Читать книгу Arbeit für Alle - Lynn Blattmann - Страница 8

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Unter Arbeitsintegration versteht man einen ganzen Strauß von Methoden, die angewendet werden, um jemanden, der keine Arbeit hat, wieder in Arbeit zu bringen. Klassischerweise wird Arbeitsintegration als Voraussetzung für eine gelungene gesellschaftliche Integration betrachtet. Wer seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, hat optimale Voraussetzungen, sich zu einem nützlichen und finanziell unabhängigen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln. Mittels Arbeitsintegrationsmaßnahmen wird versucht, das Individuum an die Anforderungen des Arbeitsmarktes (wieder) anzupassen. Darum gehören Qualifikations- und Trainingsmaßnahmen zu den klassischen Instrumenten der Arbeitsintegration.

Um persönlichen Integrationsproblemen entgegenzuwirken, wird mit agogischen oder Coachingmethoden gearbeitet; diese versagen jedoch alle angesichts einer Sockelarbeitslosigkeit. Irgendwann gelingt es nicht mehr, alle potenziellen Arbeitnehmenden an die Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen; besonders in einem Hochlohnland wie der Schweiz zeigen sich die Grenzen rasch.

Um sogenannt arbeitsmarktferne Personen integrieren zu können, müssen die Arbeitsplätze an die Fähigkeiten und die Bedürfnisse dieser Zielgruppe angepasst werden. Dieser Ansatz setzt dann nicht agogisch bei den Menschen an, sondern beim System, also beim Arbeitsmarkt. Denn wenn es für eine wachsende Gruppe von Menschen im Ersten Arbeitsmarkt keine Perspektiven mehr gibt, muss man im Zweiten Arbeitsmarkt reelle Perspektiven schaffen. Genau dies haben wir mit der Idee der unternehmerisch geführten Sozialfirmen getan.

Der Unterschied und seine Folgen

Wir werden oft gefragt, was eine Sozialfirma genau ist und ob es eine Definition für solche Unternehmen gebe. Eine unternehmerisch geführte Sozialfirma ist keine Firma, die ein bisschen sozial ist, sie ist auch kein gut gemanagtes Beschäftigungsprogramm; sie ist ein wertegetriebenes Unternehmen. Sie trägt die Bezeichnung »Firma«, weil sie betriebswirtschaftlich organisiert ist und weil sie ihre Betriebskosten zu einem möglichst großen Teil aus Kundenaufträgen erwirtschaftet und so in möglichst geringem Ausmaß von Staatsgeldern abhängig sein will; der Wortteil »Sozial« verweist auf ihren Zweck. Dieser besteht darin, Arbeitsplätze zu schaffen für Menschen ohne Arbeit. Er verweist aber auch auf den Stellenwert der Werte im Unternehmen: Respekt, Ehrlichkeit und Vertrauen bilden die wichtigsten Pfeiler, auf denen unternehmerisch geführte Sozialfirmen aufgebaut sind. Diese Werte bilden das Kapital und das Rückgrat dieser Organisationsform, und sie prägen das Handeln und die Haltung auf allen Ebenen. Die unternehmerische Führung dient dazu, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.

Es wird viel darüber geschrieben, dass Sozialfirmen eigentlich hybride Organisationen sind, weil ihre soziale Komponente ebenso wichtig ist wie ihre betriebswirtschaftliche Ausrichtung. Es ist jedoch nicht korrekt, die beiden Triebkräfte nebeneinanderzustellen. Unternehmerisch geführte Sozialfirmen sind betriebswirtschaftlich organisiert, um ihrem sozialen Zweck gerecht werden zu können, die Betriebswirtschaftlichkeit ist das Mittel, das Soziale der Zweck. Dies bedeutet, dass Sozialfirmen nicht in erster Linie in Bezug auf ihr Führungspersonal sozial sind; ihr Management muss hohen Ansprüchen genügen und den Grundwerten der Organisation auch im Alltag gerecht werden können. Es obliegt der Führungscrew, Respekt, Ehrlichkeit und Vertrauen im Alltag mit greifbaren Inhalten zu füllen. Sie müssen den Boden schaffen, um das Vertrauen der zugewiesenen Arbeitnehmenden zu gewinnen. Sie müssen den vormals langzeitarbeitslosen Menschen den Respekt entgegenbringen, den sie brauchen, um wieder einsteigen und die Qualitätsarbeit leisten zu können, die vom Kunden verlangt wird. Sie müssen den Boden schaffen, um das Vertrauen der zugewiesenen Arbeitnehmenden zu gewinnen. In einer herkömmlichen Firma können auch führungsschwache, distanzierte und charakterlich wenig integre Kaderangestellte ein Unternehmen wirtschaftlich voranbringen, in einer unternehmerisch geführten Sozialfirma gefährden solche Chefs den Betrieb.

