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Versuchung

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Da sitzt du nun.

Auf dem grauen Schreibtisch liegt die Schokolade.

Der Regen peitscht an die Scheiben. Kalte Fensterscheiben. Du siehst die wippenden Straßenlaternen nicht, die bald links, bald rechts von sich im Pflaster graben. Du schaust nur auf die Schokolade. Fastenzeit. Eine Woche hast du schon geschafft.

Fastenzeit.

Wie schön es ist, wenn man widersteht. Sagt sie.

Wie schön es ist, der Versuchung zu trotzen.

Wie stolz man nachher auf sich sein kann.

Schokolade ist ungesund. Macht schlechte Zähne. Macht dick. Macht süchtig. Macht.

Was für eine schöne Vorstellung, am Ostersonntag das erste Mal wieder etwas Süßes zu naschen. Ein gutes Gewissen zu haben. Stolz auf sich sein zu können.

Aber warum?

Hinter dem Wasserfall ist der Himmel violett. Das Knurren des schwarzen Gewitterhundes erschüttert den Horizont. Unverwandt betrachtest du die Schokolade.

Was wäre es für ein Gefühl, sie in den Mund zu stecken?

Seine eigenen Regeln über Bord zu werfen? Sich hemmungslos der Versuchung hinzugeben? Sich und der ganzen Welt zu offenbaren, dass man nicht widerstehen kann, dass man keine Selbstdisziplin hat.

Was ist das überhaupt, Selbstdisziplin? Ein selbstgestrickter Maulkorb?

Das Gewitter rast herbei. Eben waren noch zehn Sekunden zwischen Donner und Doria. Nun sind es fünf.

Die Welt hält nicht den Mund. Sie zeigt die Zähne.

Und du? Wer bist du überhaupt? Was tust du hier?

Nimm die Schokolade!

Dich wird, während du sie isst, das schlechte Gewissen wie der Stock des zornigen Frauchens peinigen. Die Reue wird schneller ankommen als der zuckersüße Geschmack. Vielleicht wirst du weinen. Vielleicht wirst du kotzen. Vielleicht wirst du die Selbstachtung verlieren. Das einzige, was dir geblieben ist.

Dort hinten bellt der Hund. Schaurig. Die Fenster knacken.

Iss die Schokolade!

Du schreckst hoch. Ohrenbetäubend. Wie Kastanien trommeln die Hagelkörner gegen die Scheiben.

Sie sagt, das Wichtigste wäre, die Regeln zu befolgen. Sie sagt, man dürfe sich nicht den niedersten Trieben ergeben. Das unterscheide einen von den Käfern und den Insekten.

Aber Käfer und Insekten sind Teil dieser Welt. Wie der Hagel. Wie der wüste Gewitterhund. Sie ist nur sie selbst.

Iss die Schokolade! Sie ist nur sie selbst!

Blitz. DONNER!! Wau! Wau wau!! Das Haus schaukelt. Die Straßenlaternen lösen sich vom Asphalt und fliegen davon.

Du wirst dich hassen, wenn du die Schokolade isst. Du wirst es nicht geheim halten können. Nicht vor dir und nicht vor anderen. Selbstdisziplin gehört zur Menschwerdung, sagt sie. Käfer und Insekten, sagt sie. Käfer und Insekten.

Du hast die Schokolade ergriffen. Du hältst sie schnüffelnd an deine Nase.

Es gibt keinen Kompromiss. Du kannst nicht von ihr nippen. Der Donner bleibt Donner, der Blitz bleibt Blitz. Es gibt keinen Kompromiss. Entweder es gewittert oder es gewittert nicht.

Sie ist nur sie selbst.

Du willst es doch!

Du willst die Schokolade essen. Du willst die ganze Tafel essen. Es ist nicht der Heißhunger auf Schokolade, der dich veranlasst. Der Heißhunger auf die Sünde ist es. Sünde, die dich mit den Käfern und den Insekten vereint. Und mit dem Gewitter.

Schokolade und du. Wer verzehrt wen?

WAU! WAU WAU WAU!!!

Nun ist es soweit. Das ist der teuflische Moment.

Die Schokolade schmilzt auf deiner Zunge. So warm. So feucht. So süß.

Nun muss die Reue kommen. Aber die Sünde ist so süß, so süß.

Wo bleibt sie denn?

Ein weiteres Stück. Ein weiterer Blitz. Die Wände erzittern.

Noch eines und noch eines und noch und noch und noch.

Wo bleibt die Reue, das prügelnde Frauchen? Wo bleibt sie?

Wie der Hagel die Autos auf den Straßen zerbeult. Trümmerhaufen sind es. Nur mehr Trümmerhaufen. Aber du empfindest keine Reue.

Ja, du empfindest etwas. Aber was? Ist es Hochmut? Ist es Stolz?

Wann hast du zuletzt so intensiv gelebt wie jetzt.

Noch nie. Oh, süße Sünde, noch nie.

*

Den Tod für Tante Trudl!

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