviert, die Massary, der Pallenberg, die Fedak, die Orska, die Kossary, Erika Gläßner, Blanche Dergan, dann absolviert er auch ein Nachtmahlgastspiel bei der Schöner. Hier sitzen Autoren und Kritiker, die so bedeutend sind, dass sie sich noch ein warmes Nachtmahl leisten können, hier wird Theaterklatsch, Theaterintrigue und Theatergeschäft in der liebenswürdigsten Form betrieben. Hier trifft sich alles, was dazugehört und hier erfährt man schon zehn Minuten nach der Premiere, ob es ein Erfolg war oder nicht. Und sooft im Deutschen Volkstheater ein Stück durchfällt, ist die Frau Schöner tief erschüttert, als ob sie der Autor wäre, aber für sie steht mehr auf dem Spiel als literarischer Ruhm: ein geringerer Absatz von Kalbsteaks, Filets sautés, Hummern, Forellen, Eiskremetorten und was es hier sonst an sehens- und essenswerten Spezialplatten gibt. In diesem Restaurant des Wiener Theaters müssen Sie unbedingt einmal gewesen sein. Und zwar womöglich in dem kleinen gelben Zimmer links von der Einfahrt, wo die besonders interessanten Leute sitzen. Ohne Protektion werden Sie aber dort am Abend in der Hochsaison keinen Platz bekommen. Da müssen Sie gut eingeführt sein oder seit 20 Jahren Naive oder Soubrette oder wenigstens ein Theaterdirektor, der einmal Pleite gemacht hat.


An einem schönen Abend will man natürlich lieber im Freien nachtmahlen. Im Prater? Das ist ein Kapitel für sich, davon reden wir noch. In der Stadt gibt es eigentlich nur zwei Restaurants im Grünen: VOLKSGARTEN und den anspruchsvolleren KURSALON im Stadtpark und wie ich unsere teure Gnädige kenne, hat sie sich bereits für den Kursalon entschieden. Das ist wirklich ein idealer Nachtmahlplatz: unten der halbdunkle Garten mit den unentgeltlich luftschnappenden Spaziergängern und Liebespaaren, dann der weite Kaffeehausplatz, wo die bescheidenen Butterbrotesser und Soda-mit-Himbeer-Trinker sitzen und darüber die festlich beleuchtete, erhabene Terrasse der Soupergäste. Es ist kein Restaurant, wo man Ersparnisse zurücklegen kann, denn das Konzert einer Musikkapelle erzielt in Wien nicht nur akustische, sondern auch preissteigernde Wirkungen. Aber man sitzt hier sehr angenehm und wenn man manchmal ein bisschen lang warten muss, so wartet man wenigstens in frischer Abendluft, sieht den Wiener Fremdenverkehr und die noch zahlungsfähige Wiener Gesellschaft und die neuesten legitimen und illegitimen Verhältnisse. Sehen Sie dort unter dem roten Lampenschirm den beleibten Herrn mit der nicht gerade hinreißenden Brünetten? Seine eigene Frau ist viel hübscher, viel reizvoller. Warum er nicht mit ihr hier sitzt? Weil seine Frau jetzt mit einem anderen auf dem Cobenzl nachtmahlt … Aber nicht einmal diese Ehebruchsstatistik scheint unsere Gnädige gegen die Jazzbandklänge taub zu machen, deren hämmernder Rhythmus unerbittlich aus der Tanzbar im Kursalon lockt. Mein Herr, haben Sie ein Einsehen und kaufen Sie Ihrer Dame für eine Viertelstunde einen Eintänzer um fünf Schilling, denn das ist ihr gutes Recht. Wenn eine Frau einmal in frischer Luft im Freien nachtmahlen will, dann wird sie doch wenigstens drin, in der heißen, überfüllten Bar tanzen dürfen …

Jetzt haben wir aber wirklich schon genug ausgegeben und wollen ohne Smoking, ohne Jazz nachtmahlen, natürlich gut. Dass Wien einmal die Hauptstadt eines vielsprachigen Reiches war, merkt man noch immer an den Restaurants mit Nationalküche, wie das UNGARISCHE WEINHAUS in der Spiegelgasse, wo man ganz Budapesterisch isst und trinkt. Dorthin geht der Wiener nur ab und zu, wenn er einen »Gusto« hat (Lust auf etwas Ungewöhnliches). Wenn er Meerfische, Scampi, Risotto essen und einen echten Chianti trinken will, dann geht er in das RESTAURANT LIDO auf dem Neuen Markt oder in den uralten GRÜNEN ANKER in der Grünangergasse. Dort isst und trinkt er mehr als sonst, gibt auch viel mehr aus, hat also den kompletten Eindruck einer italienischen Reise …