Die Bedeutung der Werte

Viele vergessen, dass vormals oft lange Zeit arbeitslose und vom Sozialamt abhängige Menschen nicht mit Geld motiviert oder durch Druck angetrieben werden können. Wer in eine Sozialfirma zugewiesen wird, hat trotz seiner Tätigkeit am Ende des Monats finanziell kaum mehr in der Tasche als jemand, der nur Sozialhilfe bezieht. Die Differenz zwischen einem in eine Sozialfirma zugewiesenen Arbeitnehmenden und jemandem, der nicht arbeitet, beträgt heute inzwischen im besten Fall noch CHF 200/Monat. Dies bedeutet zwar nicht, dass jemand in einer unternehmerisch geführten Sozialfirma pro Monat nur CHF 200 verdient, wie einige Schlaumeier meinen, aber es ist so, dass nach der Verrechnung mit der Sozialhilfe durch das Sozialamt Ende des Monats vom Lohn für die meisten nur CHF 100–200 netto mehr im Geldbeutel bleiben. In einer Sozialfirma kann darum auch schlecht mit Entlassung gedroht werden: Wer durch das Sozialamt unterstützt wird, hat Stellenverluste erlebt und befindet sich bereits auf der niedrigsten sozialen Stufe. Explizite Entlassungsdrohungen sind in der Arbeitswelt auch nicht an der Tagesordnung, aber unterschwellig hat die Angst vor einem Stellenverlust in der Wirtschaft eine ungleich stärkere Wirkung als in einer Sozialfirma.

Eine Sozialfirma wird untergehen, wenn es nicht gelingt, die Belegschaft mit anderen Mitteln als mit Druck oder höheren Löhnen zur Arbeit zu motivieren. Und das ist richtig so. Aber wie sehen diese anderen Mittel denn genau aus? Werte wie Respekt, Ehrlichkeit oder Vertrauen spielen ja auch in normalen Firmen eine Rolle. Inwiefern sind sie für Sozialfirmen existenziell, und was bedeuten sie wirklich im Alltag?

Eine unternehmerisch geführte Sozialfirma lebt von Kundenaufträgen. Aus dem Ertrag dieser Dienstleistungen müssen die Betriebskosten und die Lohnkosten für die fest angestellten Mitarbeiter2 bezahlt werden. Gelingt es nicht, genügend Aufträge an Land zu ziehen, muss beim Kaderpersonal oder bei den Betriebskosten gespart werden und nicht bei den zugewiesenen Arbeitnehmenden, denn deren Löhne sind staatlich refinanziert oder laufen über die Sozialhilfe. Dies ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu einem Beschäftigungsprogramm, das auch einige Kundenaufträge ausführt. Wenn die Betriebs- und Infrastrukturkosten in großem Maße staatlich subventioniert werden, kann dieser betriebswirtschaftliche Mechanismus nicht spielen. Es ist ein Merkmal einer unternehmerischen Sozialfirma, dass die existenzielle Abhängigkeit von Kundenaufträgen gegeben sein muss. Decken Kundenaufträge nur einen Bruchteil der Betriebskosten, ist der unternehmerische Ansporn zu gering, um Wirkung entfalten zu können.

