Читать книгу Die Storis der Stori vom Goggolori - Lukas Wolfgang Börner - Страница 5
ОглавлениеVorsatz
Es sollte eigentlich nur ein kleiner Scherz sein.
„Hahaha, dieser Lukas,“ sollten meine Freunde sagen, „der ist schon ein rechter Spaßvogel!“ Jeder meiner Beiträge im sozialen Netzwerk – das hatte ich mir vorgenommen – sollte witzig sein. Wann immer ich einen Beitrag schickte, sollten die Freunde denken: Oh, Mann, jetzt kommt wieder etwas irre Komisches!
Aber mit meiner kurzen Märchenparodie bin ich wohl zu weit gegangen. Manchmal wünschte ich, ich könnte das alles rückgängig machen, denn die Arbeit und die Verantwortung, die nun auf meinen Schultern lasten, sind übergroß.
Ich bin ein Germanistikstudent im letzten Semester. Meine Leidenschaft ist das Schreiben von Geschichten. Eines Tages – so hatte ich bis neulich noch gedacht – würde ich einen Roman schreiben, dick wie ein Baumstamm. Vielleicht einen Kriminalroman. Denn diese Romane sind am beliebtesten – warum sollte man seine Zeit also mit anderen Genres vergeuden?
Dieser Traum ist nun geplatzt. Warum? Wegen der Märchenparodie. Ich hatte in einem Anflug von Geltungssucht folgende Zeilen ins Internet gestellt:
Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Söhne. Der ältere Sohn war fleißig und rechtschaffen, der jüngere Sohn aber war ein Arschloch. Viele Tage und Jahre überlegte der große Bruder, wie er diesen ungebührlichen Bruder wohl loswerden könnte. Schließlich lieh er sich von einem reichen Edelmanne allerlei Gold und Silber. Damit trat er an seinen jüngeren Bruder heran und sagte, er habe es am Grunde des nahen Brünnleins gefunden, wo eine versteckte Schatzkammer sei. Da packte den unfeinen Bruder die Gier. Sogleich sprang er in das Brünnlein – und ertrank darin. Da lachte der rechtschaffene Bruder und lebte fortan glücklich und zufrieden.
Mann, Mann, Mann, das ist die perfekte Satire, dachte ich mit meinem Gipskopf. Weil es so wunderbar die Schwarzweißmalerei und die Doppelmoral der Grimm’schen Märchen aufs Korn nimmt.
Wie ich aber so vor meinem Rechner saß und auf die Daumen-hochs meiner Freunde wartete, war mir, als hörte ich ein leises Geraschel. Ich drehte den Kopf und starrte das Bücherregal an, denn von dorther war das Geräusch gekommen. Plötzlich kroch aus dem hintersten Winkel meiner Bibliothek eine vielleicht faustgroße Gestalt hervor. Mit kleinen Händen und Füßen, einem großen Kopf mit langem Kinn und einer Nase, die das Kinn beinahe berührte, stand sie dort auf dem Regal und funkelte mich böse an. Sie war vom Kopf bis zu den Füßen eisgrau wie … nun ja … graues Eis.
„Äh …“, sagte ich.
„Ääähh!“, äffte mich das kleine Geschöpf nach.
„Was … ähm … wer bist du?“, drang es aus meiner Kehle.
„Wer bist du! Wer bist du!“, ätzte der Wicht, indem er sich alle Haare raufte. „Ich bin ein Hutzelmann. Das sieht man doch: Ich habe ja schließlich zwei Beine!“
„Wieso? Ich hab doch auch …“, begann ich.
„Halt den Mund!“, herrschte mich der Kobold an.
Dann sprang er eine Etage tiefer, zog das Grimm’sche Märchenbuch aus der Bücherreihe, tappte weiter, zog Andersens Märchen heraus und bahnte sich einen Weg zu Claudia Otts herrlicher Ausgabe von Tausendundeiner Nacht.
„Was tust du da?“, fragte ich. Doch es war nur ein Hauchen über meine Lippen gekommen und ich musste die Frage wiederholen. Etwas lauter.
