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ESTLAND

oder:

Was ist Osteuropa?

Die Umrisse Helsinkis entschwanden im Nebel, und das Fährschiff nahm Kurs auf hohe See. Dunkel und schwarz teilte sich das Wasser der Ostsee vor dem mächtigen Kiel, während im Schiff die Lampen angingen. Meine Reise in den Großen Osten hatte begonnen.

Überall lag Gepäck in den Gängen, Kinder plärrten, und gestresste Mütter und Väter versuchten so gut es ging, ihre Familien zusammenzuhalten. Vor der gerade erst geöffneten Bar drängten sich die finnischen Touristen, denn so preiswert wie auf einer estnischen Fähre konnte man sich in Finnland nirgendwo volllaufen lassen.

Bei einem Bier traf ich Stefan, einen deutschen Touristen aus Koblenz, einen blonden, groß gewachsenen Mann in späten Dreißigern, der auch das Baltikum bereisen wollte. Er besaß ein offenes Gesicht mit energischem Kinn, breite Schultern und kurz geschnittenes, glattes Haar, was ihm das Aussehen eines Soldaten auf Heimaturlaub gab. Was Stefan beruflich machte, war nicht zu erfahren, stattdessen plauderte er recht unverblümt über das Motiv seiner baltischen Reise. Stefan interessierte sich nicht für die Städte und Kirchen, nicht für Politik oder Geographie, sondern ihn interessierten die Frauen von Estland, Lettland und Litauen, die nach seinen Informationen zu den schönsten Europas zählten sollten. Daheim seien die Frauen zu schwierig, zu viel Zickenpotential, zu anspruchsvoll. Die baltische Frau dagegen, so Stefan, sei groß gewachsen, gut aussehend, belastbar und anschmiegsam, außerdem gebildet und dankbar. Das wisse er von seinem Onkel, der eine Baltin aus dem Katalog herausgesucht und schließlich geheiratet hatte.

Es war schon dunkel, als wir Estland erreichten. Alles war flach: die Ufer, das Meer, der Horizont, nur in der Mitte unterbrachen die Hochhaussilhouetten der Neustadt von Tallinn das eintönige Bild. Das war die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht war, dass im Schatten dieser Hochhäuser die Altstadt lag, eine in ihrer Bausubstanz vollkommen erhaltene Bilderbuchsiedlung mit Wachtürmen, Wällen und holprigen Pflasterstraßen. Kein hässlicher Betonneubau beeinträchtigte den Anblick der alten Gildenhäuser, keine Auspuffgase verpesteten die Luft, wir betraten ein autofreies Miniatur-Prag im Baltikum. In der Altstadt von Tallinn war die Geschichte zur Erbauung der Touristen einfach angehalten worden, gerade so, als man hätte endlich alle Fremdherrscher aus der Stadt heraus geworfen und nur die Esten zurückgelassen, die nun als Kellner, Platzanweiser und Fremdenführern den westlichen Gästen zu Diensten stehen.

Ohne groß zu fragen, heftete sich Stefan an meine Fersen, als ich durch die Straßen der Altstadt lief. Ich suchte das "Vana Tom" eine in allen Travellerführern wärmstens empfohlene sogenannte "Low Budget Unterkunft" für Individualreisende. Das Hostel befand sich in der in unmittelbarer Nachbarschaft des Marktplatzes auf der ersten Etage eines unscheinbaren Hauses, in dessen zweiten Stock gerade ein Stripteaselokal eröffnet hatte.

Da nur noch ein Doppelzimmer frei war, teilten wir uns einen Raum mit zwei durchgelegenen Matratzen und einer einzigen Glühbirne an der Decke. Ich klopfte an die Wände und stellte fest, dass sie überwiegend aus Sperrholz bestanden. „Macht nichts“, sagte Stefan, „ich habe ausreichende Vorräte an Ohrstöpseln in meinem Gepäck.“

In der Gemeinschaftsküche, in der wir unser Abendbrot nahmen, trafen wir einen österreichischen Schauspieler, einen amerikanischen Studenten und zwei Finnen, mit denen ein munteres Geschnatter einsetzte. Verkehrssprache auf den internationalen Travellerpfaden war Englisch, auch wenn man davon oft nur sehr wenig verstand und sich manchmal nicht sicher war, ob der Gesprächspartner nicht vielleicht doch in seiner Muttersprache zu uns sprach. So war auch an diesem Abend nur sehr wenig zu verstehen, außer, dass es sich bei dem Gemeinschaftskühlschrank um das letzte Relikt des Kommunismus in Estland handelte - einem Gerät, in das die Guten und Fleißigen jeden Tag Eier, Butter, Käse Milch und Joghurt hineinlagerten, während die Bösen und Faulen diese Güter unbemerkt verzehrten.

