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Die schreckliche Qual

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Ich wohnte schon hier bei Tante Trudl – dass es gegen meinen Willen geschah, brauche ich wohl nicht hinzuzufügen – und befand mich noch in der tiefsten Trauerphase, du weißt schon, die Phase, wo man nichts essen will, wo man sich nicht mehr wäscht, wo man tags unruhig und nachts gar nicht mehr schläft, als ich die Qual kennenlernte. Oder besser: Als ich kennengelernt wurde!

Ich hatte mich in einer Ecke auf dem Fußboden verkrochen. Zwischen zwei Stühlen hing eine Decke und ich saß darunter. Ich wollte niemanden sehen. Vor allem diese Tante nicht. Auch dieses Zimmer nicht. Und schon gar nicht diesen Ort, weit, weit weg von zu Hause. Nie mehr.

Doch Tante Trudl klopfte sacht an der Zimmertür und rief einen Namen: „Steffi!“

Das ist aber nicht mein Name. Ich heiße ja – das dürftest du inzwischen schon mitbekommen haben – Maja. Doch Tante Trudl meinte trotzdem mich.

Ich antwortete nicht. Aber nicht wegen dem falschen Namen. Ich hätte auch bei meinem richtigen Namen ihr nicht geantwortet. Nicht dieser unangenehmen alten Nuss.

Tante Trudl wartete einige Zeit, bis sie ihr Rufen wiederholte. „Komm doch heraus!“

Sie ging ein paar Schritte durch’s Zimmer, als würde sie mich irgendwo suchen. Dabei war es doch ganz logisch, dass ich unter der Decke steckte. Meine Beine schauten ja darunter heraus. Im Leben ist es doch immer dasselbe: So klein du auch bist, deine zugewiesene Decke zum Verstecken ist noch kleiner.

„Ich habe eine Spielgefährtin für dich gefunden,“ begann die Tante und steuerte nun geradewegs auf mein Versteck zu, „damit du dich besser eingewöhnen kannst.“

Ich will mich nicht eingewöhnen, dachte ich. Meine Freundinnen sind in Tupfing. Dort gehöre ich auch hin!

„Komm doch mal heraus,“ fuhr Trudl fort, „bitte.“

Eine Spielgefährtin ...

Am Ende eine Puppe oder sonst was Behämmertes. Lass mich in Ruhe. Ich bleibe hier in meinem Versteck.

„Sie wird nächstes Schuljahr ans Gymnasium gehen. Genau wie du“, ergriff Trudl wieder das Wort. Ich konnte sehen, wie sie sich auf ihre Knie herabließ. Bitte heb jetzt bloß nicht die Decke an! Das fehlte gerade noch, dass ich dein hässlich gesundes Gesicht so nah vor meinem hätte.

Aber weißt du, Leser, was sie tat. Ja, eben das! Sie hob die Decke an und streckte den Kopf in meine Privatsphäre! Ihr Gesicht war zehn Zentimeter von meinem entfernt. Und ich hatte das dringende Verlangen, da rein zu spucken, zügelte mich aber noch. Wie du bereits weißt, denn ich habe die jüngere Vergangenheit schon vor dieser älteren aufgeschrieben, habe ich das auch später getan. Aber in diesem Moment größter Abscheu vor dieser Person zügelte ich mein Bedürfnis.

Ich muss gestehen, dass es nicht nur die Nähe zu ihrem Gesicht war, was mich veranlasste, aus dem Versteck zu springen und mir diese Spielgefährtin anzuschauen. Die Aussicht, im baldigen Gymnasialjahr eine Freundin und Banknachbarin zu haben – denn im Grunde wusste ich ja, dass ich nicht zurück nach Tupfing konnte –, war mir doch angenehmer, als ich vorerst zugeben wollte. Ja, das dachte ich.

Deshalb trottete ich wortkarg vor meiner Tante her, durch das duftende und blühende Haus hinunter Richtung Hausgang. In der Tür davor war ein verschwommener Spiegel angebracht, ich sah mich kurz mit roten Augen darin, wie ich widerwillig hin und her trippelte.

Doch nein! Ich musste mich getäuscht haben! Die Tante lief doch neben mir, aber ich konnte sie im Spiegel nicht sehen! Schnell drehte ich mich nach ihr um. Ich hatte sie rechts hinter mir erwartet und tatsächlich stand sie dort auch! Und wieder drehte ich mich nach dem Spiegel, um ihre Erscheinung darin zu erblicken. Aber es war genau wie beim ersten Mal! Keine Tante Trudl war dort zu erkennen!

Nun wurde mir alles klar! Tante Trudl war ein Vampir! Ach, ich hatte es ja schon lange vermutet, weil sie mir ja alle Energie und Freude aus dem Körper gesaugt hatte.

Das war der erste Moment,

an dem ich darüber nachdachte,

Tante Trudl umzubringen.

