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Mehr Mut zum Sozialunternehmertum

»Stell dir vor, es gibt Arbeit und keiner bekommt sie.« Weil die Arbeit nur da und dort anfällt und viele gar nicht wissen, dass in unserer Gesellschaft rund 10% der arbeitsfähigen Bevölkerung gerne arbeiten würde, aber keine Arbeit findet. Weil sich niemand darum kümmert, diese Arbeit zu erschließen und so zu organisieren, dass daraus Arbeitsplätze entstehen.

Arbeitsplätze sind auch in der Schweiz unsicherer geworden. Produktionen werden ausgelagert, und einfache Tätigkeiten verschwinden zusehends. Wer keine gute Ausbildung hat und dazu noch mit gesundheitlichen Problemen belastet ist, findet heute schwerer eine Anstellung, mit der er oder sie seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Diese Entwicklung ist in der Schweiz zwar noch etwas schwächer als anderswo; an den Rändern der Gesellschaft, beispielsweise im Bereich der Sozialhilfe, lässt sich jedoch seit einigen Jahren ein Trend feststellen, der es für Menschen, die einmal in der Sozialhilfe gelandet sind, schwieriger macht, wieder eine Stelle zu finden, und zwar unabhängig von der Konjunktur. Damit gerät ein wichtiger Wert in Gefahr: Die Chancengleichheit, also die Möglichkeit für alle, eine existenzsichernde Arbeit zu finden und den sozialen Aufstieg zu schaffen. Auch wenn heute immer mehr Geld mit Geld verdient wird, sind die meisten Menschen in der Schweiz nach wie vor auf ein Arbeitseinkommen angewiesen.

Es bedarf nicht einmal eines Blicks über die Grenze, um Tendenzen erkennen zu können, dass sich die Welt immer stärker aufteilt in Arbeithabende und in solche, die keine (mehr) haben. Dies schafft Gräben, die wir als sozial engagierte Menschen nicht einfach so hinnehmen sollten. Wer aber soll sich dagegen wehren? Wir haben zwar eine hervorragend alimentierte Sozialbranche, sie weist in der Schweiz immer noch ein starkes Wachstum auf, dennoch gibt es kaum Rezepte und Ansätze gegen diese Entwicklung.

Im Bereich der Arbeitsintegration arbeiten die meisten Fachleute noch mit Methoden, die bei den »Defiziten« der Betroffenen ansetzen. Mittel wie Coaching, persönliche Betreuung oder agogische1 Trainingsmethoden gehören nach wie vor zum methodischen Alltag. Diese Methoden sind an sich nicht schlecht und in einigen Fällen auch wirksam, aber sie verkennen, dass die Ursache der geringeren Integrationskraft unserer Wirtschaft für Personen mit schwachem Bildungshintergrund nicht im Individuum liegt, sondern dass es sich um eine gesellschaftliche Entwicklung handelt, die die Anforderungen für eine Stelle immer höher ansetzt. Es ist, als ob die Zulassungskriterien für einen sportlichen Volksanlass immer höher geschraubt werden; eine Weile kann solchen Tendenzen mit besserem Training begegnet werden, irgendwann geht dies jedoch nicht mehr. Ab diesem Moment werden trotz bestem Training und modernster Betreuung immer mehr Menschen nicht mehr am Anlass teilnehmen können; nicht alle haben das Zeug zum Spitzensportler.

Daniela Merz, eine junge Frau mit ausgeprägter sozialunternehmerischer Persönlichkeit aus dem Appenzellerland, ist diesem Wandel bereits 2002 entgegengetreten. Als Politikerin, IT-Unternehmerin, Betriebswirtschafterin und Primarlehrerin hatte sie von ganz unterschiedlichen Seiten her Einsicht in die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Als sie ihre Stelle als Geschäftsführerin der damals noch kleinen Stiftung für Arbeit in St. Gallen antrat, spürte sie instinktiv, dass sie mit einem anderen Ansatz vorgehen musste, um wieder mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Arbeit war in ihren Augen mehr als nur ein Mittel zur Existenzsicherung, es war die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Sie erkannte, dass im industriell geprägten Raum St. Gallen trotz massiver Auslagerungswellen noch Arbeit da war, zugleich war sie Unternehmerin genug, um zu wissen, dass diese nicht mehr für existenzsichernde Arbeitsplätze reichte, weil sie ja für die Wirtschaft uninteressant geworden war. Trotzdem: Es war reelle Arbeit. Genauso wie landwirtschaftliche Arbeit konnte sie mit staatlichem Zutun erschlossen und erhalten werden. Im Unterschied zur Landwirtschaft strebte Daniela Merz jedoch eine volkswirtschaftlich möglichst kostenneutrale Erschließung dieser Arbeit an. Der Staat musste für die Lebensunterhaltskosten der Sozialhilfeempfangenden aufkommen, er sollte allerdings für die Arbeitsintegration möglichst nicht noch extra zur Kasse gebeten werden. Wer eine Leistung erbrachte, brauchte sich nicht zu schämen, wenn er oder sie in die Sozialhilfe geraten war.

