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Annes Weihnachtswunder

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Weihnachten stand vor der Tür. Anne fühlte sich an ihrem ersten Urlaubstag regelrecht reif für die Insel. Martin war vor Kurzem ausgezogen und hatte sie mit den zwei Jungs in der längst noch nicht abbezahlten Doppelhaushälfte alleine gelassen. Um zu Hause wenigstens einen Hauch von unbeschwerter heiler Welt zu erhalten, hatte sie ein paar Ecken darin mehr oder minder lustlos weihnachtlich dekoriert. Auch ihre frühere Leidenschaft für die Weihnachtsbäckerei und ihr Sinn für hübsche Geschenke waren seit der Trennung von ihrem Mann spurlos erloschen.

„Ich hab Papa mit Manu vor dem Blumengeschäft schmusen gesehen“, hatte ihr Kleiner neulich nach der Schule aufgebracht erzählt. Es war Zeit, dass Martin und sie nach den Feiertagen mit den Kindern reinen Tisch machten.

Ob wohl die Anwältin in der Zwischenzeit zurückgerufen hatte? Anne zog den Zündschlüssel ab und seufzte tief. Sie hatte ein paar Einkäufe erledigt. Was sollte sie mit diesem angebrochenen Vormittag anfangen? Die Sonne schien, Tauwetter hatte eingesetzt und das bisschen, das es am Wochenende in ihrem südbadischen Dörfchen runtergeschneit hatte, war längst geschmolzen.

Die Insel, nach der sie sich sehnte, schien in unerreichbarer Ferne. Anne schlüpfte in ihre Joggingschuhe und lief Richtung Weinberge. Sie hatte das Rauchen wieder angefangen und schon bevor sie den ersten Hügel erreicht hatte, prustete sie wie eine ausrangierte Dampflock. Anne blieb stehen und schloss die Augen.

Es war so warm, sie konnte kaum glauben, dass schon in vier Tagen Heiligabend war. Das Tal zu ihren Füßen war von einem blassen Schleier umhüllt. Anne ließ ihren Blick über die malerische Landschaft gleiten, erst jetzt konnte sie die Anspannung der vergangenen Wochen spüren. Ihr Nacken schmerzte und sie ließ ihren Kopf von rechts nach links gleiten, um die verkrampften Muskeln zu lockern.

Da blitzte etwas am Himmel. Hatte sie Halluzination oder war da gerade eine Sternschnuppe zu sehen gewesen? Unmöglich – ihre Nerven lagen einfach blank. Leicht verwirrt begann Anne erneut zu laufen, als sie eine fremde Stimme vernahm: „Eiiiiiia…. isse aberr eute nix eine Glanse-Leistung, eeehh?“

Anne zuckte wie vom Blitz getroffen. Ein südländisch wirkender etwa 40-jähriger Mann mit Dreitagebart und Ohrring grinste sie leutselig an. „Ent-suldigunge, wolle diche nix ersecke“, grinste er. „Sie duzen wohl jeden?“ Herrje, was, wenn der sie jetzt ausrauben und verschleppen würde – Anne schloss den Reißverschluss ihrer Steppjacke. „Du brauche keine Angste vor mire zu abe“, sprach der etwas ungepflegte Fremde mit seinem komischen Akzent.

Oweia, ein Psychopath. Anne spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoss, ihr Puls erhöhte sich um ein Vielfaches und sie begann, sich selbst Mut zuzusprechen: Ruhig bleiben. Jetzt nur ganz ruhig bleiben. „I-che eiße Angelo.“ Der Verrückte hatte einen ausgeprägten Silberblick. „Ich heiße Anne.“ „Certamente! Ich weiß….binne ja schließe-lich deine Schutz-hengel…“, antwortete der Fremde und lachte.

Er zog ein Tütchen Tabak aus seinem abgewetzten Parka und begann pfeifend, sich eine Zigarette zu drehen. „Seit wann rauchen Engel eigentlich?“, fragte Anne. Ihre Freundin Astrid hatte zwei Semester Psychologie studiert und ihr einmal erzählt, dass man geistig Verwirrte im Zweifelsfall in ihrer Welt belassen sollte. „Iche rau-kke nurrrr, wenn iche bin inne…wie sagt man…inne Stress.“ „Aha.“ „Ja, gibt viel zu tun füre eine Schutz-hengel, besonders vor Weihnachte“, erklärte er eifrig. Anne drehte sich unauffällig um und überlegte, welchen Fluchtweg sie wohl am besten wählen würde.