Trifft ein großer Auftrag eines Kunden ein, der in knappem Terminrahmen enorm viel Einsatz verlangt, darf dieser Druck nicht an die Belegschaft weitergegeben werden. In solchen Momenten ist es entscheidend, so viel Motivation zu generieren, dass die Belegschaft freiwillig mehr arbeitet. Druck würde unweigerlich dazu führen, dass die Arbeitnehmenden zu Hause bleiben und der Auftrag nicht ausgeführt werden könnte. In diesem Fall würde der Kunde nicht zahlen und sich nach einem anderen Auftragnehmer umsehen. Diese Gefahr ist in einer Sozialfirma aus den oben genannten Gründen sehr viel größer als in einer Erstarbeitsmarktfirma.

Das Kader einer Sozialfirma muss eine unternehmerische Haltung einnehmen und Werte wie Vertrauen und Ehrlichkeit aktiv vorleben. Am Anfang stehen die persönliche Begegnung und der respektvolle Kontakt zwischen dem Führungspersonal und den Zugewiesenen. Respekt ist keine abstrakte Größe, er zeigt sich beispielsweise darin, dass Vorstellungsgespräche vom Betriebsleiter persönlich durchgeführt werden. Der Betriebsleiter oder die Betriebsleiterin hat in allererster Linie die Aufgabe, als Person greifbar, auch angreifbar zu werden. Respekt erfordert Nähe: Die Kaderleute müssen dem Personal unvoreingenommen gegenübertreten können. Es geht dabei um das Wissen- und Verstehenwollen der Lebenssituation der vormals langzeitarbeitslosen Menschen. Dazu muss die Führungscrew einer Sozialfirma einen Schritt aus ihrer so anderen Lebensrealität hinausmachen und offen auf die Belegschaft zugehen. Sie müssen sich mit ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen und bereit sein, den zugewiesenen Arbeitnehmenden zu vertrauen. Dies heißt nicht, dass sie alles akzeptieren müssen, aber es bedeutet, dass sie in erster Linie ehrlich mit sich selbst sind. Wir alle haben schon schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht, wir alle haben Vorurteile. Es geht darum, diese wahrzunehmen und im Alltag mit den zugewiesenen Arbeitnehmenden zu überwinden. Nur so gelingt es, Respekt zu zeigen und diesen auch erfahrbar zu machen. Und: Respekt kann ebenso wenig delegiert werden wie Vertrauen oder Ehrlichkeit. Wie bei vielen gelebten Werten hat die Praxis der Führung auch in diesem Fall eine reziproke Wirkung. Ohne dass darüber gesprochen werden muss, bewirkt der gelebte Respekt eines Vorgesetzten, dass dieser auch auf der anderen Seite evoziert wird.

Noch stärker tritt dieser Effekt beim Vertrauen hervor. Das Vertrauen in Langzeitarbeitslose ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, besonders klar zeigt sich dies gegenüber Menschen, die von der Sozialhilfe leben müssen. Die partnerschaftliche Haltung vieler Mitarbeiter in Sozialämtern ist einer misstrauischen Kontrolle gewichen. Zeitungsberichte über einzelne Personen, die das System missbrauchten, haben bei den Kommunen zu viel mehr Kontrolle geführt. Es ist nicht nur so, dass die Eingänge größerer Sozialämter mittlerweile durch Personenkontrollen gesichert werden, auch das Vertrauen zwischen Sozialberatenden und Klienten hat sich mit negativen Folgen für beide Seiten spürbar abgeschwächt. In einer Sozialfirma besteht die Chance für einen Neuanfang, denn wir können dieses Klima des Misstrauens verändern und in unseren Betrieben wieder Vertrauen ermöglichen.

Der Aufbau beginnt beispielsweise damit, dass wir unseren zugewiesenen Arbeitnehmenden prinzipiell dasselbe Vertrauen entgegenbringen wie es in »normalen« Firmen üblich ist: In den Dock-Betrieben schließen wir unsere Büros tagsüber nicht ab, auch wenn sich Wertsachen oder Handys darin befinden. Und wir geben an sie so viel Verantwortung ab, wie nur möglich: Wer in der Lage und willens ist, in einem Brockenhaus die Kasse zu führen, soll dies tun. Wer Auto fahren kann und die Ladesicherheitsinstruktion bekommen hat, kann im Auftrag der Firma auch unsere Kundenaufträge transportieren. Wer regelmäßig früh in den Betrieb kommt, um vor Arbeitsbeginn noch in Ruhe eine oder zwei Tassen Kaffee zu trinken, bekommt einen Schlüssel und kann seinen Kollegen aufschließen. So selbstverständlich diese Dinge klingen, in vielen Beschäftigungsprogrammen und auch in einigen herkömmlichen Firmen wird der Belegschaft weniger Vertrauen entgegengebracht.