Ich weiß nicht, ob das in anderen Großstädten auch so ist, aber in Wien können Sie tatsächlich auch außerhalb der Inneren Stadt in jeder Vorstadt drei, vier gutbürgerliche Restaurants finden, wo man solid und nicht teuer isst. Natürlich nur dann, wenn ich mit Ihnen gehe, allein würden Sie sich wahrscheinlich gar nicht hineintrauen. Schon der Namen dieser Altwiener Gasthäuser ist so komisch: ZUR FLUCHT NACH ÄGYPTEN oder so ähnlich. Und das alte Haus mit seinem niederen, düsteren Eingang sieht auch nicht sehr einladend aus, eher wie eine Kutscherkneipe. Aber drin ist es ganz nett: dicke Mauern, tiefe Fensternischen, gewölbte Decken, kaum irgendein Luxus, nicht einmal der ganz reiner Tischtücher. Auch die Kriegsangewohnheit der Papierservietten können sich diese Wirte nicht mehr abgewöhnen. Die Kellner sind hier nicht abgeklärt und distinguiert englisch, sondern aufrichtig wienerisch. Sie schleudern dem im Wege Stehenden warnend den Kriegsruf zu: »Sauce bitte!«, was so viel bedeutet wie: »Aus dem Weg oder der Bratensaft ergießt sich über deinen Rock!« An Samstagen transpirieren sie heftig, aber wozu ist das »Hangerl« da, die Kellnerserviette für alles.

Auch auf sonstige Eigentümlichkeiten der Wiener Kellner muss ich Sie schonend vorbereiten. Wenn Sie hier verhungert anlangen, wird Sie zunächst ein winziger Knabe zum Alkoholismus bekehren wollen, indem er die scharfe Frage an Sie richtet: »Trinken, bitte?« Das ist nämlich der Pikkolo, der die Getränke bringt. Sie sagen ihm: »Vor allem möchte ich die Speisekarte.« Darauf wiederholt er mechanisch: »Speis’karten auf drei rechts« (die Nummerierung Ihres Platzes), welcher Ruf sich von einem Kellnermund zum anderen so lang fortpflanzt, bis Sie sich selbst die Speisekarte vom nächsten Tisch holen. Während Sie im besten Aussuchen und Gustieren sind, senkt sich eine derbe Faust mit einem Bleistift auf die Karte und fängt zu linieren an, der Speisenträger, der hierzu bemerkt: »Alles schon aus. Nur mehr Lungenbraten à la Crême. Sehr fein.« Dann fügt er milder hinzu: »Oder ich lass Ihnen ein Schnitzerl machen.« Sie sagen: »Gut. Ein Wiener Schnitzel mit Reis.« Der Kellner ungehalten und belehrend: »Das passt ja nicht dazu. Heurige Salzgurke oder gemischten Salat.« Wenden Sie nichts dagegen ein, er bringt Ihnen ja doch das, was er will.

Wenn aber der Fremde eine ungestrichene Speisenkarte vorfindet, dann ist das Problem der Bestellung noch schwieriger. Denn eine Wiener Speisenkarte ist so lang wie ein Heldenepos und in einem seltsamen, französisch-ungarisch-tschechischitalienisch-wienerischen Idiom abgefasst. Ohne Dolmetscher kommen Sie da unmöglich weiter oder Sie verirren sich in die gefährlichsten Magenabgründe. Gestatten Sie, dass ich Ihnen die hier verzeichneten 87 Genüsse verdeutsche und erläutere.