„Du brauchst nicht schüchtern sein“, wisperte mir ihre Stimme ins Ohr. Sie hatte mein Stehenbleiben falsch gedeutet. Ich zeigte auf den Spiegel und verfluchte mich im selben Moment dafür. Trudl durfte nicht wissen, dass ich ihr Geheimnis kannte.

„Ja,“ sagte sie und ich muss zugeben, dass mich ihre folgenden Worte sehr verwirrten, „das ist sie.“

Ich wandte mich zu ihr um und schaute ihr das erste Mal ins Gesicht. „Wer ist das?“, fragte ich. Hinter dem Terrassenfenster stand der Apfelbaum. Er war so grün, so grün vor dem schrecklichen Beton. Seine goldenen Früchte und die braunen Zapfen blinkten durch das Blätterwirrwarr. Ich erzähle das nur deshalb, weil ich mir in diesem Moment nichts mehr wünschte, als eben dort oben zu sitzen. Ich wollte in diesem grünen wunderbaren Häuschen sein, von den Äpfeln kosten und an den Zapfen schnuppern! Und ich wollte niemals mehr hinunterkommen. Ich wollte dort sitzen, bis mir die verzweifelte Vampirtante versprechen würde, dass ich nach Hause dürfte. Aber ich war ja viel zu gering, um dort hinaufzukommen.

„Das Mädchen ist deine neue Spielgefährtin“, antwortete die Tante und runzelte die Stirn. „Wie lange willst du sie denn noch warten lassen?“

„Aber, aber das ist doch ein Spiegel“, entgegnete ich. Mir war nun wirklich eigenartig zu Mute. Wenn ich nur auf diesen Baum gelangen könnte! Wäre er unter meinem Zimmerfenster gestanden, ich schwöre dir, du Leser, ich wäre in einer Nacht- und Nebelaktion dort hineingesprungen. Aber jetzt war kein Fortkommen. Plötzlich lachte die Tante und riss mich aus meinen Freiheitsgedanken.

„Steffi, das ist doch kein Spiegel. Eine verschwommene Glasscheibe ist es, sonst nichts!“

Und sie hatte recht. Denn sie öffnete die Tür und da stand das Mädchen noch im Hausgang. Und als sie hereintrat und die Tür wieder verschlossen wurde, war niemand mehr im Spiegel zu erkennen. Ich hätte mich schon selbst schrecklich schimpfen wollen für die Dummheit, wenn ich nicht zu sehr von dieser Mädchengestalt abgelenkt gewesen wäre.

Sie sah mir gar nicht unähnlich, hatte wie ich schmutzigblondes halblanges Haar, eine schöne kleine Nase und einen ganz leichten Überbiss. Doch waren ihre Augen – soweit das möglich ist – noch geröteter als meine. Und war ich zu diesem Zeitpunkt schon schlanker als früher, so war sie hager. Auch ihr Teint war blasser als meiner. Das merkwürdigste an ihr waren aber ihre Wimpern, die zum Teil an ihrer Iris festzukleben schienen. Vielleicht waren sie der Grund, warum ihre Augen so tränenreich und gerötet waren, ich weiß es nicht. Bis heute nicht.

Nur ein Teil ihrer Wimpern wuchsen mir entgegen, der andere Teil – es war sicher eine gute Hälfte davon – verlief exakt senkrecht über die offenen Augen. Mein erster Gedanke war: Das müssen ja enorme Schmerzen sein, die das Mädchen zu ertragen hat!

Der Schock aber kam, als ich einen Schritt auf sie zutrat, vielleicht, um ihr die Hand zu schütteln oder um sie einzuschüchtern, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß aber, dass ich ihr tief in die roten Augen blickte und mich dann ähnlich erschreckte, wie es meine Mutter in ihren letzten Atemzügen getan hatte.

Ich erblickte mein Spiegelbild in ihren Augen. Es war mein Gesicht, das mit doppelter Beklommenheit auf mich zurückstarrte. Doch die senkrecht verlaufenden Wimpern erschufen ein grässliches Gesamtbild. Es sah doch haargenau aus wie eine Gefängniszelle, in der mein blasses Gesicht gefangen war. Ihre Wimpern waren zu Gitterstäben für mein Spiegelbild geworden!

Ich wich vor dem Mädchen zurück und glaubte – es mag Einbildung sein – eine kaum wahrnehmbare Häme über das zarte Gesicht wandern zu sehen.

Tante Trudl schämte sich für mich: „Was ist denn mit dir los? Willst du der Qual nicht guten Tag sagen?“

„Wie heißt sie?“, erwiderte ich unter erstickten Lauten.

Tante Trudl stöhnte. Dann sagte sie: „Steffi, das ist die Qual! Qual, das ist meine Nichte Steffi!“

*

Den Tod für Tante Trudl!

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