Vertrauen ist also kein Lippenbekenntnis, sondern es erfordert ein kompromissloses aufeinander Zugehen; dies wirkt wie ein Zweikomponentenleim, der aus einsamen Langzeitarbeitslosen und wenigen Kaderleuten eine Gemeinschaft formt, die für die Firma einsteht: eine Belegschaft, die im Bedarfsfall freiwillig mehr arbeitet und auch einmal eine Abend- oder eine Samstagsschicht einlegt, damit die Kundenaufträge rechtzeitig fertig werden. Gelebte Menschlichkeit schafft Kontakt zu den Zugewiesenen, sie spüren, dass sie gebraucht werden und einen Teil eines größeren Ganzen sind. Die meisten nehmen dieses Angebot sehr gerne an.

Ein weiteres entscheidendes Merkmal ist die verhältnismäßig geringe Anzahl von Chefs. In einem Betrieb der Dock Gruppe AG arbeiten meist etwa 150 Personen aus der Sozialhilfe, die von drei Kadermitgliedern geführt werden. Dieses Verhältnis hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass das Vertrauen in die Fähigkeiten der Belegschaft abnimmt, wenn mehr Führungspersonal da ist. Der Grund für die verhältnismäßig dünne Kaderpersonaldecke liegt zwar eher im unternehmerischen Aspekt der Sozialfirma, denn dadurch fallen für die Öffentliche Hand geringere Kosten an. Ein ganz wichtiger Nebeneffekt dieses Umstands ist jedoch die damit verbundene größere Notwendigkeit, dem Personal genügend Vertrauen zu schenken, und Vertrauen lässt Menschen wachsen.

Zentral ist auch der dritte Punkt, die Ehrlichkeit. Dazu gehört unabdingbar eine Fehlerkultur, die alle umfasst. Auch Kaderangestellte sind nicht fehlerlos, sie sollen nur besser mit Fehlern umgehen und aus ihren lernen können als andere. Wir haben in der Dock Gruppe bereits zu Beginn viele Nachbearbeitungsaufträge für Automobilzulieferfirmen ausgeführt. Die Qualitätsanforderungen waren hoch, und wir konnten die geforderte Nullfehlerquote oft nur mit Dreifachkontrollen erreichen. Es war für uns existenziell zu wissen, ob wir wirklich die fähigsten Leute in der Kontrolle eingesetzt hatten oder ob unsere besten Leute tatsächlich nüchtern waren, wenn sie ihre Kontrollaufgabe ausführten. Wir waren und sind also von der Ehrlichkeit unserer Arbeitnehmenden unmittelbar abhängig. Wer am Abend vorher einen Absturz hatte, kann und soll dies seinem Chef sagen und er oder sie wird für diesen Tag an einem weniger verantwortungsvollen Arbeitsplatz eingesetzt, ohne dass dies Folgen hätte für die Zukunft. Auch wenn ein Kollege seine Beobachtung über die Arbeitsqualität eines anderen dem Chef mitteilt, hat dies für den Betroffenen keine anderen Folgen als einen vorübergehenden Aufgabenwechsel. Dieser selbstverständliche Umgang mit eigenen und fremden Schwächen ist für Sozialfirmen wichtig und qualitätsrelevant.