Nach dem Abendessen verschwand Stefan in die Stadt. Ich las noch ein wenig in meinen Reiseführern und lernte, dass ich mich in einem regelrechten Zwergstaat befand, der auf der Landkarte immerhin die Größe der Schweiz oder der Niederlande erreicht, ansonsten aber nur 1,2 Millionen Einwohner zählt, von denen auch noch ein Drittel Russen sind. Wie ich weiter erfuhr, hatte die Geschichte den Esten ganz und gar nicht gut mitgespielt. Jahrhundert für Jahrhundert war das Land von Schweden und Russen derart malträtiert worden, dass die estnische Bevölkerung, die im Mittelalter genauso groß gewesen sein soll wie die finnische, immer weiter geschrumpft war, bis sie schließlich im 20. Jahrhundert nur noch ein Fünftel der finnischen Bevölkerung ausmachte. Angesichts der massenhaften Einwanderung der Russen nach Estland hätte wahrscheinlich nicht viel gefehlt, dass die Esten im Vielvölkerstaat der alten UdSSR einfach verschwunden wären. Eine der vielen Ethnien, die in der großen Suppe des Ostens verloren gingen und von denen heute keiner mehr spricht. Doch manchmal hält die Geschichte auch ein happy end bereit: kurz vor dem demografischen Verschwinden des estnischen Volkes brach die UdSSR zusammen, Estland wurde frei und rettete sich mit letzter Kraft in die NATO und 2004 sogar in die Europäische Union.

Inzwischen wurde der Lärm aus dem Stripteaselokal über dem Hostel immer lauter. Dumpfe Bässe wummerten durch die Wände, spitze Schreie waren zu hören, trotzdem fiel mir bald das Buch aus den Händen, und ich schlief ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag Stefan schnarchend im Nachbarbett. Immerhin war er allein, hatte also bei den schönen Baltinnen noch keinen Stich landen können. Ich kochte mir einen Morgenkaffee in der Gemeinschaftsküche, duschte in der Gemeinschaftsdusche und begann meinen Rundgang durch die Stadt.

Es war noch früh am Morgen, doch der Marktplatz der Stadt war bereits von Buden zugestellt. Vor einer Apotheke aus dem Jahre 1422 unterhielt ein Schaukünstler die Passanten mit seinen Kapriolen, Eiscafés hatten geöffnet, und vor den Restaurants bedrängten Schlepper in die vorbeiflanierenden Touristen. Ich sah mich um und versuchte, eine bestimmte Atmosphäre zu erspüren. War das hier Osteuropa? Oder Skandinavien? Irgendwie sah alles so aus wie in Rothenburg ob der Tauber, nur die Männer kamen mir stämmiger vor, manche hatten Unterschenkel wie Kinderrümpfe, andere liefen im Unterhemd und mit der Bierflasche in der Hand breitbeinig über den Platz. An der Erscheinung der Frauen, die Stefan so gepriesen hatte, konnte ich keinen Unterschied zu denen aus Mitteleuropa feststellen, was vielleicht aber auch daran lag, dass die meisten, die ich an diesem Morgen sah, ohnehin Touristinnen waren.

Ich schlenderte ein wenig umher, wandte mich dann nach Norden und besuchte den Gottesdienst in der Dominikanerkirche von Tallinn. Vor der Reformationszeit hatten sich die Dominikaner in Estland um die Bildung der Landbevölkerung gekümmert, las ich in einem kleinen Faltblatt, das vor der Kirche auslag. Die Esten haben es den Dominikanern aber nicht gedankt, denn kaum hatte sich die Reformation in Estland durchgesetzt, wurde das Dominikanerkloster bis auf die Grundmauern zerstört. Die estnischen Frauen, die heute die wieder aufgebaute Kirche betraten, hatten sich Kopftücher über ihre Haare gelegt, sie sangen inbrünstig und hielten die Köpfe gesenkt, als der Priester den Segen sprach.

