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Kapitel 1: Ein Jahr

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„Schon wieder ein Abend für'n Arsch.“ Tim nahm einen kräftigen Schluck von seinem eben eingegossenen Single Malt. Er trank gerne rauchigen Scotch, wie man ihn von den Islay Whiskeys kennt. Seinen Tumbler in der Hand, zündete er sich eine Zigarette an einer, auf dem Fensterbrett stehenden Kerze an, und ließ sich auf sein graues Ledersofa in seiner kleinen Stadtwohnung fallen.

Die digitale Uhr auf seinem DVD-Player zeigte bereits drei Uhr dreißig. Tim kam aus einer der Bars in seinem Viertel nach Hause. Nach Rauch stinkend und bereits erledigt vom Alkohol. Es war eine Nacht von vielen. Zu einsam um zu Hause zu bleiben, zu erschöpft und missmutig um sie mit Bekannten zu verbringen oder zumindest neue Bekanntschaften zu schließen. In der letzten Zeit verbrachte er seine meisten Abende auf diese Weise.

Seufzend nahm er einen weiteren Schluck von seinem Scotch und schaltete den Fernseher an. Der Rauch seiner Zigarette breitete sich langsam in seinem Wohnzimmer aus. Neben sich, auf die breite flache Armlehne, hatte er den großen gläserner Aschenbecher gestellt. Betrunken zappte er, in sein Sofa gelegt, durch das Nachtprogramm. „Nur Müll“, brummte er - „Um diese Uhrzeit müsste doch wenigstens ein einigermaßen geiler Softporno kommen."

Es war noch nicht lange her, als Tim noch fest auf den einmaligen Segen der absoluten Liebe vertraute. Seine Person hatte immer eine gewisse Wirkung auf Frauen mit Klasse hinterlassen. Er war der Typ Mann, den seine Jugend zu einem zärtlichen und gutherzigen Menschen geformt hatte. Das kantige Gesicht, stets durch einen gepflegten Dreitagebart bedeckt, und seine ruhige, abwesend wirkende Ausstrahlung ließen ihn für Fremde allerdings oft arrogant erscheinen.

Aufgewachsen war er in einem guten Elternhaus auf dem Land. Sein Vater arbeitete hart und sehr erfolgreich, was seiner Mutter ermöglichte in seiner Jugend rund um die Uhr für ihn da zu sein. Er genoss eine gute Ausbildung, die er mit Auszeichnung abschloss und arbeitete anschließend als erfolgreicher Manager in einem großen Technikkonzern. Mit Ende Zwanzig gehörte er bereits zu den jungen und aufstrebenden Führungspersönlichkeiten der Firma. Beruflich standen ihm alle Türen offen.

Emotional jedoch verkrüppelte Tim immer mehr. Sein Ehrgeiz und seine erfrischend positive Lebenseinstellung hatte er fast völlig verloren. Die meisten seiner Freundschaften aufgegeben. Nur die engsten Kontakte ließ er noch an seinem Leben teilhaben.

Heute zog er von Selbstmitleid getrieben durch die Bars seiner Stadt. Auf der Suche nach Ablenkung. Nach einer Möglichkeit zu entkommen, während er sich selbst an die Vergangenheit gekettet hatte. Gab es für ihn schon keine Möglichkeit mehr sich zu befreien? Waren dies die Konsequenzen, die er durch seine riskante Entscheidung getroffen hatte? Er kannte die Gefahr. Hatte er sie also bewusst unterschätzt?

Früher hatte er seine vertrauten sozialen Kontakte, auf die er sich konzentrierte. Kein Außenstehender konnte ihn von seinem Lebensweg abbringen. Kaum eine Beziehung zu einer Frau dauerte länger als ein halbes Jahr. Sie grenzten ihn in seinen ehrgeizigen Lebensplänen zu stark ein und seine Liebe verflog mit der Zeit. Sah er nicht die Möglichkeit für eine Zukunft und Heirat mit einer Frau, ergab eine Beziehung keinen Sinn.

Bei ihr jedoch war alles anders gewesen!

Schließlich blieb er auf einer Dokumentation über die Auseinandersetzungen im Gazastreifen hängen. Genüsslich nahm er einen letzten tiefen Zug, öffnete das Fenster und warf den Glimmstängel in die eisige Kälte. Schnell drückte er die Scheibe wieder zu und ließ sich zurück auf seine Couch fallen. Bereits etwas unkoordiniert in seiner Bewegung schenke er sich nochmals nach, nahm direkt einen Schluck und starrte gebannt in seinen Fernseher. Während seine Augenlieder langsam schwerer wurden.

Tim legte sich entspannt zurück. Er trug nur noch seine Boxershorts. Durch sein offenes Dachfenster zog eine erfrischende Brise. Das Schlafzimmer direkt unter dem Dach hatte gefühlte dreißig Grad und die Luft schien darin zu stehen. Erwartungsvoll blickte er vom Bett auf. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Sein Körper bebte und sein harter Penis pochte in seinen Shorts unter der Bettdecke. Er genoss diese Tage. Vorübergehend konnte er so aus seinem harten, lieblosen Alltag fliehen.

Ganz langsam kam sie auf ihn zu. Sie trug das kleine rotgestreifte Schlafhöschen mit Spitze, das er ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Dazu ein leicht zerknülltes, weißes Hemd von ihm. Es war ihr deutlich zu groß. Doch dadurch legte es sich bei jeder ihrer Bewegungen samtig um ihre weiblichen Kurven und gab eine unverkennbare Vorahnung was ihn erwartete. Sie nannte es scherzhaft „Boyfriend Look“. Der Anblick ließ seine Erregung noch weiter steigen. Tim konnte deutlich erkennen, dass sie unter seinem Hemd nackt war. Durch den feinen, weißen Stoff zeichneten sich immer wieder kurz ihre dunklen Brustwarzen ab. Wie die Königin des Dschungels bewegte sie sich leicht und mit großer Selbstsicherheit auf sein Bett zu. Seine innere Begierde musste sich in seinem Blick nach Außen spiegeln. Hungrig nahm sie seine Blicke auf. Er wusste Leila liebte es, so von ihm angeschaut zu werden. Sie konnte ihm das Empfinden vermitteln, dass es niemanden sonst in diesem Moment, an diesem Tag oder in diesem Leben außer ihnen beiden gab. Eine unbeschreibliche Mischung voller Leidenschaft, Liebe und Respekt lag in ihren Augen. Auf ihre Knie und Hände gestützt schien sie langsam über seinen Körper hinweg Richtung Kopfende zu schweben.

Beide sprachen kein Wort. Im Hintergrund lief eine alte CD mit erotischen Loungeklängen. Der kleine weinrote CD-Player stand auf dem Parkettboden, direkt neben seinem Bett. Daneben lagen mindestens zehn verschiedene CDs. Weit ausgebreitet. Kaum eine in ihrer Hülle.

Sie liebten diese Art von Musik. Oft lagen sie stundenlang im Bett, lauschten den sanften eingängigen Klängen und philosophierten über die Welt und ihr Leben.

Ihr Gesicht war nur noch Zentimeter von seinem entfernt. Ganz ruhig schauten ihre Augen auf ihn herab. Sorglos und entspannt. Gefangen in diesem Moment. Tim bewunderte ihre einzigartige Schönheit. Er konnte deutlich ihre orientalischen Wurzeln erkennen. Der dunkle, leicht gelb-bräunlichen Teint. Ihre tief schwarzen Augen und die vollen Lippen, sinnlich und weinrot. Besonders ihre Lippen und die katzenhaft geheimnisvolle Form ihrer Augen zogen ihn immer wieder in ihren Bann. Wie eine glänzende Mähne vielen die langen, schwarzen Haare über die Schultern auf ihren Rücken.

Man konnte das Gefühl, das er für Leila empfand, nur mit tiefer leidenschaftlicher Liebe beschreiben. Sie hatte alles, was er sich von einer Frau erträumte.