„Setze dich doch!“ Angelo deutete auf die muffige Decke, die er aus seinem prall gepackten Rucksack zog und nun im Gras ausbreitete. Sie würde den Teufel tun, als sich neben einen Verrückten zu setzen, der sich als viel beschäftigter Engel ausgab. „Danke nein, ich sitz ja den ganzen Tag im Labor.“ „Aber nur, wenn du niche selber in die Raukerkeller paffst!“ Woher kannte dieser Stalker den Raucherkeller des Labors? Der war mehr als inoffiziell und eigentlich total verboten. War das ein Bekannter von Astrid? Ihre Kollegin und Freundin unternahm seit Jahren Singlereisen ans Mittelmeer.

„Musse wirklich keine Angst abe vor mirrr. Binne eine ganze guuute Schutz-hengel.“ Das hatten andere vor ihm auch schon behauptet. Anne wünschte sich nichts sehnlicher, als die Zurücktaste ihres Laptops, um diesen Vormittag auf den Zeitpunkt zurückzudrehen, als sie den Zündschlüssel vom Auto abgezogen hatte.

Stocksteif stand Anne neben dem rauchenden Angelo, der jetzt ein Tablet aus seinem Rucksack zog. Was folgte jetzt? Eine Videokonferenz mit Petrus? „Musse schaue in meine Äpp“, erklärte er.

"Hark! the herald angels sing….…Glory to the newborn King…", dudelte das Tablet, als Angelo seine „Äpp“ gestartet hatte. Du meine Güte – das war ja ihr Lieblingsweihnachtslied! Das hatte sie gefühlte hundert Jahre nicht mehr gehört!

"Peace on earth, and mercy mild, God and sinners reconciled." Ihr Herz machte einen kleinen Freudensprung, dann besann sie sich auf Angelos Tablet, auf dem sich nun ein goldener Terminkalender öffnete, in dem sie ihren eigenen Namen lesen konnte: "Anna Winter – Montag, 21. Dezember 2012 (Prio 1 Termin!)". Gerade als sie die Details in den Terminnotizen lesen wollte, schaltete Angelo das Tablet aus. „Wirr szwei musse weiterkomme. Isse Hochbetrieb fur uns um diesse Zeit!“

Er blickte Anne erwartungsvoll an, wobei sie seinen Silberblick gar nicht mehr so furchterregend fand, sondern auf eine besondere Art und Weise sogar sehr vertrauenserweckend. „Wasse isse deine großte Wunsch fur diese Jahr?“, fragte er.

Anne zog die Stirne kraus. Sie hatte ja so viele Wünsche. Eine Zauberfrau wünschte sie sich, die ihr den Haushalt auf Vordermann bringen und mit den Kindern Vokabeln und Mathe pauken würde. Einen unbekannten Spender wünschte sie sich, der ihr ein neues Auto kaufen und das Hypothekenkonto auf null setzen würde. Und einen Krater wünschte sie sich, der Manuela mitsamt ihrem Blumenladen vom Erdboden verschlucken würde und Martin und seinen Anwalt am besten gleich mit.

Anne erzählte Angelo von ihren Nächten, in denen sie sich schlaflos im Bett hin und her drehte, während ihre Gedanken Karussell fuhren. Sie sprach von ihrer Mutter, die es trotz Annes Misere vorzog, die Feiertage mit ihrem neuen Lover in der Karibik zu verbringen.

Ihr Vater war vor zwei Jahren gestorben. Er hätte es nie und nimmer zugelassen, dass Anne und die Jungs Weihnachten alleine verbringen. Träne für Träne floss mit einem Mal über Annes Wangen und lösten langsam den Kloß, der ihr seit Monaten im Hals steckte. „Musse nix traurig sein!“ Angelo reichte ihr ein mit Da Vincis Engeln bedrucktes Papiertaschentuch. „I-che abe mitte meine Cheffe gesproche, atte gesagt dass makke wieder alles gut, aaaaalllesss!“

Angelo tätschelte Annes Schenkel und überreichte ihr ein kleines Schächtelchen: „Aberr erste an die eilige Abend offnen, o.k.?“ Anne lächelte und nickte dankbar. Sie hielt sich das Päckchen ans Ohr, schüttelte leicht daran und hörte ein zartes "Klingeling!"

Sie blickte verträumt in die Ferne, da meldete sich Angelos Tablet mit einem vierfachen Glockenschlag. „Mamma mia…..abe ganze vergesse…meine nächste Termine warte schon…Bella…musse diche jetzte verlasse…“ Wer hätte das gedacht? Noch vor einer Stunde wäre Anne froh gewesen, diesen sonderbaren Typ auf weiter Flur loszuwerden. Nach dem Gespräch aber fühlte sie sich so erleichtert und gelöst, dass sie nun richtig traurig war, da der Abschied nahte.