Am nördlichen Stadttor verweilte ich ein wenig bei der "Dicken Margarethe", dem berühmtesten Stadtturm der Befestigungsanlage von Tallinn. Vor ihr hatte im Jahre 1570 sechs Monate lang das Heer Iwans des Schrecklichen die Stadt belagert, ohne Tallinn wirklich einnehmen zu können. Dafür hatte dieser Zar etwa die Hälfte der estnischen Bevölkerung massakriert, ein Ethnozid, von dem sich die Esten bis heute nicht erholt haben. Noch weiter zurück in die Geschichte führte ein Besuch der Olafskirche von Tallinn, benannt nach König Olaf II von Norwegen, die im späten Mittelalter mit ihren damals etwa 150 Metern Turmhöhe neben dem Ulmer Münster das höchste Gebäude der Erde gewesen sein soll.

Im Historischen Museum interessierte mich vor allem der Saal, in dem ein Faksimile der ersten Erwähnung Estlands ausgestellt war. Es handelte sich um eine Manuskriptseite aus dem Reisebericht des arabischen Geographen Al-Idrisi, der seinem Monarchen, dem Normannenherrscher Roger II. von Sizilien, im 11. Jahrhundert von einem "Astalanda", einem östlichen Land, berichtet hatte. Aus Astalanda wurde Estland, ein kleines Land östlich von Deutschland, dessen Bewohner im Laufe ihrer Geschichte wenig zu lachen hatten. Kanonenkugeln aus der Zeit Iwans des Schrecklichen, schwedische Uniformröcke, Helme, Rüstungen, Waffen, die puppenhafte Nachbildung eines grimmig dreinblickenden Wandermönches und eines Henkers, der in Originalgröße mit seiner Axt Maß an dem Nacken des Delinquenten nahm, waren die anschaulich präsentierten Elemente einer jahrhundertelangen Horrorgeschichte.

Endete das Historische Museum mit dem 18. und 19. Jahrhundert, wurde im "Stadtmuseum" auch die neuere Geschichte Tallinns behandelt. Das berühmteste Exponat dieses Museums war die doppelte Wand des Kommunismus, ein Gebilde, das auf einer vorderen Wand die Propaganda der Sowjetzeit visualisierte, während auf einer zweiten Wand, die man durch Fortschieben der ersten Wand sichtbar machen konnte, die wahren Verhältnisse der kommunistischen Epoche dargestellt waren. Enthusiastisches Grinsen korrupter Bonzen unter Parteitagsparolen auf der ersten, Leid und Schmerz in den durchfurchten Gesichter der Opfer auf der zweiten Wand, schicke Wohnungen mit Balkonen vorne, Gulags im Hintergrund - Sein und Schein im direkten Vergleich.

Für die Esten war die Heimsuchung durch den Bolschewismus nur eine der vielen Plagen, die sie im Laufe der Geschichte zu ertragen hatten. Sonderlich heiter ging es aber auch in vorkommunistischen Zeiten nicht zu, wie der kuriose "Kieck in de Köck" Turm dokumentierte. Von den Aussichtspunkten dieses Turmes schauten die Stadtwächter im 16. und 17. Jahrhundert den Leuten in die Fenster und die Küchentöpfe, um festzustellen, ob es nicht verbotenerweise am Freitag Fleisch oder am Wochenende Feuer im Herd gäbe. Auf heutige Verhältnisse übertragen, wäre das etwa so, als würden ökologisch orientierte Regierungen Ökowarte ausschicken, um die Einkaufswagen der Supermarktkunden auf den politisch korrekten Einkauf hin zu kontrollieren.

Am Nachmittag, in der Stunde des besten Lichtes, erreichte ich nicht weit von der Alexander Newski Kathedrale am Südende des Trompea Hügels den schönsten Aussichtspunkt der Stadt. Dunkle Wolken hatten sich über die Bucht von Tallinn gelegt, in der Ferne schimmerte das Wasser des finnischen Golfs in einem bedrohlichen Schwarz. Hier und da glitt ein Sonnenstrahl durch die zerfetzten Wolkenberge und beleuchtete wie eine wandernde Kompassnadel die Details eines Schieferdachs, einer Turmwand, eines Häusergiebels.

Für einen Moment imaginierte ich, die unübersehbare Neustadt mit ihren 400.000 Einwohnern im Osten sei verschwunden, ich sähe nur das von den Dänen im 13. Jahrhundert gegründete Tallinn, die "Stadt der Dänen" vor mir, neben der dann Reval entstand, der von deutschen Händlern gegründete Handelsstützpunkt an den Grenzen des Reiches von Nowgorod. Aus beiden war eine Hansestadt mit freien Bürgern und Händlern entstanden, eine multinationale Enklave am Rande Europas, die mit den Esten auf dem Lande nur wenig gemein hatte. Ansatzweise zusammengeschweißt wurden Stadt und Land erst durch die Überfälle der Schweden und Russen, in deren Reich Estland nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges im Jahre 1725 scheinbar für immer verschwand.