Vorsichtig näherte sich ihr Gesicht. Ihr Mund war bereits leicht geöffnet und ihrem Ausdruck konnte man die einsetzende Ekstase entnehmen. Er war im Rausch. Sein Verlangen nach ihr überstieg seine geistige Kontrolle.

Ihre vollen Lippen fühlten sich weich auf seinen an. Tims rechte Hand fasste sie am Nacken und presste ihre Lippen noch fester aufeinander. Ihr Schnaufen wurde heftiger.

Langsam entfernte sie sich wieder von seinem Gesicht und wanderte in Richtung seiner Brustwarzen. Pustend, küssend und leckend überquerte sie seinen gesamte Oberkörper. Er wusste, was nun folgen würde, und es ließ auch den Rest seines Blutes aus seinem Gehirn strömen. Sein Penis war bereits hart und mächtig wie er es nur selten war.

Den Blick nach oben gerichtet zog sie die Decke zur Seite. Ihr Mund wanderte knapp über seine Leisten. Er spürte ihren warmen Atem auf seiner Haut. Zärtlich begann sie über den pulsierenden Hügel unter seiner Boxershorts zu streicheln. Die Lippen leicht geöffnet. Der Brustkorb durch die tiefen Atemzüge in einen gleichmäßigen Puls versetzt. Er hielt ihren intensiven Blickkontakt. Hilflos ihrer Verführung verfallen.

Zögernd streifte sie ihm seine Boxershort ab. Er begann bereits leicht sein Becken auf und ab zu bewegen. Dass ihre Bemühungen ein solches Beben bewirkten, ließ ihre Lust scheinbar noch weiter steigen. Mit einem tiefen Stöhnen nahm sie seinen Penis in den Mund und begann ihn langsam zu bearbeiten. Leila war die einzige Frau, der es gelang, Tim mit Oralsex zum Orgasmus zu bringen. Sanft streichelte er ihr währenddessen über das seidige Haar. Sie begann ihren Kopf schneller zu bewegen und ihr stöhnen wurde intensiver. „Oh, Tim, oh, ja, Tim!“ – Ihre Stimme wurde immer klarer. „Tim, Tim hallo, alles klar bei Ihnen?“

Tim schreckte auf und schüttete dabei das, noch neben ihm stehende, Whiskeyglas über sein Ledersofa. Er starrte direkt in das Gesicht seiner Haushaltshilfe. Mika stand in einem gut gewählten Sicherheitsabstand vom Sofa im Wohnzimmer und rief bestimmend seinen Namen.

In ihrem Gesicht spiegelten sich Mitleid und ein Hauch von Verachtung. Es war bereits neun Uhr morgens und durch das Fenster schien die Sonne, die sich durch die dicht fallenden Schneeflocken kämpfte.

„Hatten Sie wieder eine lange Nacht, Tim?“ „Schön wär’s“, stammelte er, stand auf und lief in Richtung Bad. Sein Kopf schmerzte vom gestrigen Alkohol. Er musste sich, während er vor der tief angebrachten Toilette stand, an der Wand abstützen, um nicht umzufallen.

„Sie sollten langsam mal wieder lernen in ihrem Bett zu schlafen. Wenn sie es nicht mehr brauchen nehme ich es ansonsten gerne. Mein Mann und ich hätten gerne ein so großes Bett.“ „Sie müssten eigentlich am besten wissen, dass ich durchaus noch Verwendung für mein Bett habe“, schallte es durch die offen stehende Tür aus dem Badezimmer. Unter lautem Prasseln strömte der Alkohol vom gestrigen Abend in die Schüssel.

Als Tim aus dem Bad zurück ins Wohnzimmer kam, war Mika gerade damit beschäftigt mit zwei Putzlappen den Whiskey vom Ledersofa aufzusaugen und zu verhindern, dass er dabei in die Couchritzen lief. Die Spülung hatte er vergessen zu drücken. „Das habe ich damit nicht gemeint. Das wissen Sie genau.“ Grinsend nahm er das fast leere Whiskeyglas, das Mika auf das freihängende Regalbrett über dem Fernseher gestellt hatte, und trank den letzten Schluck aus. Sie schüttelte nur ihr verzerrtes Gesicht und ging an ihm vorbei ins Badezimmer. Betätigte die Spülung und kam mit einer Schürze in der Hand zurück. „Es ist wirklich eine Schande, Tim, wie sie in den letzte Monaten hier leben.“ „Wieso? Sie halten doch alles für mich in Ordnung. Was würde ich nur ohne Sie machen, Mika?“ Mit dem Oberkörper über das Sofa gebeugt drehte sie ihm den Kopf zu. In ihrem Gesicht lag ein gutmütiges Lächeln. Verständnisvoll, deutlich besorgt und dennoch empfänglich für seinen Humor und die kurzen erwärmenden Momente des Lebens. „Sie würden in ihrem eigenen Müll ersticken. Oder in einer großen Whiskeypfütze ertrinken.“ Gekonnt band sie sich die Schürze um und nahm im Vorbeigehen Tim das Whiskeyglas aus der Hand. „Sehr charmant meine Teuerste. Aber ich da unterschätzen Sie mich gewaltig.“

Tim nahm seine Zahnbürste und begann sich die Zähne zu putzen. Er mochte Mika und genoss diese seltenen Gespräche. Sie hatte eine erfrischend starke Persönlichkeit. Dennoch blieb auch sie nicht vor seinen Launen verschont. Unterhaltungen wie diese waren selten geworden. Meistens ging er ihr aus dem Weg. Er konnte ihre vorwurfsvollen Blicke und aufmunternden Vorträge nicht mehr ertragen. Übelkeit stieg in ihm auf. Und mit ihr der Ärger über sich selbst. Wieder einmal hatte er sich etwas vorgemacht. Hatte sich nach draußen unter Menschen gezwungen, anstatt einfach zu Hause auf dem Sofa zu liegen. Wofür? Um schlecht gelaunt in einer Bar zu sitzen.

„Ich glaube eher sie überschätzen sich. Sie genießen es doch, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen. Wenn ich Sie allein ließe, würden Sie doch keinen Monat überstehen.“ Tim hatte jetzt keine Lust sich Mika gegenüber zu rechtfertigen. Sie hatte doch keine Ahnung. Sein Kopf hämmerte und sein Magen krampfte vor Übelkeit, gab allerdings seinen vergifteten Inhalt nicht frei. Er hätte sich jetzt gerne Übergeben. Vermutlich hätte er sich anschließend besser gefühlt.

Tim spülte seinen Mund aus, stellte die Zahnbürste zurück in den aufklappbaren Oberschrank mit Spiegel und ging durch sein Wohnzimmer. Noch etwas schwach stieg er die Holzstufen zu seinem Schlafzimmer hinauf. Sein Bett befand sich in einer zum Wohnzimmer offenen Galerie direkt unter dem Dach eines fünfstöckigen Mehrfamilienhauses.

„Denken Sie nur daran, wie ich Sie letztes Jahr nach Weihnachten in ihrem eigenen Erbrochenen auf dem Fußboden liegend gefunden habe. Dieses Bild verstört mich heute noch.“ Er ignorierte ihre Worte. „Ich werde jetzt ein kleines Schläfchen machen, Mika. Sie wissen ja, die Zeit verschont niemanden von uns.“ Mika schien noch etwas zu erwidern aber Tim nahm ihre Worte schon nicht mehr deutlich war. Hastig streifte er sich die Jeans ab und warf sich auf seine Decke. Das Gesicht in sein weiches Kissen gedrückt schlief er ein.