In vielen herkömmlichen Firmen ist der Umgang mit sinkender oder instabiler Leistungsfähigkeit tabubelastet. Man verschweigt und verschleiert Leistungsprobleme aus Angst vor einem beruflichen Abstieg, was schon manchen Betrieb in arge Schwierigkeiten gebracht hat. In einer unternehmerisch geführten Sozialfirma muss mit dieser Problematik anders umgegangen werden. Und zwar bis ins Kader hinein. Wenn ein Kadermitarbeiter die Anforderungen für seine Aufgaben nicht mehr erfüllt, soll auch er oder sie zurückgestuft werden. Dies muss in einem Klima der Ehrlichkeit und der Offenheit geschehen, was befreiend auf das ganze Team wirkt. Die Erfahrung zu machen, dass eine Leistungsschwankung oder ein Leistungsabfall nicht zu einer Kündigung führt, sondern im schlimmsten Fall zu einer Rückstufung in eine weniger verantwortungsvolle Aufgabe, die bei einer Verbesserung der Situation auch wieder rückgängig gemacht wird, ist für viele Menschen eine stärkende Erfahrung.

Die klare Werteorientierung einer unternehmerisch geführten Sozialfirma ist nicht nur für die Unternehmensführung und den Unternehmenserfolg entscheidend, sie hat auch eine starke Wirkung auf die Belegschaft. Um dies verständlich zu machen, müssen wir uns vor Augen führen, in welcher Lebenssituation sich unsere Zugewiesenen befinden.

Wer sich bei der Sozialhilfe anmeldet, hat in der Regel bereits eine zweijährige Phase der Arbeitslosigkeit hinter sich. In dieser Zeit gab es meist unzählige fruchtlose Bewerbungsversuche, die im besten Fall mehr oder weniger freundliche Absagen zur Folge hatten. Die Mehrheit der Sozialhilfebeziehenden lebt allein, oft ohne nennenswerte Außenkontakte. Viele kämpfen mit Einsamkeit und dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Nicht wenige greifen in dieser Situation zur Flasche, andere ziehen sich zurück, einige tun beides.

Wird jemand in dieser Lebenssituation durch das Sozialamt im Dock angemeldet, löst dies bei den Betroffenen nicht immer Freude aus. Zu groß ist die Angst vor erneutem Versagen, und oft bestehen starke Schamgefühle, sich anderen Menschen in diesem Zustand zu zeigen und zuzumuten. Auch wenn viele einfach nur froh sind, wieder arbeiten zu können, wird anderen mit der Anmeldung bewusst, dass sie kaum Alternativen haben, darum kommen einige ziemlich unwillig zum Vorstellungsgespräch. Nach so vielen Enttäuschungen sind die Hoffnungen gegenüber Dock oft sehr bescheiden. Wird diese Person beim Vorstellungsgespräch von einem Chef persönlich begrüßt, der alles erklärt und am Schluss mit ihr noch durch den Betrieb geht, steigt oft schon eine Ahnung davon auf, dass die Arbeit in dieser Sozialfirma mehr sein kann als eine pflichtschuldige Gegenleistung für wirtschaftliche Sozialhilfe. Wenn schließlich beim Arbeitsantritt deutlich wird, dass die Aufgabe bewältigbar ist und dass ein offenes, ehrliches Klima herrscht, beginnt bei vielen das oft verschüttete Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere wieder zu wachsen. Dank der reichlich vorhandenen und vielfältigen Kundenaufträge stellt sich auch rasch die Erfahrung ein, gebraucht zu werden, und damit wächst das Gefühl der Zugehörigkeit zum Betrieb.

Die Wertefokussiertheit von Sozialfirmen dient also nicht nur dem Zweck einer hehren Firmenphilosophie, sie wirkt auch direkt auf die Integrationskraft des Unternehmens. Wer sich in einem Betrieb respektiert fühlt und die Sicherheit hat, dass er oder sie auch in schwierigen Situationen ehrlich sein darf, schöpft wieder Vertrauen in sich und in die eigene Zukunft.