Der Kobold schaute stirnrunzelnd auf. Er hatte nicht damit gerechnet, bei seiner Arbeit gestört zu werden.
„Ich nehme deine Märchen mit!“, pfiff er, packte mit enormer Kraft Basiles Pentameron und warf es auf die anderen Bücher, die er auf seinem kleinen Rücken balancierte. Dann blickte er sich um, erspähte eine Reihe weiterer Kunstmärchen und sprang leichten Fußes – als trüge er gar keine Last mit sich – in jene Regal-Etage, um weiter aufzuladen. Mein Wilde! Mein Hesse! Mein Ende!
„Wieso nimmst du meine Märchen mit?“, rief ich, obwohl ich die Antwort schon wusste. Und tatsächlich erhielt ich folgende Aufklärung: „Du bist ihrer j a nicht würdig! “
Da löste ich mich aus meiner Erstarrung, sprang vom Stuhl auf und wollte den Kobold packen. Doch – „AUA!!“ – der Wicht war kälter als Eis. Ich riss mir einige Hautfetzen von der Hand, die am Kobold festgefroren waren.
Der sah das erste Mal heiter aus.
„Jaha,“ kicherte er, „die Schattenwelt steckt mir noch immer in allen Gliedern!“ Sprach’s und zupfte Hauffs Karawane aus dem Regal.
Ich leckte mir die blutende Hand. Eine derartige Kälte war im Reich der Lebenden gewiss kein zweites Mal zu finden – abgesehen natürlich von den Händen meiner Frau. „Darf man denn nicht einmal eine klitzekleine Märchenparodie schreiben? Ist das wirklich so schlimm?“
Der Kobold, der sich eben den Dschinnistan aufladen wollte, versteinerte. Dann drehte er sich mir so langsam und grimmig zu, dass ich trotz seiner geringen Größe vor ihm zurückwich. Sein Kopf mit dem langen Kinn vibrierte.
„Einmal?“, schrie er. „EINMAL??“ Und er sprang durch die Wohnung wie ein eisgrauer Blitz. „Einmal!! Einmal!!“
Dann aber beruhigte er sich ein wenig, hupfte auf den Tisch und zog eine Grimasse. „Hör zu,“ sagte er, während ich noch schlotternd vor ihm stand, „alle, alle Schriftsteller machen heutzutage Märchenparodien. Immer wieder und wieder. Sie sind unfähig, selber schöne, geistreiche Märchen niederzuschreiben, aber sich darüber lustig machen – das geht immer! Sie sind zu blöd, um die Tiefsinnigkeit, das Wunderbare, das Zeitlose dieser Werke zu begreifen, zu begreifen, dass das Märchen der Beginn und Kern der Literatur an sich ist! Stattdessen schreiben sie belanglose Fortsetzungsromane und halten sich, sobald sie einen Bestseller landen, für Goethes Wiedergeburt. Es regt mich auf! Es macht mich krank! In hundert Jahren wird niemand auch nur noch einen dieser Autoren kennen!“
Er machte eine Pause, um Luft zu schnappen.
„Und ebenso empören mich die heutigen sogenannten Märchenautoren. Da kenne ich Frauen, die schreiben über Jahrzehnte hinweg äußerst mittelmäßige, natürlich aber erfolgreiche Romane. Dann glauben sie, es wäre witzig, auch noch innerhalb weniger Monate ein Märchenbücherl nachzuschieben. Sie investieren Jahrzehnte in ihre Romane und für ihr Märchenbücherl nehmen sie sich gerade einmal ein paar Monate Zeit!? Sie schreiben die Märchen,“ – seine Stimme war zu einem Jaulen geworden – „als wären es keine ernstzunehmenden Geschichten. Es sind ja nur Märchen! Nur ein kleiner blödsinniger Spaß für Kinder! Ja, jawohl: Auch sie werden in der Versenkung verschwinden, versickern, genauso wie diese Sintflut an Romanen! Aber die echten Märchen werden lebendig bleiben. Und weißt du, warum?“
Ich öffnete den Mund, doch die Frage war offenbar rhetorisch gemeint.
„Weil die Märchenwelt ein Bestandteil der menschlichen Seele ist.