Mika war nun schon knapp zwei Jahre seine Haushaltshilfe und wusste mit Tims Art. Sie war eine hübsche und selbstbewusste Frau Mitte dreißig und lebte mit ihrem Mann nur ein paar Häuser weiter von Tims Wohnung entfernt. Ihr dichtes dunkelblondes Haar hatte sie, wann immer er sie sah, zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre Eltern stammten wohl aus Kasachstan. Mika selbst war aber, soweit er wusste, als kleines Kind mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet. Er war damals durch Zufall auf sie gestoßen und sehr froh, schnell eine so vertrauensvolle Hilfe gefunden zu haben. Mika hatte keinen Führerschein. Ihr Mann arbeitete als Facharbeiter in einem großen Produktionsbetrieb. Wenn ihre kleine Tochter in der Schule war, konnte sie somit flexibel etwas Haushaltsgeld dazuverdienen. Da Tim in seiner vorherigen Wohnung, etwa drei Stunden von seinem heutigen Wohnort, bereits Erfahrungen mit seiner hochliegenden Toleranzschwelle für Unordnung gemacht hatte, hielt er eine Haushaltshilfe für mehr als angebracht. Zudem konnte er es sich mit seinem neuen Gehalt problemlos leisten. Wahrscheinlich war er der perfekte Arbeitgeber, da er sich wenig darum kümmerte, wann sie beim ihm auftauchte und wie lange sie blieb.

Seit sie sich kennengelernt hatten, hatte Tims Leben sich sehr verändert. Mika hatte ihn noch zu einer Zeit erlebt, als für Tim alles möglich erschien und er dieses Gefühl auch an andere Personen weitergeben wollte.

Es schneite und der kalte Wind wehte einem die Schneeflocken ins Gesicht. Frierend lief Tim zur U-Bahn Station. Es war bereits Anfang März. Der Winter kam dieses Jahr spät und hielt dafür lange an. Er war auf dem Weg nach Hause von der Arbeit. Es war schon spät geworden. In den letzten Monaten wurden seine Arbeitstage immer länger.

Die große bronzene Uhr am Eingang zur Bahnstation zeigte auf zehn Uhr. Seit Tim vor etwa zwei Jahren die Leitung für den asiatischen Absatzmarkt übernommen hatte, kam er selten vor acht nach Hause. Der Großteil seines Lebens spielte sich in der Firma oder auf Reisen in Asien ab. Neben ihm strömten die Menschen vorbei zu den Gleisen. Eingepackt in ihre dicken Wintermäntel vergruben sie die Gesichter in noch dickeren Schals.

Seine Laune war mies. Er war müde und hasste es mit der Bahn von der Arbeit nach Hause zu fahren. Doch er hatte keine andere Wahl. Vor etwa fünf Monaten hatte man ihm den Führerschein entzogen. Mit einer Flasche Whiskey im Magen hatte er an einer Tankstelle für große Aufregung gesorgt. Tage später wurde davon bundesweit in den Medien berichtet.

Die Rolltreppe fuhr ihn, eingeengt zwischen den Menschen, nach oben. Seine Wohnung befand sich nur etwa zweihundert Meter von der U-Bahn Station entfernt. Tim nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie noch auf der Rolltreppe an.

„Können Sie nicht warten, bis Sie im Freien sind?“ „Können Sie nicht einfach jemand anderem auf´n Sack gehn?“ Er knöpfte seinen Mantel zu und lief in die Kälte hinaus. Sein Tag war anstrengend gewesen. Das chinesische Neujahr der Schlange hatte vor kurzem, am zehnten Februar, begonnen. Dies hatte meist zu Folge, dass die chinesischen Betriebe nach ein bis zwei Wochen Urlaub mit neuen Investitionsmittel wieder schnell aus der Arbeitspause starten wollten. Dennoch hatte er keine Lust in seine Wohnung zu gehen. Wann immer möglich vermied er momentan das Alleinsein. Also verbrachte er die Abende in den Bars in seinem Viertel. Dort war er ein gern gesehener Gast geworden. Mit dem Ziel seine Gedanken durch den Alkohol kurzzeitig zu vergessen.

Die Straße führte geradewegs zwischen zwei Häuserreihen im englischen Stil vorbei, von der U-Bahn Station zu seiner Wohnung. Die winzigen Vorgärten waren gut gepflegt und mit dicken Eisentoren zur Straße abgetrennt. Tim nahm die erste Abzweigung der Straße und lief in eine schmale Seitengasse ein. Im Gehen befreite er sich von seiner weinroten Krawatte und stopfte sie zerknüllt in die Manteltasche.

„Hi, Tim! Old Fashioned wie immer?“ „Hallo mein Lieblings Barkeeper! Ja Old Fashioned bitte!“ Während er antwortete, zog er seinen schneebedeckten Mantel aus und hängte ihn an einen eisernen Haken unter der komplett mit Mosaiksteinen besetzten Bar.

„Kennst du denn noch andere?“ „Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest in wie vielen Bars ich verkehre.“ Er gab dem großen Barkeeper zur Begrüßung die Hand. „Jetzt versteh´ ich, wieso du solange nicht mehr hier warst. Hab´ dich ewig nicht mehr gesehn. Siehst scheiße aus. Was ist mit deinen Augen passiert? Siehst aus, als ob du im letzten Monat um fünf Jahre gealtert wärst.“ „Ist ja gut jetzt. Versprüh deinen Charme woanders! Bring lieber mal was zu trinken. Ich weiß, ich seh´ scheiße aus. Hab´ kaum geschlafen die letzten Wochen. War in China. Scheiß verrücktes Land, wenn du mich fragst. Zwei Wochen war ich dort. Jeden verfluchten Abend irgendwo in ´nen anderen Karaokeschuppen und sich die Birne weg knallen.“ „Klingt mir irgendwie gar nicht so fremd bei dir.“ „Jaja, halt die Klappe Don Carlos.“ Der Barkeeper hatte halb langes, lockiges Haar, das er mit haufenweise Gel nach hinten kämmte. Im Innern der Bar war es angenehm warm. Das Licht war gedämmt und aus den Lautsprechern tönte melodischer Late Night Jazz. Die Mosaiksteinchen entlang der langen Bar leuchteten dunkelblau im schwachen Licht. In den vielen Nischen im Raum standen verschiedene Hocker, Stühle und einige Sofas. Es gab einige kleine Einbuchtungen, in denen man ungestört sitzen konnte. Tim mochte diese Bar. Man bekam wirklich gute Drinks serviert. Der Barkeeper stellte das schwere Whiskeyglas, in dem er den Old Fashioned gemixt hatte, auf die Bar und kümmerte sich um andere Gäste, die eben angekommen waren. Das Glas von der Bar nehmend drehte sich Tim auf seinem Barhocker und ließ seinen Blick durch den nur schwach beleuchteten Raum schweifen. Er war bereits gut gefüllt. Es war ein gewöhnlicher Donnerstagabend. Ein Abend, an dem viele bereits das Wochenende einläuteten. Auf Tim aber wartete am nächsten Morgen wieder ein anstrengender Tag und er fühlte sich bereits ausgelaugt und müde. Lange würde er heute nicht bleiben können.

Außer ihm befanden sich nur die zwei Frauen an der Bar, die eben erst durch die Tür gekommen waren und bei denen nun Carlos der Barkeeper stand und die Bestellung aufnahm. Die drei wirkten sehr vertraut. Vielleicht waren sie ebenfalls Stammkunden bei Carlos. Eine der beiden hatte langes blondes Haar, das sie seidig glatt nach hinten gekämmt hatte. Über ihren schwarzen Strumpfhosen trug sie Jeans Hot Pants und hohe lederne Stiefel. Ihr dunkles, figurbetontes Oberteil setzte ihre prallen Brüste perfekt in Szene. Sie stand Carlos lachend gegenüber und gestikulierte wild, als ob sie ihm eine Geschichte erzählte. Ihre Freundin war deutlich kleiner und etwas stämmig. Mit ihrem ungekämmten, halb langen, braunen Haar machte sie selbst im gedämmten Licht einen ungepflegten Eindruck. Für einen Augenblick haftete Tims Blick auf den beiden Frauen. Die linke Hand der kleine Braunhaarigen schob sich in die hintere Hosentasche der Hot Pants ihrer Freundin. „Wahrscheinlich lesbisch“, dachte sich Tim. „Passen irgendwie ins Klischee.“ Er wandte seinen Blick ab und kramte sein Handy aus seinem Jackett. Keine Nachricht!