Sozialfirma für soziale Bedürfnisse

Sucht man die Funktion einer unternehmerisch geführten Sozialfirma auf der Maslow’schen Bedürfnishierarchie [Abb.1], ist ersichtlich, dass sie dort eine sehr klare und begrenzte Aufgabe hat. Die beiden grundlegenden Bedürfnisse, nämlich die physiologischen Bedürfnisse und die Sicherheitsbedürfnisse, werden bei Sozialhilfebeziehenden vom Staat abgedeckt; Schwierigkeiten bereitet meist das dritte Bedürfnis. Wer von Sozialhilfe leben muss, ist in unseren Breitengraden oft isoliert und kann seine sozialen Bedürfnisse schlecht ausleben. Aus Scham werden Kontakte vermieden, Freundschaften zerbrechen und Hobbys und Vereinsmitgliedschaften werden kaum mehr gepflegt; für viele Betroffene bedeutet Sozialhilfe letztlich ein Leben in Einsamkeit. Hier setzt die Sozialfirma an, sie fokussiert auf die sozialen Bedürfnisse.

Der Wunsch, einen Platz in der sozialen Gruppe zu haben, dort eine Rolle zu erfüllen und Teil eines größeren Ganzen zu werden, ist ein wichtiger Motor eines jeden Menschen. Hier kommt die Sozialfirma ins Spiel, indem sie die Arbeit so organisiert, dass sie für die Belegschaft diese Bedürfnisse erfüllen kann. Dies ist auch der Grund, warum die Art der Tätigkeit eine so zentrale Rolle spielt. Es ist nicht unerheblich, welche Arbeit in einer Sozialfirma geleistet wird: Es ist unabdingbar, dass diese sinnstiftend ist.

Sinnvoll ist jede Arbeit, die am Ende einen Abnehmer hat und die nicht auch von einer Maschine erledigt werden könnte. Reine Beschäftigung – das Geschirr von Hand zu waschen, obwohl in der Küche eine Abwaschmaschine steht, oder Kuverts von Hand zu füllen, wenn im Nebenraum eine automatische Beschickungsmaschine steht – ist keine sinnvolle Arbeit, weil sie künstlich erzeugt wird. Lediglich eine funktionierende Tagesstruktur zu haben genügt ebenfalls nicht, um den sozialen Bedürfnissen eines Individuums gerecht zu werden. Sinnvolle Arbeit ist unentbehrliche Arbeit, nur sie hat die Kraft, Menschen so einzubinden, dass sie ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen können, dass sie sich als Teil eines größeren Ganzen fühlen dürfen.


Die Belegschaft von herkömmlichen Firmen verfügt meist neben den Arbeitskollegen über ein mehr oder weniger großes Netz an Freunden. Für Sozialhilfeempfangende ist die Sozialfirma oft die einzige soziale Kontaktmöglichkeit außerhalb ihrer Wohnung. Auch dieser Umstand spricht für die Sorgfalt, die Sozialfirmen für ihre Werteorientierung aufwenden müssen. Wem es gelingt, sich das Vertrauen solcher Menschen zu verdienen, gewinnt unglaublich loyale Mitarbeitende, von denen viele andere Firmen nur träumen können.

Werden auch interne Kaderstellen mit vormals Langzeitarbeitslosen besetzt, kann eine Sozialfirma auch Individualbedürfnisse in einem größeren Umfang befriedigen. Weil unternehmerisch geführte Sozialfirmen nicht auf arbeitsagogische Zusatzausbildungen ihrer Kaderbelegschaft setzen, sondern zuverlässige und geeignete Persönlichkeiten mit anderen beruflichen Hintergründen anstellen, bieten sie mehr Perspektiven als klassische agogisch ausgerichtete Angebote, die intern keine Durchlässigkeit zwischen den Zugewiesenen und dem Fach- oder Kaderpersonal kennen.

Networking als Fundament

Unternehmerisch geführte Sozialfirmen sind keine Leuchttürme, die einsam an der Küste stehen und in die Nacht hinausstrahlen, es sind hoch vernetzte Organisationen, die ihr Netzwerk gemäß ihrer besonderen Funktion als betriebswirtschaftliche und soziale Betriebe doppelt so eng knüpfen müssen wie Integrationsprogramme oder herkömmliche Firmen. Ihr Zweck liegt in ihrer sozialen Aufgabe, darum ist ihre politische Einbindung von entscheidender Wichtigkeit. Sie können ihre soziale Aufgabe nur erfüllen, wenn die Zuweiser mit ihnen kooperieren und wenn sie bereit sind, die Sozialhilfebeziehenden in der Sozialfirma anzumelden.