„Ich wunsche dirrrr und die Bambini eine schöne Fest“, sagte er feierlich und drückte feste Annes Hand. Es hatte abgekühlt, doch ihre Wangen glühten, als hätte sie in einem Honigpunschtopf gebadet.

„Danke Angelo.“ Sie lächelte. „Ciao bella….und: nix vergesse – allessss werde wieder guttt!“ Angelo hatte sich seinen Parka übergezogen. Er zwinkerte ihr kurz zu, Anne winkte: „Auf Wiedersehen, Angelo!“ Sie sah ihm nach, bis er hinter dem Weinberg verschwunden war.

Sie hauchte kühle Luft ein, da fielen dicke Schneeflocken auf ihre heißen Wangen. Sie sah auf die Uhr und erschrak, dass es schon so spät war. Wie ein kleines Kind rannte sie eilig nach Hause zurück. Sie musste Astrid einladen und eine Gans bestellen. Sie wollte Weihnachtslieder hören und einen Stollen backen. Sie wollte Socken stricken und die Geschenke einpacken. Sie hatte noch so viel zu tun, bis die Kinder von der Schule kommen würden. Sie ahnte, dass sie soeben ein kleines Weihnachtswunder erlebt hatte.


***


Ihr wollt sicherlich wissen, was in dem kleinen Päckchen war. Ich hätte es zu gerne eurer Leserfantasie überlassen – da aber bald Weihnachten ist, will ich es ausnahmsweise verraten: In dem kleinen Schächtelchen war Annes Ehering, den sie vor Monaten abgelegt hatte. Nachdem sie an einem grauen Novembertag das erste Schreiben von Martins Scheidungsanwalt im Briefkasten vorgefunden hatte, war sie mit dem Ring in die Stadt gefahren und hatte diesen vor der Kanzlei in einen Gully geworfen.

Wusstet Ihr, dass der Name „Angelo“ wörtlich übersetzt „Bote“ oder „Botschafter Gottes“ bedeutet? Daran musste Anne denken, als sie am Heiligabend ihren funkelnden Ehering aus dem roten Schächtelchen auspackte. "Martin - 15.05.2000" las sie die Innschrift des Rings und als sie daraufhin ihre Kinder fest in die Arme schloss, fielen ihr Angelos Worte wieder ein: „Alless werde wieder gutt.“



***



Ein Jahr später:


Von: anne.winter@angelmail.com

An: hermine.vonkleister@premiumpost.de

Roma, 21. Dezember 2014, 12:17

Mutter,

nachdem du vergangenes Jahr so von deinem Weihnachtsurlaub in der Südsee geschwärmt hast, habe auch ich vor den Festtagen eine kleine Reise unternommen: Ich bin in Rom – es ist wunderbar! Der riesige Tannenbaum auf dem Petersplatz kommt in diesem Jahr aus Deutschland.

Mein schönstes Weihnachtsgeschenk jedoch ist, dass Martin wieder bei uns einziehen wird. Er ist mit mir hier in der ewigen Stadt, wir sind so glücklich wie nie zuvor, da wir wissen, dass wir zusammengehören.

Wir kommen am 23. Dezember wieder. Wenn du Lust hast, komm uns doch zu Weihnachten besuchen – wir würden uns freuen!

Viele Grüße aus Rom senden dir ganz herzlich

Anne & Martin



Von: anne.winter@angelmail.com

An: astrid.berger@badenlabor.de

Roma 21. Dezember 2014, 20:44


Liebe Astrid, Basti und Leo,

wir senden euch ganz liebe Grüße aus dem wundervoll weihnachtlichen Rom! Ihr Ärmsten müsst noch Schul- und Laborbank drücken, während Martin und ich durch diese tolle Stadt schlendern und neben Wein und Pasta köstliche Leckereien probieren – wir haben schon zentnerweise Torrone für euch eingepackt und in zwei Tagen kommen wir ja auch schon wieder.

Stellt euch vor, als wir uns heute vor dem Castel Sant Angelo, der Engelsburg, fotografieren ließen, fing es urplötzlich an zu schneien! Dabei war in diesem Jahr wohl gar kein Schnee in der heiligen Stadt angekündigt worden – meinte zumindest der Fremde, der uns fotografiert hat. Ich weiß nicht, ob es euch interessiert, aber er sah dem Mann, dem ich letztes Jahr in den Weinbergen begegnet bin, erstaunlich ähnlich.

Für heute grüßen euch ganz lieb:

Mama & Papa



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