Sein Freund Nick hatte einmal zu ihm gesagt, er sollte über eine Therapie nachdenken. Etwas das ihm helfen würde die Situation zu konfrontieren. Vielleicht war das aber das Problem. Vielleicht war Konfrontation gar nicht das richtige, da er nichts Konkretes hatte, das er konfrontieren konnte. Mal hatte er Angst, dass ihr etwas zugestoßen war. Ein anderes Mal empfand er große Eifersucht und stellte sich vor, wie sie einen anderen Mann geheiratet hatte. Vielleicht musste sie das sogar. Dann wiederum empfand er große Wut. Sollte ihm also die Konfrontation wirklich helfen, müsste er dann nicht erst die Wahrheit herausfinden, die es zu konfrontieren gab?

Als er von seinen Gedanken zurückkehrte, saß er auf seinem Barhocker an der Bar angelehnt und starrte gleichgültig in den verschachtelten Raum. Erschöpft nahm er einen großen Schluck von seinem Old Fashioned und zündete sich eine Zigarette an der Kerze auf der Bar an.

Wie sollte er diese Wahrheit herausfinden? In der Zwischenzeit hatte er auch die unwahrscheinlichsten Ansätze verfolgt. Ihre Spur wurde immer unklarer. Gab es für ihn noch Hoffnung auf die Wahrheit? Hoffnung seine Probleme endlich zu konfrontieren. Hoffnung sie wiederzufinden, sich selbst wiederzufinden.

Während er einen kräftigen Zug von seiner Zigarette nahm, kam ihm eine neue Idee. Ruckartig drehte er sich zur Bar. „Carlos!“ Seine Stimme war lauter als eigentlich gewollt. Einige der Gäste unterbrachen ihre Gespräche und hoben den Kopf. „Carlos, komm schon her.“ Dieses mal versuchte er leiser zu rufen. Dennoch mit Nachdruck. Carlos stand einige Meter von ihm entfernt und mixte gerade einen Cocktail. Sein Blick wirkte unverständlich. Er stellte den Drink auf die Bar und kam auf Tim zu. „Was ist denn? Was schreist du hier so rum?“ Aufgeregt nahm Tim einen weiteren Zug von seiner Zigarette. „Sag mal, spinnst du jetzt? Mach das Ding aus!“ „Carlos, gib mir einen Stift!“ „Hörst du mir eigentlich zu? Mach die Kippe aus! Hier drin darfst du doch nicht rauchen.“ „Jaja, ist ja gut. Gib mir schnell einen Stift!“ Der Gesichtsausdruck des Barkeepers verfinsterte sich etwas. „Jetzt mach erst mal die Kippe aus.“ Schnell füllte er ein kleines Glas mit Wasser und stellte es vor Tim auf die Bar. „Hab` dich mal nicht so großer Don Corleone. Wen stört das schon?“ „Mich! Und jetzt mach sie aus!“ Einen tiefen letzten Zug nehmend warf er anschließend die Zigarette in das Glas und blies Carlos den Rauch langsam ins Gesicht. „Sehr witzig Tim.“ „Jetzt entspann` dich mal. Wenn du weiterhin zu deinen Stammkunden so grimmig bist, geht dein Laden pleite und dann musst du wieder zurück ins Waffen- und Drogengeschäft. Da sind Männer mit solchen Frisuren gern gesehn.“ Grinsend reichte er das Glas mit der erloschenen Zigarette über die Bar. „Kannst du mir jetzt bitte schnell einen Stift und ein Papier bringen.“ „Ist ja gut. Für was brauchst du das denn so dringend.“ „Geht dich nichts an! Hab Gedanken, die ich festhalten muss.“

„Wo ist eigentlich diese hübsche Kleine, mit der du sonst immer hier warst?“ Carlos reichte ihm einen kleinen Block und einen Kugelschreiber. „Kommt mir vor, als ob ich sie Monate nicht mehr gesehen habe. Kommst immer allein mit deiner miesen Laune.“ Tim hob seinen Kopf und riss ihm beides aus der Hand. „Geht dich auch nichts an. Stell` nicht so viele Fragen!“ In einem Zug trank er seinen Old Fashioned aus und knallte das Glas auf die Bar. „Noch mal einen!“

Als er wieder von dem Block aufschaute, stand sein nächstes Glas schon neben ihm. Er riss die zwei Blätter ab, die er voll geschrieben hatte und steckte sie zusammengefaltet in seine rechte Hosentasche. Dann nahm er einen weiteren Schluck und lief Richtung Toilette.

„Was macht ihr denn auf der Männertoilette?“ Vor dem Spiegel standen die beiden Frauen von der Bar und zogen ihren Lidstrich nach. Etwas verwirrt schaute er sich in der Toilette um. „Wieso kann ich hier nirgends hinpissen? Verdammt, ich bin in der Damentoilette gelandet. Richtig?“ Die Blonde nickte ihm lächelnd zu. In ihren Augen lag etwas Verführerisches.

„Willst du jetzt hier wie angewurzelt stehen bleiben und uns begaffen?“ Der aggressive Ton passte zu dem allgemeinen Auftreten der kleinen braunhaarigen Freundin. Sie hatte sich an der blonden vorbeigeschoben und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Ihr kleines rundliches Gesicht sah wütend aus. „Genauso stell` ich mir ne Boxerin vor“, dachte Tim. „Ich bitte die Damen meinen unabsichtlichen Voyeurversuch zu entschuldigen. Wobei ich eh das Gefühl habe, dass mein versehentlicher Überraschungsangriff bei den Damen so oder so umsonst war.“ Tim reckte die Faust in die Luft. „Schwestern!“ Die Mimik der Kleinen wurde noch angriffslustiger. „Macho Arschloch!“ Sein Blick wanderte gleichgültig an ihr vorbei, wieder auf das Gesicht der verführerischen Blondine. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Meine Blase sorgt hier gleich für `ne Riesensauerei. Und bevor dein Wachhund auf mich los rennt, mach ich mich lieber vom Acker.“ Er öffnete die Tür und lief zur Herrentoilette.

„Ich geh raus eine Rauchen Marlon Brando. Pass auf meinen Platz auf!“ Während er sich seinen Mantel anzog, zwinkerte er provozierend dem gegenüberstehenden Barkeeper zu.

Die Plätze vor der Bar waren überdacht und geschützt vom Wind. Dadurch ließ es sich eigentlich gut aushalten. Er genoss das befreiende Gefühl, das sich durch die frische Luft in seinem Kopf breit machte. Seine Wahl fiel auf die letzte Holzbank der Reihe. In der Ecke, an der die Bar an eine weitere Hauswand grenzte. Draußen war es ruhig. Die restlichen Tische und Bänke waren leer. Nur zwei Männer standen etwa fünf Meter von ihm an einem hüfthohen Aschenbecher. Er stellte seinen Drink auf den Tisch und breitete die zwei beschriebenen Seiten vor sich aus. Er musste diese Idee irgendwie weiter verarbeiten. War dies ein neuer Ansatz? Wie konnte er das nutzen? „Vielleicht muss ich ihre Vergangenheit verstehen lernen um die Wahrheit zu finden.“ Aber wie konnte ihm das jetzt noch gelingen?

Auf einer hatte er viele verschiedene Stichpunkte geschrieben. An manchen waren Markierungen mit einem Stern gemacht. Einige andere hatte er unterstrichen. Auf der zweiten Seite war eine lange Linie zu sehen, die sich quer über das Blatt Papier zog. Davon gingen in verschiedenen Abständen Striche ab, an denen er wiederum Stichpunkte platziert hatte. Über der langen Linie am Blattrand stand groß „Leila“.