Zuweisungen sind dann politisch unproblematisch und unumstritten, wenn sie für die Kommune günstig sind. Teure Programme werden nur in Anspruch genommen, wenn ihre Integrationsquote sehr hoch ist. In solchen Fällen ist es auch sinnvoll, wenn viele staatliche Gelder in diese Angebote investiert werden. Inzwischen ist es jedoch so, dass die Durchlässigkeit vom Zweiten in den Ersten Arbeitsmarkt geringer geworden ist. Sozialfirmen und Integrationsprogramme sehen zwar die Reintegration in den Ersten Arbeitsmarkt immer noch als ihr oberstes Ziel an, es gelingt jedoch dem größten Teil der Belegschaft meist nicht mehr, innerhalb eines Jahres wieder eine Stelle zu finden. Darum ist auch die Bereitschaft der Zuweiser gesunken, viel für Arbeitsintegration zu bezahlen; hinzu kommt, dass teure Maßnahmen oft nur befristet bewilligt werden. Unternehmerisch geführte Sozialfirmen sind jedoch auf langfristig eingebundenes Personal angewiesen, um die Qualität sicherstellen zu können. Es muss nicht die ganze Belegschaft langfristig im Betrieb arbeiten, selbst eine Fluktuation von 50% ist kein Problem, aber eine Sozialfirma braucht eine Stammbelegschaft, die die Werte der Firma tradiert. Sie ist das Rückgrat, das das unternehmerische und soziale Wirken der Firma erst möglich macht.

Da unternehmerisch geführte Sozialfirmen in der Regel dem Konkurrenzverbot3 unterstehen, muss ihr Tun politisch getragen werden, und sie müssen lokal gut verankert sein. Bei der Dock Gruppe ist diese Verankerung über die Eigentümerin geregelt. Die Dock Gruppe AG ist als gewöhnliche Aktiengesellschaft organisiert, die allerdings in alleinigem Besitz der Stiftung für Arbeit ist. Diese gemeinnützige Stiftung hält alle Aktien und ermöglichte, dass die Gemeinnützigkeit der Sozialfirma offiziell anerkannt wurde, was zu einer Gewinnsteuerbefreiung geführt hat. Im Stiftungsrat sind alle Parteien und namhaften politischen Organisationen der Stadt St. Gallen vertreten sowie die Gewerkschaften, die Kirchen und der Gewerbeverband. Die Vertreter dieser vielfältigen Organisationen sind nicht nur Shareholders der Firma, sie sind auch die Stakeholder ihrer Anliegen. Von ihnen ist eine gewisse Grundanteilnahme an den Herausforderungen der Sozialfirma gefordert.

Für den Erfolg einer unternehmerisch geführten Sozialfirma ist es entscheidend, ihre politischen Stakeholder einzubinden und sie zu geschätzten Anspruchsberechtigten des Unternehmens zu machen. Es geht dabei nicht um eine basisdemokratische Einbindung, sie sind auch keine freiwilligen Mitarbeiter, deren Einsatz bei Bedarf abgerufen werden kann. Der Grundkonsens liegt darin, dass man sich in den sozialen Zielen der Sozialfirma einig ist. Im Falle der Dock Gruppe bedeutet dies, dass die Stakeholder nicht nur das soziale Ziel, die Schaffung von Arbeitsplätzen für Personen aus der Sozialhilfe, mittragen, sondern dass sie uns auch in unserem so wichtigen Anliegen unterstützen, nämlich für die geleistete Arbeit auch einen finanziellen Gegenwert zu bezahlen. Denn: Arbeit soll nicht gratis verrichtet werden, auch in einer Sozialfirma nicht.

Es liegt auf der Hand, dass die Unterstützung der politischen Stakeholder immer auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruht; darum wird es kaum möglich sein, mit ihnen Maximallösungen auszuhandeln, aber als Mitträger und Verteidiger von guten und tragfähigen Konsenslösungen sind sie unabdingbar. Die lokalen St. Galler Stakeholder haben beispielsweise das Lohnsystem der Dock Gruppe AG bereits 2004 so ausgestaltet, dass es von den Zuweisern aus allen Kantonen übernommen werden konnte. Eine Sozialfirma kann jedoch nicht lediglich mit einem lokalen Netzwerk in andere Kommunen oder gar Kantone expandieren, es braucht immer eine stabile politische Einbindung vor Ort, und je besser diese erreicht wird, desto erfolgreicher und einfacher gestaltet sich die Arbeit im Betrieb.