Ich saß schon eine Weile auf der Aussichtsplattform, da setzten sich zwei junge Männer neben mich. Ich weiß nicht, ob es Russen oder Esten waren, auf jeden Fall begannen sie sofort zu trinken, zu rauchen oder in die Tiefe zu spucken. Ihre Gesichter waren leer, ihre Stimmen rau, ihre Gesten abgehackt. Für die Schönheit des Ortes besaßen sie kein Sensorium, stattdessen begannen sie mit zunehmendem Alkoholgenuss zu grölen und zu gestikulieren. Als sie mich anrempelten, mehr aus Ungeschicklichkeit, denn aus Absicht, machte mich auf den Heimweg.

Unterwegs traf ich Stefan, der mit einem fetten jungen Mann in einem Straßencafé auf dem Marktplatz bei einem Bier saß und diskutierte. Ich setzte mich dazu und erkannte bald, dass sich das Gespräch um die baltischen Frauen drehte, da sich Stefans Erwartungen speziell an die estnischen Frauen auch an diesem Tag noch nicht erfüllt hatten. Zu "nuttig" waren sie ihm vorgekommen, aufgedonnert, hochhackig, kess - von anbiedernder Unterwürfigkeit leider keine Spur. Stefans Gesprächspartner, Michael, ein Architekturstudent aus Regensburg, der sich wegen einer städtebaulichen Diplomarbeit in Tallinn aufhielt, wollte das nicht bestätigen. Seiner Ansicht nach sei die estnische Frau sehr schön, sehr kühl, aber emotional seltsam fad, meinte er, wobei er geschmäcklerisch seinen kleinen Mund schürzte, als hätte er von dieser Fadheit schon öfter kosten müssen. Ich konnte weder das eine noch das andere kommentieren, dachte einen Moment an den Anblick der züchtigen jungen Frauen in der Dominikanerkirche, trank ein zweites Bier, wurde müde und ging bei Einbruch der Dunkelheit zurück zum Vana Tom.

*

Woran erkennt man Länder, die spät in die Moderne gestartet sind? Daran, dass sie kein Festnetz besitzen, sondern ihre Kommunikation mit dem Handy abwickeln. Aber auch daran, dass sie über kein leistungsfähiges Eisenbahnnetz verfügen, sondern den Personentransport vorwiegend über Busse organisieren, jene guten alten Busse, mit denen wir als Kinder wie in einem zweiten Wohnzimmer durch die Landschaft gefahren waren, bis wir in unsere eigenen Fahrzeuge, den ICE oder das Flugzeug umstiegen.

Im Baltikum ist der Bus natürlich das Verkehrsmittel Nummer eins. Er ist billig, effektiv und bei der (noch) geringen Verkehrsdichte relativ schnell. Seine Fahrer stellen das Konzentrat jener Industriearbeiterelite dar, die es entweder noch nicht oder nicht mehr gibt. Wie die Kapitäne der Landstraße steuern die ihr Gefährt durch Tag und Nacht, Regen und Sturm ihren Zielen entgegen. So auch in Tallinn, wo wir auf dem Busbahnhof der Stadt einen ausrangierten deutschen Bus bestiegen, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte, seinen Dienst aber noch immer tadellos versah. Ohne dass weiter darüber gesprochen worden wäre, hatte auch Stefan ein Busticket nach Tartu gelöst. Ich musste mich wohl damit abfinden, dass er mich so lange begleiten würde, bis er die passende baltische Frau gefunden hätte.

Die Busreise nach Tartu war ebenso unspektakulär wie die Landschaft. Wir durchfuhren endlos flache Ebenen, Meere von Wiesen, Weizen- und Rapsfeldern, Waldinseln und Weideflächen, überquerten Flüsse und Bäche auf schmalen Brücken, brausten durch weltvergessene Dörfer ohne anzuhalten, erhaschten hier und da den erstaunten Blick eines Kindes, das am Wegesrand mit einem Gummireifen spielte.