„Hallo Fremder! Schon beim Einnicken? Weißt du, die meisten Menschen gehen zum Schlafen einfach nach Hause.“ Sein Kopf lag abgestützt auf seinen Unterarmen, direkt auf seinen Notizen. Was waren seine letzten Gedanken gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Wie lange er eingenickt war, wusste er nicht. Ein Blick nach vorn verriet ihm aber, dass die beiden Männer bereits wieder in die Bar gegangen sein mussten.

Die scharfe lesbische Blondine hatte sich gegenüber von Tim auf die andere Tischseite gesetzt. Langsam stütze er sich an dem dicken Holztisch ab und setzte sich aufrecht auf die Bank. „Wenn das nicht meine neue lesbische Freundin ist. Wo hast du deinen kleinen Sexschlupf gelassen?“ Die Beschreibung ihrer Freundin amüsierte sie sichtbar. „Ist drin geblieben. Raucht nicht.“

Noch immer etwas durch den Wind legte er seine Hände flach auf den hölzernen Tisch und schaute ihr direkt in die Augen. „Du darfst also ohne deinen bissigen Bewacher nach draußen?“ „Nun ich bin schon ein großes Mädchen, weißt du. Und eigentlich ist sie ganz harmlos. Was machst du hier so ganz alleine? Betrinkst dich und versprühst negative Laune?“ „Ja, das war so ziemlich mein Plan.“ „Du wirkst ziemlich deprimiert.“ Tim zündete sich in der Zwischenzeit seine nächste Zigarette an. „Was hast du da?“ Unter seinen Handflächen lagen noch immer die offen ausgebreiteten Papierseiten. „Sieht aus wie ein Zeitstrahl.“ Tim folgte ihrem Blick. „Gar nichts.“ Schnell nahm er das Papier, faltete es wieder zusammen und steckte es sich in die rechte Hosentasche. „Kommst du etwa direkt von der Arbeit? Waren das irgendwelche internen Notizen?“ Ihre Augen funkelten neugierig. Das Spiel mit ihm schien ihr zu gefallen. „Ich sagte doch, das ist nichts. Geht dich nichts an. Und wie kommst du darauf, dass ich eben von der Arbeit komme?“ Ihr Zeigefinger bewegte sich auf ihn gerichtet auf und ab. Tim verstand nicht ganz. „Was soll das denn bedeuten?“ „Na dein Anzug. Ich denke kaum, dass du in so `nem Aufzug normalerweise in ne Bar gehst. Hoffe ich zumindest mal für dich.“ „Ach so. Stimmt ja. Hab` ich ganz vergessen. Ja, du hast wohl recht. Hatte `nen langen Tag.“ „Dann solltest du vielleicht lieber nach Hause ins Bett gehn, als dich hier zu betrinken.“ Tim schüttelte nur den Kopf. „Wie heißt du eigentlich?“ „Tim!“ „Freut mich Tim. Ich heiße Johanna. Was machst du hier so alleine, Tim?“ „Ich versuch mich abzulenken.“ Mit seiner rechten Hand hielt er ihr sein Glas entgegen. „Verstehe. Deine Taktik ist also trinken, um zu vergessen? Und was versuchst du zu vergessen?“

„Da bist du! Wieso dauert das denn solange? Ach, schau an, du hast den perversen Spanner aufgegabelt.“ Die Blondine lachte nur. Ihre kleine Freundin war zu ihnen gestoßen. Tim grinste sie breit an und winkte ihr über den Tisch zu. „Kommst du vielleicht wieder rein. Mir ist langweilig geworden.“ „Ja klar, ich komme. Kommst du mit Tim?“ „Ist das dein Ernst?“ Tim zog die Brauen hoch. „Ja wieso nicht. War doch nett. Ich will noch mehr von deinen selbstzerstörerischen Geschichten hören. Ich steh auf Drama.“ „Naja, weil ich irgendwie das Gefühl hab, dass Mike Tyson mir gleich ein Ohr abbeißen will.“ Mit einem tötend bösen Blick drehte sich die Kleine zu Tim um. „Siehst du? Gleich springt sie übern Tisch.“ „Ach was, jetzt komm schon. Sie ist wirklich ganz harmlos. Ihr werdet euch schon verstehen.“ „Gut!" Tim sprang auf und lief den beiden nach.

Es dauerte nicht lange und die Kleine wirkte sehr gelangweilt. Die sexy Blondine und Tim verstanden sich gut und sie stand teilnahmslos neben ihnen. Mit einem kräftigen Schluck trank sie ihre Bierflasche aus und stellte sie mit einem heftigen Schwung auf die Bar zurück. „Vorsicht Prinzessin. Bei deiner inneren Wut zertrümmerst du noch die Bar.“ „Ach, fick dich einfach! Ich würde gerne gehen Schatz. Kommst du?“ „Nein wieso? Ich möchte noch bleiben. Ich war schon ewig nicht mehr aus. Und ich habe Spass. Geh doch du schon mal vor und ich komme spätestens in ein zwei Stunden nach. Ok?“ Tim bekam einen giftigen Blick zugeworfen. „Wenn du unbedingt meinst, du musst dich noch weiter mit dem perversen Macho vergnügen. Aber komm nicht erst morgen früh!“ „Mach dir doch keine Sorgen, Süsse. Ich möchte mich einfach noch ein bisschen weiter unterhalten.“ Ihre Freundin gab ihr einen provokativ leidenschaftlichen Abschiedskuss und nahm ihre Jacke. Tim gönnte sie zum Abschied ihren ausgestreckten Mittelfinger. „Och, ist das süß. Und ich hatte schon Angst, du willst mir gleich auch noch `nen Schmatzer aufdrücken.“ „Fick dich Penner.!“ „Alles klar, Hulk Hogan. Stoß dir nicht den Kopf beim Rauslaufen.“ Übertrieben freudig winkte Tim ihr zum Abschied nach.

„Du bist echt unverschämt. Aber auch witzig.“ „Ohja, bitte mehr davon. Ich steh auf Komplimente. So bekommst du mich mit Sicherheit ins Bett. Und was machen wir einsamen Wölfe, jetzt wo Mike Tyson nach Hause ist?" „Lass uns raus gehn! Eine rauchen.“ „Dein Wille sei mir Befehl, oh Gnädigste.“ Er verbeugte sich und schnappte sein Glas.

Dieses Mal setzte sich Johanna neben Tim auf die Bank. „Du scheinst ganz schön erschöpft zu sein. Musst wohl viel arbeiten?“ „Die letzten Wochen waren nicht gerade einfach. Eigentlich hasse ich momentan meinen Job. Vielleicht sollte ich einfach kündigen. Dann hat die Quälerei endlich ein Ende.“ „Ohje, du bist ja ein richtiger Jammerlappen, was?“ „Vielen Dank für die Analyse. Was machst du denn?“ „Ich bin Psychologin.“ „Wirklich? Da werd ich ja direkt feucht. Erzähl mir mehr! Ernsthaft, mir wächst direkt ein Ständer in meiner Hose.“ „Du bist widerlich.“ Aber es schien sie dennoch zu amüsieren. „Komm schon analysier mich. Treib mir den ganzen Schwachsinn aus, der mir die ganze Zeit im Hirn rum schwirrt. Bring mich zum Weinen.“ Sie grinsten sich an.

„Wer ist sie?“

„Wer ist wer?“

„Die Frau?“ Johanna schaute ihn von dreißig Zentimeter Entfernung direkt mit ihren blau glänzenden Augen an.

„Welche Frau? Was meinst du? Die da drüben?“ Indem er auf eine Frau in Ihrer Nähe zeigte, versuchte er ihrem Blick auszuweichen. „Die kenn ich nicht. Ich glaub aber, die steht eher auf mich als auf dich."