Die Triebfeder für ihr Handeln war und ist die Überzeugung, dass eine liberale Gesellschaft keine Bevormundung der Armen braucht, sondern Arbeit in Form von sicheren und langfristigen Arbeitsplätzen für alle, die arbeiten wollen. Denn damit werden die Langzeitarbeitslosen wieder ins System der Erwerbstätigkeit eingebunden und bleiben den Realitäten des Marktes nahe. Ein sicherer und unbefristeter Arbeitsplatz im Zweiten Arbeitsmarkt konnte den Langzeitarbeitslosen folglich weitaus mehr geben als bestes Coaching oder aufmerksamste Betreuung.

Die positive Reaktion der Arbeitnehmenden auf den Umstand, dass sie im Dock nicht nur für einige Monate angestellt wurden, sondern so lange, bis sie wieder eine Stelle gefunden hatten, und dass sie bleiben konnten, selbst wenn es ihnen nicht mehr gelang, eine Stelle zu finden, gab ihr recht.

Dies ist die Vision, die der Erfolgsgeschichte des St. Galler Modells für Arbeitsintegration zugrunde liegt. Wir möchten in diesem Buch zeigen, was unternehmerische Arbeitsintegration im Alltag bedeutet, wie sie organisiert werden muss, wie wichtig gelebte Werte tatsächlich für alle Beteiligten sind und was es konkret heißt, ein solches Unternehmen aufzubauen und zu führen. Wir haben kein Erfolgsrezept für ein soziales Problem gefunden, aber eine Erfolg versprechende Methode. Diese Methode verlangt nach sozialunternehmerischen Persönlichkeiten in der Arbeitsintegration; diesen möchten wir mit diesem Buch Mut für mehr Sozialunternehmertum machen.

Um der Ausgrenzung von Langzeitarbeitslosen wirksam entgegentreten zu können, sind eine Vielzahl ähnlicher Initiativen nötig. Diese müssen jeweils auf die lokalen Bedürfnisse und Gegebenheiten zugeschnitten werden, denn was in St. Gallen funktioniert, kann in Leipzig oder Bukarest leicht danebengehen. Unser Modell ist daher auch keine Handlungsanleitung, sondern es fokussiert auf die Haltung und die Art und Methoden der Lösungsfindung. Wir sind überzeugt davon, dass wir mit unserem Modell eigentlich ein zutiefst schweizerisches Modell entwickelt haben, das geprägt ist durch enorm viel Konsensfähigkeit und Vertrauen zwischen unterschiedlichen Partnern.

Ohne unsere Kunden wäre unsere Geschichte undenkbar. Ihr Vertrauen in unsere Qualität und Termintreue, ihre tatkräftige Mithilfe, wenn es mal Probleme gab, haben unseren Erfolg begründet. Dasselbe lässt sich von der Politik sagen: Ohne die beharrlichen Bitten und die unkomplizierte Unterstützung anderer Kommunen und Kantone hätten wir nie den Mut aufgebracht, ein so breit gestreutes Feld an Betrieben aufzubauen.

Im Alltag und in der oft schwierigen und hektischen Umsetzung des St. Galler Modells waren es unsere Mitarbeiter und die zugewiesenen Arbeitnehmenden, die mit ihrer unermüdlichen Schaffenskraft, ihrem Humor und ihrer Zuversicht den Erfolg unseres Modells vorangetrieben haben. Ja, und ohne den Großmut und das Vertrauen unseres Stiftungs- und Verwaltungsrates wäre das St. Galler Modell für Arbeitsintegration auf das Sittertal beschränkt geblieben.

Weil unser Modell jedoch stark auf einer unternehmerischen Grundhaltung aufbaut, kann es auch leitend sein für die Entwicklung von unternehmerisch geführten Sozialfirmen außerhalb der Schweiz. Marktwirtschaftliche Nischen und gesellschaftspolitische Spielräume gibt es auch anderswo. Diese zu finden und zu erschließen ist jedoch eine Aufgabe, die einen langen Atem und viel sozialunternehmerische Energie erfordert. Mit diesem Buch möchten wir zeigen, dass sich das Engagement lohnt!

Eine solche Geschichte funktioniert nur, wenn es gelingt, auch in schwierigen Zeiten immer wieder alle ins Boot zu holen und immer wieder neue Lösungen zu finden, mit denen die Beteiligten leben können. So gesehen ist das St. Galler Modell ein »Willensmodell«, ähnlich wie die Schweiz eine Willensnation ist, die ihren Erfolg der kleinräumigen und hartnäckigen Lösungsfindungskompetenz aller Beteiligten verdankt.

Lynn Blattmann und Daniela Merz

Arbeit für Alle

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