Dann war plötzlich Tartu, das alte Dorpat, erreicht, das intellektuelle Zentrum des Landes mit der ältesten Universität Estlands, die ihren Ursprung bis auf das Jahr 1632 zurückführte. Es war eine regelrechte Postkartenstadt, die mit ihrer klassizistischen restaurierten Altstadt und einer durchgrünten Promenade am Ufer der Emajogi Flusses Mitteleuropa entsprungen schien. Wieder versuchte ich die Atmosphäre zu erspüren: War das hier Osteuropa? Ganz bestimmt nicht. In Tartu sah es eher aus wie in Marburg. Studenten lümmelten sich auf den Brückengeländern, die Dozenten lasen Manuskripte in den Cafés, und ein ganzer Papierwald von Plakaten informierte über die Musikszene der Stadt. Für jeden, der sich in Tartu länger aufhalten oder an diesem Ort ein Studiensemester einlegen wollte, hielt die Stadt Galerien, Ausstellungen und Museen bereit, und wer nicht gerade eine Vernissage besuchte oder eine Vorlesung hörte, lag mit einem Buch auf einer der zahlreichen Wiesen im Schatten der Bäume. Auenland am Rande Mordors, ging es mir durch den Kopf, als ich die zahlreichen Skulpturen sah, die die Stadtverwaltung an allen Ecken Tartus positioniert hatte: Meeresjungfrauen, Liebende, die sich als Paare über einem Springbrunnen umarmen, Gelehrte in Denkerpose, Kleinkinder in Erwachsenengröße - es war, als sollte nur eine Busstunde von der russischen Grenze entfernt, eine Idylle beschworen werden, von der jedermann ahnte, wie brüchig sie war.


Denn die idyllischen Außenansichten, die Estland in Tartu und anderswo so ostentativ präsentierte, konnten die Schattenseite des Landes nicht vergessen machen. Und der Schatten, der über Estland lag, hieß Russland. Um dieses Problem in seiner ganzen Bedrohlichkeit zu verstehen, genügte ein einziger Blick auf die demographischen Daten des Landes. Von Narva im Norden bis Petsen im Süden lebten mehrheitlich Russen, eingewandert in den Zeiten der Sowjetunion, die sich nun, nach dem Untergang der UdSSR, plötzlich als ungeliebte Fremde in einem Land außerhalb der eigenen Heimat wiederfanden. Es waren gut 400.000, höchstens eine halbe Million Menschen, ein Klacks, verglichen mit den 115 Millionen Russen im Heimatland, aber in Estland eine massive Minderheit, von der niemand recht wusste, was mit ihr geschehen sollte.

In der Mitte zwischen Narva und Petsen befand sich Kallaste, eine russische Enklave am Peipussee, die wir nach einer kurzen Busfahrt von Tartu aus erreichten. Die Felder waren wilder, die Landschaft hügeliger, und die Zahl der Holzhäuser nahm umso stärker zu, je weiter wir nach Osten fuhren. Vor den kunstvoll geschnitzten Holzfenstern saßen üppige Matkas auf Holzschemeln und schwatzten. Uralte BMW´s und Audis, von denen keiner wissen konnte, wie sie ihren Weg in diesen Teil Europas gefunden hatten, sorgten mit offenen Türen und aufgedrehten Radios für die kostenfreie Beschallung der staubigen Dorfstraße. Wer hier mit einem dieser Autos durch das Dorf fuhr, machte das nicht unter siebzig Sachen, so dass meterlange Staubfahnen noch lange vom Vorüberbrausen eines importierten Westschlittens erzählten. Der Kaffee, den wir im einzigen Café von Kallaste tranken, war dünn, die Milch, die wir dazu orderten, war Westimport und kostete das Doppelte des Getränks.

Nur wenige Schritte abseits der Dorfstraße war der Peipussee erreicht. Wie eine Kostprobe dafür, wie riesenhaft das Land war, das jenseits des Sees begann, erstreckte sich Wasser vor uns, soweit das Auge reichte. An einem kleinen Strand tummelten sich vorwiegend Frauen - elfenhafte und pummelige, junge und alte, schlanke und dicke Russinnen verdösten den Nachmittag, während ihre Männer die Motoren ihrer Fahrzeuge frisierten. Eine Bande kreischender Knaben rannte vorüber, nackt und verschmutzt bewarfen sie sich jauchzend mit Schlamm und pinkelten im hohen Bogen in den See.