„Nein, du Trottel. Ich mein die Frau, die dich hat so verkümmern lassen. Wem trauerst du nach? Wer ist der Grund, dass du dich so in deinem Selbstmitleid vergräbst?“

Tim erstarrte etwas. Sein Pulsschlag verlangsamte sich deutlich. Er unterließ die Versuche ihrem Blick zu entkommen und schaute nun direkt in ihre Augen. Sie hatte einen leichten Grünstich im linken Auge. Die Kleine erinnerte Tim an einen wilden, verspielten Husky. „Du machst mir langsam Angst. Wer bist du?“

„Ich hatte also Recht. Naja, war ehrlich gesagt auch nicht sonderlich schwer bei dir. Du hast quasi Romantiker mit verlorener Liebe auf die Stirn tätowiert. Ständig quasselst du nur davon wie wenig dir emotionale Bindung bedeutet. Also wer ist sie? Ist sie hübsch? Mit Sicherheit ist sie hübsch. Und bestimmt auch sehr klug. Wahrscheinlich ist sie klüger als du. Was ist passiert? Sie hat dich wegen `nem Anderen verlassen? Nein, das glaube ich nicht. Dann würdest du Hass für sie empfinden. Ich spüre keinen Hass bei dir. Du wirkst eher ratlos.“

Ganz ruhig saß Tim vor ihr. Er hatte seinen Kopf wieder nach vorn gerichtet und hielt seine Augen geschlossen. Sein Glas auf dem Tisch abgestellt, stütze er die Ellenbogen auf der Tischplatte und hielt seinen schwer wirkenden Kopf mit den Handflächen.

„Sie ist weg.“ Sie hatten einen Moment lang geschwiegen. Ihr Blick war noch fest auf Tim gerichtet. Sie nahm einen Zug und hielt Tim ihre Zigarette vor die Lippen. „Nimm einen Zug!“ Der Rauch füllte seine Lungen. Das Atmen viel ihm schwer. Doch der Gedanke, wie der Teer sich um seine Lungenflügel legte und ihn langsam dahinraffen lassen würde, fühlte sich gut an. Der Rebell in ihm wollte sich gegen die ganze alltägliche Normalität wehren. Gegen die langweiligen Gespräche, die er mit einigen Frauen hatte. Gegen den Druck in der Arbeit. Dagegen jemanden vorzugeben, den er eigentlich nicht sein wollte. Seriös zu wirken. Anderen sein wahres Ich vorzuenthalten, um nicht zu riskieren, dass diese den Respekt verlieren würden. Ständig mit deutlich älteren Menschen über die Finanzen, Neuentwicklungen und Marktlagen zu sprechen. Jeden Morgen alleine aufzuwachen. Ohne sie an seiner Seite. Nacht für Nacht sich mit Erinnerungen an sie in den Schlaf zu quälen.

„Sie hat mich verlassen. Ich hab´s vermasselt.“

„Wie lange ist sie schon weg?“

„Ungefähr vier Monate. Ich habe sie seither nicht wieder gesehen.“

„Wau, so lange schon? Hast du dich seither nie wieder neu verliebt?“

„Neu verliebt?“ Tim richtete seinen Blick auf Johanna. Seine Stimme klang bestimmter. „Man verliebt sich nicht einfach neu, wenn man so etwas erleben durfte. Wenn du einmal wahre absolute Liebe empfunden hast. Wenn du es in tiefstem Herzen gespürt hast. Dann gibt es kein zweites Mal. Eine zweite Chance. Du stehst nicht einfach auf, streifst deinen Schmutz von den Schultern und gehst weiter. Du klammerst dich an das, was du hattest, weil du keine Erinnerung daran je verlieren darfst.“

„Oh mein Gott, das ist ja so heiß.“ Schlagartig warf sie ihre Zigarette weg und stellte ihr Glas auf den Tisch. Ihre rechte Hand drückte Tim in die Rückenlehne der Bank und sie setzte sich mit dem Gesicht zu ihm gewandt auf seinen Schoss. Ihre Knie platzierte sie neben seinen Schenkeln auf der harten Holzbank. Langsam streifte ihre rechte Hand durch sein verstrubbeltes Haar. „Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der so gefühlvoll von der Liebe gesprochen hat.“ Auffordernd packten ihn ihre Hände am Hals und ihre Lippen umschlossen die seinen. Fest drückte sie ihren leicht geöffneten Mund gegen seine Oberlippe. Tim packte sie an ihrem Hintern und presste sie fest gegen sein Becken. Spürbar öffnete sich ihr Mund und sie streichelte mit ihrer Zunge über seine Lippen. Wehrlos ergab er sich ihrer Leidenschaft, wild über die vollen Lippen küssend.

„Wolltest du nicht in spätestens zwei Stunden dem kleinen Gnom folgen.“ Schmunzelnd blickte er in das erschöpfte Gesicht der Frau neben sich. Nur eine leichte Decke bedeckte ihren nackten Körper. Die Brustwarzen ihrer großen, vollen Brüste zeichneten sich unverkennbar darauf ab. „Hör auf mit dem Quatsch. Erinnere mich nicht daran. Das versaust nur die Stimmung.“ Sie presste ihm ihre rechte Hand auf den Mund. „Ok ok. Alles, was du willst.“ Seine Stimme konnte man kaum entziffern. Vielmehr sabberte er ihr nur die Hand voll. „Du kleines Ferkel.“ Mit einem Wisch streifte sie ihre Hand an seiner Brust ab. Tim lag nackt neben ihr auf dem Rücken. Er hatte die Hände hinter seinem Kopf verschränkt. „Du hast mich ganz schön außer Atem gebracht, du kleine Nymphomanin. Wenn alle Lesben solche Granaten im Bett sind, lass ich mich operieren.“ Sie lachten. Ihr warmer weiblicher Körper presste sich gegen seinen. Die Decke hatte Tim weggezogen. Sie hatte sich auf ihn gelegt und presste ihre weichen Brüste gegen seinen Oberkörper. Langsam und bestimmend kreiste sie mit ihrer Hüfte auf seinem Becken. Es war nach vier Uhr morgens. Hinter ihnen lagen drei wilde und sinnliche runden Sex voller Ekstase. In drei Stunden musste Tim eigentlich wieder aufstehen und sich für die Arbeit fertig machen. Doch das hatte er längst wieder vergessen. „Ich weiß nicht, ob alle so sind. Du musst wissen, ich liebe meine Freundin wirklich aufrichtig. Auch wenn sie manchmal etwas unstimmig ist. Sie kennt mich und macht sich deswegen Sorgen. Ich kann eben nichts dagegen machen. Manchmal brauche ich einfach einen Mann zum Intim werden. Mit ihr ist es nicht das selbe, wie wenn dich ein schwitzender Mann in seiner Gewalt hat.“ „Ihr Wunsch sei mir wie immer Befehl.“ Seine Hände packten Johanna an der Hüfte und er drehte sie mit einem Ruck auf den Rücken. Dann warf er sich auf sie, nahm seinen steif gewordenen Schaft in die rechte Hand und führte in langsam ein. „Mir gefällt, wie du dabei jedes Mal fast in Ohnmacht zu fallen scheinst.“ Ihre Augen wurden groß und schienen für einen Moment erstarrt auf sein Gesicht gerichtet. Durch ihren geöffneten Mund zog sie mit einem tiefen Atemzug Luft in ihre Lungen. Gleichzeitig erzeugte ihre Kehle ein leises Stöhnen. Während sie ihre Augen schloss, drehte Johanna den Kopf auf die Seite, stieß langsam die eingesogene Luft aus und verfiel anschließend in ein gleichmäßiges aber intensives Stöhnen. Dabei kniff sie ihre Augen bei jedem Stoß etwas heftiger Zusammen.