Märchen sind mehr als nur Geschichten. Wenn einem Menschen das Märchen fehlt, wird er trübsinnig. Er verkümmert an den Grenzen seines Schrebergärtchens und weiß nicht einmal, dass er diese Grenzen selber gezogen hat!“
Einen Moment herrschte Stille.
Ich hatte nicht alles verstanden, was der Kobold geschimpft hatte. Aber mir wurde allmählich klar, dass er nicht nur die Märchenbücher entwenden würde. Er würde mir alles Märchenhafte in meinem Leben wegnehmen! Ich brach zusammen. Der Kobold betrachtete mich mit Genugtuung.
„Aber ich bin nicht so wie die anderen Autoren!“, wimmerte ich endlich unter Tränen. „Ich liebe Märchen!“
„Warum vergeudest du dann deine Zeit mit Parodien? Mit Kriminalromanen? Warum schreibst du keine wirklichen, schönen Märchen nieder?“ Und er drehte sich um, sprang zu der Stelle des Regals, wo die romantischen Dichter standen, und zupfte deren Kunstmärchen heraus. Meinen Mörike und meinen Tieck, meinen Eichendorff und meinen Chamisso, meinen Storm und … ach! meinen lieben, lieben Hoffmann!
„Bitte!“, plärrte ich. „Meine Frau ist schwanger. Bald werden wir ein Kind haben! Wie soll ich es denn in die Märchenwelt einführen, wenn du sie mir wegnimmst? Wie sollen wir je mit ihm spielen, wie Ostern oder Weihnachten feiern?“
„Das hättest du dir früher überlegen müssen, bevor du diese platte Parodie verbreitet hast!“, entgegnete der Kobold. Trotzdem klang seine Stimme milder.
Ich aber fiel auf den Teppich, versenkte die Nase in den grünen Stoff und weinte. „Gibt es denn gar keinen Ausweg?“
Da – endlich – unterbrach der Kobold seine Arbeit. Es schien, als hätte er, wie ich so weinte, doch etwas Mitleid mit mir bekommen. Nach einer Weile räusperte er sich und sagte: „Nun ja … doch. Es gibt eine Möglichkeit. Sie ist zugegebenermaßen absurd … aber du hast ja zumindest den Hauch eines Dichter-Talents. Höre mich also an: Wer so gegen die guten Sitten des Märchenhaften verstoßen hat wie du, der kann nur auf eine einzige Weise die Märchenwelt zurückgewinnen.“
„Wie denn?“, schluchzte ich und schnäuzte mich in den Teppich.
„Er muss Märchen schreiben, die an Fantasie und Tiefe den großen Märchen, die ich dort gestapelt habe, in nichts nachstehen. Er muss beweisen, dass er ihre Großartigkeit begriffen hat, und zugleich die Märchenwelt erweitern. Und dies alles muss er in drei Büchern tun, wovon ein jedes drei mal drei Märchen enthalten muss!“
„Drei Bücher? Drei mal drei Märchen?“, wiederholte ich.
„Drei Bücher. Drei mal drei Märchen“, bestätigte der Kobold.
„Das sind ja siebenundzwanzig Märchen!“
„Du bist ein mathematisches Wunderkind.“
Ich ignorierte des Gefrotzel des Kobolds. „Und wenn ich das nicht schaffe?“
„Dann werde ich kommen und sämtliche Märchen deiner Familie tilgen und zwar bis in die dritte Generation hinein!“, antwortete der Kobold drohend.
Ich erhob mich vom Teppich und starrte den eisgrauen – wie hatte er noch gesagt? – Hutzelmann an. „Da bin ich ja mein ganzes Leben damit beschäftigt!“
„Das ist ja nicht mein Problem.“
„Wenn ich aber davor sterben sollte?“
„Dann hoffe ich auf deine Nachkommen!“, meckerte der Kobold, machte eine Verbeugung, sprang davon und verschwand in den Untiefen der Bibliothek.
Tja.
Ich denke, alles Weitere erklärt sich irgendwie von selber.
Drecks-Märchenparodie! Keiner meiner Freunde fand sie lustig!
Lukas Wolfgang Börner