Es war warm an diesem Tag, und ein flimmernder Dunst lag über dem großen Grenzsee, mit dem die Russen einen der größten Tage ihrer frühen Geschichte verbinden: den Sieg der Russen unter der Führung Alexander Newskis im Jahre 1242 über eine Armee des Deutschen Ritterordens auf dem Eis des Peipussees, eine wahrscheinlich noch nicht einmal sonderlich bedeutsame historische Episode, die erst durch die Eisensteins Verfilmung zum ersten großen Abwehrkampf Russlands gegen den imperialistischen Westen hochstilisiert worden war.

Daran, dass dieser See jemals zufrieren könnte, war an diesem Tag nicht zu denken. Es wurde immer wärmer, und ein heißer Wind wehte von Osten heran. Den Wiesen entströmte ein erdiger, dumpfer Geruch nach nasser, warmer Fäulnis, als sich Stefan neben mich setzte und darüber philosophierte, was die Frauen im Kern ihres Wesens bewegte. Seine bisherigen Misserfolge bei der Partnersuche hatten in ihm offenbar das Bedürfnis nach vertiefter Analyse geweckt. Seiner Ansicht drehte sich alles um die "Erbse" zwischen den Beinen einer Frau, die es zuallererst zu finden und zu bearbeiten gelte. Wer die "Erbse" nicht finde, gerate bei den Frauen ganz einfach auf die Abschussliste, sinnierte Stefan, während ein warmer Wind weiter durch die Blätter rauschte. „Was hältst du von dieser Theorie?“

„Erinnert mich ein wenig an die Prinzessin auf der Erbse“, antwortete ich.

„Stimmt“, sagte Stefan. „Komm, lass uns abhauen aus dieser Gegend. Hier gibt es nur hässliche Weiber.“

*

Es gibt Länder, in denen kann man in zwei bis drei Stunden von Osten nach Westen reisen, ohne dass man an der Landschaft merken würde, dass man vorangekommen ist. Im Falle Estlands ist dies nur teilweise richtig, weil wir nach den drei Stunden Busfahrt, die uns von Tartu und Kallaste nach Pärnu an die Ostsee führten, immerhin das Meer erblickten. Allerdings war das Wetter umgeschlagen, und hinter nassen Regenschleiern und tief hängenden Wolken verschwand der Horizont der Ostsee in einem konturlosen Grau.

So war auch von Pärnu, dem hochgelobten ersten Seebad des Landes, im Regendunst nur wenig zu erkennen. Überall nur Pfützen, mit Zellophanplanen überzogene Kaffeehausstühle und dunkler, matschiger Sand an den Stränden. Kaum jemand war auf den Straßen zu sehen, dafür war aber auch weit und breit kein Zimmer frei. Schließlich fanden wir eine kleine Datscha im Garten eines Privathauses, von dem ich noch nicht wusste, dass seine Toilette im Garten nur mit Sägespänen funktionierte und dass uns der Dackel des Hauses Tag und Nacht heulend belagern würde, um mit uns zu spielen. Im Innern der Datscha waren die Wände mit Fischernetzen, einem Elchgeweih, Matrosenbildern, Urkunden in kyrillischer Schrift und diversen Skulpturen behangen. Eine Ronald-Reagan-Maske aus Gummi hing an einem Haken gleich neben einer Marienstatue, und der Teppich sah so aus, als beinhaltete er noch immer sämtliche Sekrete, die seit der Zarenzeit in diesem Raum verspritzt worden waren. Doch der Regen klatschte immer drängender gegen die dunklen Scheiben der Datscha, und so nahmen wir das Zimmer, brachten den Wasserkocher in Schwung und tranken unseren ersten Kaffee in Pärnu.

„Ganz schön trist hier“, sagte ich zu Stefan. „Ich könnte verstehen, wenn du jetzt abhaust und dich in einem besseren Hotels einquartierst.“

„Nein“, wehrte er ab. „Das ist schon in Ordnung. Ich schlafe erst mal eine Runde. Morgen wird schon wieder die Sonne scheinen.“

Das allerdings war ein Irrtum. Volle zwei Tage zogen immer neue schwarze Regenwolken von der Ostsee heran und entluden sich über der Stadt. Nur zwei- oder dreimal hörte der Regen für ein oder zwei Stunden auf, um dann umso stärker aufs Neue loszubrechen. Wir gewöhnten uns an ein Geräusch, als würden Tag und Nacht Millionen Fingerkuppen auf das Holzdach trommeln, beobachteten, wie die Pfützen im Garten immer größer wurden und ließen schließlich den jämmerlich vor unserer Türe jaulenden Dackel in unsere Hütte, um ihn abzureiben und mit ihm zu spielen.