Hustend ließ sich Tim neben Johanna auf sein Bett fallen. Die Schweißtropfen kitzelten an seiner rechten Schläfe. Um den Husten zu unterdrücken presste er das Gesicht in sein Kissen. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich gefangen hatte und sich völlig erschöpft auf den Rücken drehte. Johanna saß im Schneidersitz in etwas Abstand auf der benachbarten Matratze. Sie wirkte verstört. Auf seinem Nachttisch stand eine bereits geöffnete Flasche, in die Tim Leitungswasser gefüllt hatte. Ohne abzusetzen trank er die halbe Flasche aus, nahm die Schachtel Zigaretten, die daneben lag, und ließ sich wieder in sein Kissen fallen. „Was?“ „Bist du sicher, dass du jetzt eine Rauchen willst?“ Er ignorierte ihre Bemerkung. „Willst du auch eine?“ „Danke, lieber nicht.“

Auf dem breiten schwarzen Bettrahmen lag bereits die Asche neben dem Aschenbecher verstreut. Seine Bewegung verfehlte ihn erneut knapp. Für einen Augenblick lag er regungslos auf der Matratze. Etwas benommen versuchte er die letzten Minuten zu rekapitulieren. Er hatte das Gefühl, dass diese Aussetzer in letzter Zeit häufiger wurden. „Bist du gekommen?“ Johanna saß noch immer aufrecht auf der Matratze und beobachtete ihn beim Rauchen. „Keine Ahnung.“ Tim zuckte mit den Achseln. „Du?“ „Nein!“ Für einen kurzen Augenblick schwieg sie. „Bist du ok?“ „Denke schon.“ Langsam legte sie sich ebenfalls neben ihn auf den Rücken. „Hast du mir jetzt vielleicht doch einen Zug?“ „Klar!“

Wie lange er auf dem Rücken lag und die Decke anstarrte, konnte er nicht recht einschätzen. Die lange Nacht zeigte ihre Wirkung und Tim wurde immer erschöpfter. Für einen kurzen Moment erwischte er sich dabei, wie er zuckend aus einem Sekundenschlaf wieder aufwachte.

Sein Griff ging zu seiner Hose, die völlig zerknüllt auf dem Parkettboden unter dem Bett lag. Vorsichtig zog er die zusammengefalteten Seiten aus der rechten Hosentasche und setzte sich vor seinen Nachttisch. Aufgeregt griff er nach einem Bleistift im unteren Fach. Es war vollgestopft mit losen Blättern und Papierschnipseln.

„Was machst du da?“ Johanna war ebenfalls einige Male für kurze Augenblicke eingenickt. Tim hatte das Dachfenster leicht geöffnet um den Gestank aus Schweiß und kaltem Rauch abziehen zu lassen. Frierend kroch sie unter die dicke Decke, die aufgehäuft am unteren Bettrand lag. Sein Blick richtete sich wieder auf seine Notizen. „Sag doch mal. Was schreibst du auf diesen Seiten?“ „Muss mir ein paar Anmerkungen machen.“ „Worüber? Schreibst du etwa ein Tagebuch?“ „Kann man so nicht sagen.“ „Du schreibst doch nicht etwa über das, was heute Nacht passiert ist, oder?“ Tims Blick wanderte zu seinem Handy. Es war bereits kurz vor fünf. „Verdammt. Ich muss schlafen. Ich mach das Licht aus. Ok?“ In einer Bewegung faltete er die Seiten zusammen und verstaute sie wieder in seiner rechten Hosentasche. Säuberlich legte er die Anzugshose über das, zwei Meter entfernte Holzgeländer der Galerie, von wo aus er in sein kleines Wohnzimmer blicken konnte. Er schloss das Fenster, knipste das Licht aus und kroch, ohne eine Reaktion von Johanna abzuwarten, zu ihr unter die warme Decke. Kurzzeitig umgab ihn noch die kalte Frischluft. Doch der nackte Körper von Johanna spendete genügend Wärme. Ihr linker Arm über seiner Brust war ein schönes Gefühl. Dann schlief er ein.

Gemeinsam standen sie mit einer Gruppe von ungefähr zwölf weiteren Personen an einem Überrest der Berliner Mauer. Die Abendsonne wärmte noch leicht, während sie bereits fast vollständig hinter den endlos wirkenden Häuserreihen verschwunden war. Durch die mächtigen Häuserschluchten zog ein angenehmer leichter Wind. Tim hielt Leila fest in seinem rechten Arm. Ein Student, wahrscheinlich bereits Anfang dreißig, stand vor einem Mauerabschnitt. In Mitten des durch die Zuhörer gebildeten Halbkreises erzählte er eine Geschichte aus vergangenen Tagen, während die Mauer noch Ost- von Westberlin trennte. Es handelte sich um ein Liebespaar, das durch die Mauer getrennt wurde. Der Mann musste seine Geliebte in der ehemaligen DDR zurücklassen. Nachdem er drei Tage trauerte, begegnete er abends in einer Kneipe einer Frau. Da er bereits leicht betrunken war, konnte er kaum glauben was, er sah. Diese Frau sah seiner verflossenen Liebe zum Verwechseln ähnlich. Sie begannen eine ungezwungene Affäre. Nach zwei Monaten nahm er sie mit auf einen Ausflug. Er wollte ihr seine alte Heimat Ostberlin zeigen. Nachdem die Frau im Hotelzimmer eingeschlafen war, stand der Mann aus dem Bett auf und durchwühlte ihre Handtasche. Er schnappte seinen Koffer und steckte den Pass seiner neuen Freundin in seine Jackentasche. Mit dem Pass in der Tasche und seinem Koffer auf der Rückbank fuhr er auf direktem Weg zu dem alten Haus seiner großen Liebe. Ohne zu zögern stieg sie in seinen Wagen und beide fuhren mit Hilfe des gestohlenen Passes über die Grenze nach Westdeutschland.

Nicht einen Augenblick hatte er etwas für die Frau in seinem Hotelzimmer empfunden und ließ sie identitätslos in Ostberlin zurück.

Der Stadtführer bedankte sich bei seinen Zuhörern und beendete mit dieser Geschichte sein Programm durch die Hauptstadt. Die Zuhörer klatschten und gaben dem Mann ein reichliches Trinkgeld. Anschließend löste sich die Gruppe auf.

Tim und Leila schauten sich ruhig in die Augen. Die Geschichte mochte vielleicht erfunden gewesen sein, doch sie wussten wie weit man manchmal bereit sein musste zu gehen, um die Liebe zu schützen. Dass die ehrliche und tiefe Liebe zweier Personen oft nicht genug war, um ein gemeinsames Leben führen zu können.

„Gehen wir was trinken?“ Tim unterbrach ihr kurzes nachdenkliches Schweigen. Sie waren die letzten, die noch an der Mauer standen. „Oh ja gerne. Ich habe Lust mich mal wieder so richtig mit dir zu betrinken.“ Leila strahlte im ganzen Gesicht. Sie war merklich glücklich. Dieser Blick bedeutete für Tim seit einigen Monaten alles. Sie glücklich zu sehen machte auch ihn zufrieden. Wie lange hatte er danach gesucht. Zufrieden zu sein. Gedanklich für einige Zeit das Streben nach mehr einfach zu vergessen. Sie konnten noch nicht sehr viel Zeit miteinander verbringen. Doch von einem Wochenende wie diesem schöpfte er eine ganze Woche Kraft. Gemeinsam vergaßen sie einfach die Probleme, die diese Beziehung mit sich brachte. Bewusst sprachen sie nicht über diese Themen. Über den Konflikt, den ein Leben in einer westlichen, liberalen Gesellschaft mit sich brachte, während Leila gleichzeitig noch gefangen in einer fremden Kultur zu sein schien. Tim wusste, dass auf ihren Schultern große Verantwortung lastete und sie oft genug Schwierigkeiten damit hatte, die so verschiedenen Anforderungen in ihrem alltäglichen Bewusstsein zu meistern.