Wollen Sie ein Menü essen? Diese unwienerische Einrichtung hat sich allmählich, so wie die schlechten Zeiten, durchgesetzt und was da für 1,50 bis 2,50 Schilling geboten wird, ist ja meistens ganz anständig. Aber ein Menü ist nicht das richtige Studienobjekt für eine Kochkunstwanderung. Also: Es gibt fertige und frisch gemachte Speisen wie Rumpsteak mit Hindernissen (zu Deutsch: vielfache Garnierung), Salzburger Nockerln oder Kaiserschmarrn, was im Baedeker so erläutert wird: »In Stücke zerrissener Mehlpfannkuchen«, aber es ist viel wohlschmeckender als diese Definition. Das alles steht nur auf der Karte, damit man es sich nicht bestellen soll, denn dadurch macht man sich beim gesamten Personal unbeliebt und bis man die frisch gemachte Speise bekommt, ist man selbst längst nicht mehr frisch. Bleiben wir lieber bei den fertigen Speisen. Es gibt eine klare, angebliche Rindsuppe, die sich ehrlich um das Problem bemüht: »Macht mit Maggi gute Suppen – wenn ihr könnt.« Dann gibt es dicke oder falsche Suppen. Heute gibt es Schöberlsuppe, das ist eine Einlage von viereckigen, gebackenen Biskuitteigstücken, wenn es nicht Hirn- oder Schinkenschöberl sind. Und dann gibt es eine Rindspilafsuppe. Das Wort stammt vom Balkan und so unsicher sind die Zusammensetzungsverhältnisse dieser Suppe, die eine Fleischpüreesuppe mit dunkler Vergangenheit ist. Man muss sich eben hier auskennen, dann isst man ausgezeichnet. Zum Beispiel das berühmte, gekochte Rindfleisch. Aber fragen Sie zuerst, ob ein Tafelspitz oder Kruspelspitz da ist, dann wird der Kellner vor Ihnen als einem feinen Kenner Hochachtung haben und nicht wagen, Ihnen ein trockenes, zähes Stück zu bringen. Auch alle Naturbraten kann man unbedenklich essen, besonders Nierenbraten und Schweinskarree. Dagegen warne ich Neugierige vor dem ungarischen Rebhuhn, das durch seinen wohlfeilen Preis schon manchen arglosen Fremden in eine Kalbssulze hineingelockt hat, und vor dem griechischen Beefsteak, denn eine Wochenschau genießt man besser im Kino. Eine rätselhafte Inschrift ist auch: »Kalbsvögerl à la Champignon«. Der Kellner wird Ihnen die tiefsinnige Erläuterung geben: »Das ist so mit Champignon.« Die Gemüse sind gut gemeint, aber für Ihren Geschmack zu stark eingebrannt, d. h. mit geröstetem Mehl versetzt. Die Mehlspeisen gliedern sich in warme Mehlspeisen und »Bäckereien«, wie man hier so liebenswürdig unrichtig sagt. Apfel-, Topfen-, Milchrahmstrudel sind Ihnen wohl bekannt. Aber wie soll ich Ihnen die Powidlbuchteln definieren? Doch nicht so grausam wie Baedeker: »Hefeteigküchlein mit Obstlatwerge gefüllt.« Das klingt ganz medizinisch, aber Buchteln holt man doch nicht aus der Apotheke. Es ist überhaupt, wie ich jetzt sehe, gar nicht so einfach, die Wiener Speisenkarte zu verdeutschen. Da muss man sich durchessen. Bestellen Sie sich ja nicht Wienertascherl, ein Backwerk, das meistens seit der Gründung des Lokals vorrätig ist und auch kein Obst, kein Kompott, denn auf diese Genüsse sind in den Wiener Gasthäusern aus unbekannten Gründen die schwersten Geldstrafen gesetzt.

Trinkzwang besteht in den Wiener Gasthäusern nicht, doch sind Wassertrinker unbeliebt. Bestellen Sie ein kleines Bier oder einen »Gspritzten«, eine Mischung von Weißwein und Sodawasser, die leichter zu trinken als auszusprechen ist. Wenn Sie schließlich Ihre Rechnung begleichen wollen, so rufen Sie eine halbe Stunde vorher: »Zahlen!« Auch dieser Ruf wird sich wieder von einem Kellnermund zum anderen fortpflanzen, ohne anderen Effekt als den, dass der Zahlkellner daraufhin die Flucht ergreift. Aber Sie brauchen nur den Überrock anzuziehen und der Zahlkellner ist schon da. Um Gottes willen, sagen Sie nur ja jedes »Brot« (nämlich Brötchen) an, das Sie verzehrt haben, denn diese kleinliche Tradition ist auch vom Umsturz unberührt geblieben. Und erschrecken Sie nicht, wenn sich hinter dem Zahlkellner der Speisenträger und der Pikkolo mit hypnotischen Trinkgeldblicken aufpflanzen. Auch das Dreikellner- und Dreitrinkgeldsystem hat das habsburgische System überdauert. Und lassen Sie sich nichts von Ihrem Reisehandbuch einreden: Man gibt zehn Prozent der Zeche. Ja, wenn man ein Schmutzian ist. Bei einer Zeche von sechs Schilling gibt man dem Zahlkellner 40 Groschen (vier Nickelstücke) und hinterlässt auf dem Tische in zwei getrennten Häufchen 30 Groschen für den Speisenträger, 10 Groschen für den Pikkolo. Dafür wird Ihnen dann bei Ihrem Abgang ein überzeugtes »Habe die Ehre gute Nacht zu wünschen, Herr Doktor«, nachklingen, auch wenn Sie wie ein Analphabet aussehen. Das ist doch sehr nett, nicht?