Eigentlich hatte ich mich am Strand von Pärnu ein wenig sonnen wollen, daraus wurde nun nichts. Und auch für Stefan war es sinnlos, den Schönheiten der baltischen Frauen im strömenden Regen nachzuspüren. Da er kaum las, schlief er viel oder saß stundenlang am Fenster und blickte in den Regen. Er hatte zwei Flaschen Wein besorgt, aus denen er sich in immer kürzeren Intervallen ein Glas einschenkte.

„Sag mal, hast Du eigentlich schon mal eine Freundin aus Osteuropa gehabt?“ fragte er mich unvermittelt.

„Nein.“

„Ich schon.“

„Und, wie war´s?“

„Eigenartig.“

„Wo kam sie denn her?“

„Aus Sofia“, antwortete Stefan. „Fährst du da auch noch hin?“

„Schön möglich“, antwortete ich. „Aber erzähl doch mal.“

Stefan schenkte sich nach, goss auch mir ein Glas Wein ein und zog eine Schnute, die ich an ihm noch nicht gesehen hatte.

„Es begann wie eine richtige Romanze, dann wurde es eine richtige Liebe, und am Ende zerplatzte es wie eine Seifenblase.“

Nun donnerte es draußen. Der Himmel hatte sich vollkommen verdunkelt, der Dackel lag behaglich auf meinem Schoß und schnarchte.

„Ihr Name war Lydia, sie war Anfang zwanzig und studierte Politikwissenschaft in Frankfurt. Ich traf sie, als ich in den Zug nach Koblenz einstieg, um einen Freund in Köln zu besuchen. Sie war so schlank, sie wirkte so zerbrechlich und zugleich so herzlich, dass ich mich auf der Stelle in sie verliebte.“

„Sprach sie denn deutsch?“

„Fließend. Sie studierte Philosophie in Frankfurt und begann mir auch gleich etwas über den Kategorischen Imperativ zu erzählen. Auf jeden Fall sprang sofort ein Funke über, und als sie in Bonn ausstieg, bin ich mit ausgestiegen. Wir gingen an das Rheinufer und erzählten uns den ganzen Abend unsere Leben. Schließlich tauschten wir unsere Adressen aus, sie brachte mich zum Bahnhof, und ich fuhr alleine weiter nach Köln.“

Stefan machte eine Pause und blickte aus dem Fenster. Dann wendete er den Kopf und sah mich an: „Keine zwei Tage später klingelte es an meiner Türe, und Lydia stand mit zwei vollgepackten Taschen im Treppenhaus. Ohne zu fragen, ließ ich sie ein, wir schliefen zusammen und lebten hinfort wie Mann und Frau.“

Ich trank das Glas leer und schwieg.

„Die ersten zwei drei Monate waren wunderbar“, fuhr Stefan fort. „Ich war so lange Single gewesen, hatte mich mit all diesen unzuverlässigen Weibern herum geschlagen, und hier war plötzlich eine junge, schöne Frau, die sich hundertprozentig auf mich einstellte, die den Tisch gedeckt hatte, wenn ich heimkam und sich nachts an mich kuschelte, als gelte es ihr Leben.“

„Hört sich etwas traditionell an“, wandte ich ein.

„Nein, das hört sich wunderbar an“, widersprach Stefan. „Aber leider war das nur der Anfang. Denn bald kam sie dahinter, dass ich ein Langzeitstudent und keineswegs so vermögend war, wie sie angenommen hatte. Und auch ich erkannte, dass sie von jeder Art Examen noch meilenweit entfernt war. Sie war einfach aus Sofia abgehauen, hatte in Frankfurt bei entfernten bulgarischen Verwandten gelebt und sich gedacht, dass sie bei mir festen Boden unter den Füßen bekommen könnte.“

„Das hätte doch klappen können. Warum seid ihr denn nicht beide arbeiten gegangen?“ fragte ich.

„Ging nicht, ich versuchte mich gerade an einem zweiten Anlauf zum Jura-Examen, aus dem mit dieser Liebesgeschichte natürlich nichts mehr wurde. Und sie verfolgte immer deutlicher nur ein Ziel: ich sollte sie heiraten, damit sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten würde, denn ihre Aufenthaltserlaubnis lief ab.“

„Hast du sie denn geliebt?“

„Ich glaube, ja.“

„Und warum hast du sie nicht geheiratet?“ fragte ich.