Vor Ort sind es nicht die politischen Parteien, die Gewerkschaften oder die Parlamente, die als Partner und Stakeholder infrage kommen, es sind vielmehr die politischen Vertreterinnen und Vertreter der betroffenen Sozialämter. Es sind also meist kommunale Sozialvorsteher oder in Kantonen mit kantonaler Zuständigkeit Regierungsräte, die mit ihren Führungscrews wichtige Ansprechpartner und Problemlöser für Anliegen der jungen Sozialfirma sind. Für neu auf den Markt tretende Sozialfirmen sind die lokalen Vertreter der tripartiten Kommission, also derjenigen Organisation, die über die Einhaltung des Konkurrenzverbots wacht, von zentraler Bedeutung. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, mit diesen Kommissionen auf Augenhöhe zu verhandeln. Es besteht ein Grundkonsens in den sozialen Zielen, was oft zu pragmatischen und guten Lösungen führte.

Ein noch so gutes und stabiles Netzwerk im Bereich der sozialpolitischen Ansprechpartner reicht jedoch nicht aus, um als Sozialfirma auch unternehmerisch erfolgreich zu sein. Es muss dem Management gelingen, enge Kontakte zu Kunden aufzubauen, denn Sozialfirmen müssen die Anliegen ihrer Kunden wirklich verstehen; darum hilft es, wenn sie ähnlich organisiert sind wie kleine oder mittlere Unternehmen der Privatwirtschaft. Von Vorteil ist auch, wenn Sozialfirmen ihre Prozesse gemäß den ISO-Vorschriften des Qualitätsmanagements von Industriebetrieben organisieren, die Regelkreise und Vorgaben des Qualitätsmanagements wirklich gut kennen und im Alltag auch auf allen Ebenen anwenden.

Im Produktionsbereich müssen sie aufgestellt sein wie andere produzierende Firmen, Qualität und Termintreue müssen bei ihnen an oberster Stelle stehen. Der Kunde soll und darf nicht merken, dass in der Sozialfirma auch leistungsbeeinträchtigtes Personal arbeitet. Er darf davon ausgehen, dass seine Termin- und Qualitätsvorgaben eingehalten werden können. Die Verantwortlichen von Sozialfirmen können nicht erwarten, dass sie Aufträge bekommen, weil sie eine Sozialfirma sind, sie sollen Aufträge bekommen, weil sie in der Lage sind, eine Arbeit in der erforderlichen Qualität und zum vereinbarten Termin auszuführen. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen einer Charity-Organisation und einer Sozialfirma.

Es ist harte Arbeit, eine gute Beziehung zu Kunden aufzubauen. Wer keine Kaltakquisition mag, kann Vorträge halten oder Artikel über die Sozialfirma schreiben, um an Kunden zu kommen; es lohnt sich auch, Mitglied eines Service-Clubs, einer lokalen Industrievereinigung oder eines Gewerbeverbandes zu werden. Aller Anfang ist schwer, aber es zahlt sich aus, in diesen Bereich viel Sorgfalt und Zeit zu investieren und auch den Wirtschaftsteil der lokalen Zeitungen stets genau zu lesen. Die Kunden ermöglichen es einer unternehmerisch geführten Sozialfirma, ihre sozialen Ziele mit betriebswirtschaftlichen Mitteln zu verfolgen. Dieses Bewusstsein muss im Selbstverständnis des Unternehmens tief verankert sein, auch wenn sich dieses an sozialen Zielen und Werten orientiert. Wer den Stellenwert der Kundennähe unterschätzt, weil sich soziale Orientierung und Kundenorientierung im eigenen Selbstverständnis ausschließen, kann eine Sozialfirma nicht erfolgreich führen.

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