Professor Mac Callum, der Radioliebling von Wien

Ich denke, für heute haben wir genug gegessen. Mir scheint, die gnädige Frau ist sogar schläfrig. Tun Sie sich keinen Gähnzwang an. Kunstwandern ermüdet immer. Wissen Sie was: In Ihrem Hotelzimmer haben Sie doch ein Radio, gleich beim Bett. Sie scheinen keine begeisterte Radiohörerin zu sein? Ich will Ihnen ja etwas spezifisch Wienerisches und Lustiges empfehlen, und das ist merkwürdigerweise etwas Englisches. Der Professor Mac Callum und seine Radiokurse sind nämlich eine berühmte Wiener Spezialität, und seine Vorträge haben den größten Zulauf, oder richtiger gesagt: Zuhorch. Professor Mac Callum spricht um halb acht. Jetzt, um halb elf können Sie gerade die »leichte Abendmusik« hören: die Kapelle Silving oder die Jazzband aus dem Bristol. Sehr hübsch und dabei schläft man angenehm ein. Wir Männer gehen noch nicht schlafen. Bummeln, das Laster inspizieren? Oh nein, das liegt uns fern. Als moderne Geldmenschen sind wir mehr für den bargeldlosen Verkehr. Der Herr Gemahl hat nur noch ein bisschen Durst und diese Wein- und Bierlokale sind wirklich nichts für Damen. Küss’ die Hände, gute Nächte!

Also, RATHAUSKELLER? Die von Wiener Künstlern ausgeschmückten gemütlichen Räume haben echte Trinkstimmung, und der Wein ist gut. Wenn Sie noch volkstümlicher sein wollen, dann müssen wir in den ALTEN HOFKELLER in der Hofburg gehen oder in den KLOSTERNEUBURGER STIFTSKELLER in der Renngasse und uns ein Viertel Prälatenwein kaufen. Wenn Sie aber den Wein in einem ganz eigenartigen Milieu trinken wollen, dann steigen wir in den jahrhundertealten, viele Stockwerke tiefen ZETTKELLER oder URBANI-KELLER am Hof hinunter. In diesen katakombenartigen Nischen ist es so dunkel, dass nicht einmal der Schwerbezechte etwas doppelt sehen kann. Und das Hinaufklettern mit einem Liter gerebeltem Gumpoldskirchner im Leibe ist auch kein Spaß.

Ach so, Sie haben mehr Bierdurst? Da ist die Auswahl nicht so groß, denn die berühmten historischen Bierbeisl sterben aus: der ROTE IGEL am Wildbretmarkt, wo Johannes Brahms seinen Stammtisch hatte, das WINTERBIERHAUS, wo Ludwig Speidel, Wiens kunstkritisches Gewissen, Schwechater Lager trank, und der KÜHFUß in der Naglergasse, wo Paul Schlenther sich wohler fühlte als auf dem Direktionssessel des Burgtheaters. Da gibt’s eigentlich nur noch zwei Ziele: die BIERKLINIK in der Steindlgasse oder das berühmte GRIECHENBEISL in der Griechengasse beim Fleischmarkt. Das muss man gesehen, dort muss man getrunken haben. Es befindet sich beim Fleischmarkt, dem orientalischen Viertel Wiens, zwischen einem türkischen Tempel und einer griechischen Kirche, in der unheimlich engen Griechengasse, wo die Häuser noch durch Schwibbogen miteinander verbunden sind. Auch drin ist eine weihevolle Stimmung, in den vielen winzigen und niederen Zimmern und eine unmögliche, rauchig dunstige Luft. Aber sitzen Sie nur erst drei, vier Stunden hier, wie diese würdigen, zumeist den geistigen Berufen angehörenden älteren Herren und Sie spüren nichts mehr davon. Sitzen Sie an diesen ungedeckten Tischen und essen Sie eine pikante Kleinigkeit, denn hier ist das Trinken die Hauptsache. Hier hat das Bier noch Kellertemperatur und den dicken Schaum. Hier trinkt man nicht ein oder zwei Krügel, sondern Serien, deren Zahl man durch hingelegte Zündhölzchen festhält. Hier tauchen noch in regelmäßigem Turnus die Altwiener Hausierergestalten auf: der »Gottscheber« (der aus der »Gottschee« in Krain stammt), bei dem man auf den Gewinn von Zuckerln und Südfrüchten spielen kann, der Karamellmann, die närrische Blumenverkäuferin, die zu Ihnen »Goldengerl« oder »Schöner junger Herr« sagt und der Händler mit pikanten Büchern. Hier sitzt man lange, zieht an Virginierzigarren, schweigt, raucht, spuckt und trinkt. Hier scheint das Leben still zu stehen, nur das Bier fließt frisch. Hierher hat sich das gestrige und gewesene Wien zurückgezogen und im Bierdusel einnickend, stirbt es hier aus. Echteres Alt-Wien kann ich dir, oh Fremdling, nicht zeigen und darum genieße es mit Ehrfurcht: Jahrhundertealte Räusche blicken auf dich herab …


Stammtisch im Griechenbeisl

Wien

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