„Ich weiß auch nicht, Plötzlich traute ich ihr nicht mehr. Die Sache schien mir gar zu durchsichtig. Ich zögerte. Und dann war sie eines Tages weg.“

„Wie das?“

„Eines Tages kam ich nach Hause, und ihre Sachen waren weg. Über eine Freundin erfuhr ich später, dass sie nach Paris gefahren war, wohin sie ohnehin bald hatte reisen wollen. Dort hat sie innerhalb kürzester Zeit einen Franzosen geheiratet.“

„Das ist bitter.“

„Nein“, antwortete Stefan. „Nur lehrreich.“

„Und warum versuchst Du es mit den baltischen Frauen nun noch einmal?“

„Weil man aus Fehlern eben nicht lernt.“


Nach zweieinhalb Tagen hörte der Regen endlich auf. Noch immer hingen die Wolken wie eine feuchte Decke über der Küste, doch nun konnte man immerhin durch die Stadt spazieren und über den Strand laufen. Vom feuchten Wind der Ostsee umweht, besuchten wir das Estonia- Denkmal von Pärnu, ein groteskes Stahlgewirr, das zum Gedenken an den Tod von achthundert Esten bei dem Untergang der Fähre „Estonia“ im Jahre 1994 errichtet worden war. Ich erinnerte mich noch gut an das Aufsehen, dass dieses Unglück damals in der Presse des Westens verursacht hatte, begriff aber erst jetzt, welche Katastrophe der Tod von 800 Menschen für eine Ethnie bedeutete, die ohnehin nur noch 800.000 Menschen zählte. Umgerechnet auf die Bevölkerung Deutschlands hätte ein proportional vergleichbares Desaster die unfassbare Zahl von 80.000 Opfern fordern müssen.

Gleich neben dem Estonia Denkmal befand sich am Rande eines Wohnkomplexes in Strandnähe ein Stahlgebilde von etwa dreißig Metern Höhe. Etwa auf halber Höhe erkannten wir beim Näherkommen zwei Kinder, die scheinbar sorglos und ungezwungen in riskanter Höhe an den Eisenstangen herumkletterten. Ihre Mutter, eine rothaarige junge Frau, mit Pelzjacke und weißen Stiefeln bekleidet, saß auf einer Bank neben dem Stahlgerüst und rauchte.

Erst dachte ich, dass sie zu ängstlich sei, die Kinder herunterzuholen und erbot mich, das für sie zu erledigen. Doch sie winkte ab. „Die kommen schon zurecht“, sagte sie in tadellosem Deutsch. „Aber woher kommen Sie?“

So begann ein Gespräch, bei dem ich nervös die tollkühnen Kinder im Auge behielt und erleichtert feststellte, dass sie langsam herunter kamen, während sich ihre Mutter eine Zigarette nach der anderen anzündete.

Ihr Name war Anna, sie hatte Germanistik studiert und weilte nun schon seit einem Monat zur Sommerfrische in Pärnu. Wie sie offenherzig bekannte, hing ihr die Betreuung der Kinder inzwischen zum Hals heraus und sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn die kleinen Biester abgestürzt wären.

Als sie unsere betroffenen Mienen sah, lachte sie laut auf. „Mein Gott, das war doch nur ein Scherz.“ Dann veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck, und sie blickte mir tief in die Augen, am Herzen vorbei direkt ins Eingemachte. Ich spürte es ganz deutlich, mir lief es kalt den Rücken herunter, während ich mich fragte: Ist das Osteuropa?

Da hatten wir endlich eine schöne baltische Frau, aber ganz anders als erwartet. Von dankbarer Unterwürfigkeit war hier nichts zu erkennen, stattdessen hatte ich das Gefühl, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, wenn ich als dekadenter Westling auf der Stelle meine Brieftasche und meine Scheckkarte auspacken und dieser Frau zu Füßen legen würde. Ihre Wangen waren edel geschwungen, hinter ihren üppigen Lippen sah ich den Schmelz traumhaft weißer Zähne, und ihre Augen waren so groß und dunkel, dass ich auf der Stelle in ihnen zu versinken drohte. Mir war, als würde ein Netz ausgeworfen, und als würde ich im nächsten Augenblick die Kontrolle verlieren.

Gerade wollte ich nach ihrer Adresse fragen, als mich Stefan rüde von der Seite anstieß. „Los, komm, wir müssen weiter, gleich fängt es wieder an zu regnen.“

Die kleine Posaune der Freiheit

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