„Ich liebe es einfach, wenn wir unseren Pegel haben.“ Ihr Arm legte sich um seinen Hals und in ihrem Gesicht strahlte dieses verliebte Lächeln. „Dann verschwinden wir immer unter unserer Käseglocke. Ich kann einfach mit keinem so gut philosophieren wie mit dir.“ Schmunzelnd über die Käseglockemetapher stand er ihr gegenüber und blickte in die großen Augen, die strahlend zu ihm aufblickten. Leila war fast einen Kopf kleiner als Tim. Wenn sie ihn so anschaute konnte nichts der Schönheit ihrer exotischen Augenform gleichen. Mit beiden Händen fasste er ihr Gesicht unterhalb der Ohren und presste ihr einen dicken Kuss auf die Lippen.

Sie bekamen einen kleinen Tisch etwas weiter hinten im Raum. Der Irish Pub war bis zum Anschlag gefüllt. Tim bestellte einen Pitcher Cider und zwei Gläser mit Eiswürfeln. „Hast du Hunger, Kleine?“ „Geht schon. Wir trinken einfach mehr.“ Diese Lippen konnten so viel Unschuldiges und doch zugleich noch mehr Freches ausstrahlen. Der Kellner nahm die Bestellung auf und ging zurück Richtung Bar.

„Weißt du noch, als wir uns damals mit Glühwein vollgeschüttet hatten und vom Riesenrad die Menschen mit Mandeln beworfen haben?“ Ihre Hand fuhr durch sein kurzes dunkles Haar. „Du hattest ein richtig schlechtes Gewissen. Bis du dich endlich getraut hattest, waren wir bestimmt schon zwei Runden gefahren.“ Auf seinem leicht erhitzten Gesicht fühlte sich ihre Hand angenehm kühl an, während sie provozierend albern über seine rechte Wange streichelte. „Tim, manchmal bist du einfach zu brav für diese Welt.“

Leila und Tim saßen immer nebeneinander an einem Tisch. Alle Paare, die sich gegenüber saßen hielten sie für spießig. „Ach red kein Scheiss!“ Ihr Kommentar ließ ihn nicht unberührt. Tim konnte es nicht ausstehen, wenn Leila ihn an diesem Punkt in die Mangel nahm. In vollen Räumen wie Restaurants oder Bars war Tim manchmal etwas schüchtern und stets darauf bedacht, nicht negativ aufzufallen. Oft fühlte er sich dabei von den Menschen um ihn herum beobachtet. Leila konnte ihn allerdings dazu bringen diese Gedanken abzuschalten. Oft hatten sie Stunden in einer Bar verbracht, ohne dass er auch nur seine Umgebung bewusst wahrgenommen hätte. Wohingegen sie sich auffallend wenig darum kümmerte, was die Menschen in ihrer Umgebung über sie dachten. Dies gab Leila eine extrem selbstsichere Ausstrahlung. Manchmal dachte Tim, dass sie mit Absicht auffallen wollte. Vielleicht auch etwas schockieren, um gegen die gesellschaftlichen Zwänge, die sie sonst umgaben zu rebellieren.

„Wie damals, als ich in diesem mexikanischen Restaurant die Brüste und Penisse auf die Tischdecke malte“, schoss es lachend aus ihr hervor. Wieder eine Situation, die Tim unangenehm war. Schnell versuchte er das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. „Ich bin eben schnell Erwachsen geworden. Wir können nicht für immer achtzehn bleiben. Du konntest dir bisher eben noch diese jugendliche Albernheit bewahren. Und du hast dein südländisches Temperament.“ Er nahm Leila in den Arm und küsste sie fest auf den Mund. Ihre Arme wickelten sich um seinen Hals und pressten ihn noch fester an sich heran.

Als sie wieder aufsahen, stand ihr Pitcher, zwei Gläser mit Eiswürfeln und ein Teller mit käseüberbackenen Nachos vor ihnen auf dem Tisch. „So gefällst du mir schon viel besser.“

„Was denkst du, wie alt ist das Universum?“ Etwas mehr als eine Stunde war vergangen. Der Pitcher war fast leer. Noch immer saßen sie eng nebeneinander an ihrem Platz und philosophierten über so ziemlich alles, was ihnen gerade einfiel. „Naja, es ist knapp vierzehn Milliarden Jahre alt“, antwortete Tim. „Hab` ich zumindest gelesen. Das konnte man bestimmten, indem man die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckte und messen konnte. Irgendwer hat dafür einen Nobelpreis bekommen, soweit ich weiß.“ „Kosmische Hintergrundstrahlung?“ „Das ist sozusagen das erste Licht, das sich frei durch den Raum bewegen konnte.“ Aufmerksam blitzten ihre dunklen Augen, während sie ruhig seinem kleinen Exkurs in die Astrologie folgte. Tim wusste, wie wissbegierig Leila war und dass sie an seiner Erklärung wirkliches Interesse hatte. „Du musst dir vorstellen, dass sich das Universum ständig ausdehnt. Wie wenn du einige Punkte auf einen Ballon malst und ihn langsam aufbläst. Die Größe der Punkte bleibt annähernd gleich. Aber die Entfernung dazwischen ändert sich stark. Dadurch wird auch das Licht auseinander gezogen. Und je länger eine Lichtwelle, desto mehr schiebt sie sich in den infraroten Bereich. Man nennt das Rotverschiebung. Also misst man diese Verschiebung und wenn man weiß, wie schnell sich das Universum in etwa ausdehnt, kann man dann berechnen, wie alt sozusagen dieses Licht ist. Anscheinend ziemlich genau 13,7 Milliarden Jahre.“ „Du weißt, ich liebe es, wenn du so schlaue Dinge sagst. Würde dich gerade am liebsten direkt auffressen.“ Langsam schob sich ihre rechte Hand auf seinen Schenkel und fuhr sanft über seinen Schritt. „Lass das, du kleines Luder!“ Wieder dieses freche Grinsen. „Das gefällt dir doch. Ich spür` ja sogar schon, wie dir das gefällt.“ Schlagartig wurde Tim von einer überwältigenden Geilheit befallen. Sein Körper fühlte sich an, als ob er gerade an einem Joint gezogen hätte. Schnell vergrub er sein Gesicht in ihrer Schulter. „Autsch - Lass das, du Schuft!“ Sein Biss hatte leichte Spuren in ihrem Nacken hinterlassen. „Selbst schuld, wenn du mich so geil machst.“

Die Personen am Tisch neben ihnen, ein Pärchen, etwa im gleichen Alter, sahen zu ihnen rüber. In den Augen der jungen Frau war klar die Sehnsucht nach einer ähnlichen Leidenschaft zu erkennen. Der Typ, ein leicht stämmiger Bursche mit Borstenhaarschnitt und bräunlichem, kurzgeschorenen Vollbart, verdrehte nur die Augen und nahm einen Schluck von seinem Hefeweizen. Tim sah ihn an und musste lachen. „Is` was?“ Ein Schwall mit leicht aggressivem Unterton kam vom Nebentisch. „Ne`, alles Roger, Kurt Beck. Wollte eure romantische Zweisamkeit nicht stören.“ „Lass das!“, zischte Leila in sein Ohr und musste sich ein Lachen verkneifen. „Was redest du da für `nen Mist.“ Der Typ schaute ihn mit gerunzelter Stirn verdutzt an. „Nix – nimm``s locker Junge. Cheers!“ Tim hob sein Glas, um mit seinem Nachbarn anzustoßen. „Verpiss dich!“, grummelte der nur und drehte sich ab. Leila konnte sich kaum noch bremsen vor Lachen. Sie schnappte Tims Unterarm und biss ebenfalls hinein. „Ahh!! - Fuck, spinnst du?“ Sie kicherte nur kindlich. „Sorry, ging nich` anders“ Zärtlich streichelte sie seinen Unterarm und küsste die Bissstelle.

„Komm, lass uns gehen, Kleiner!“ Leila war zwei Jahre älter als Tim. Er wusste, dass sie ihm geistig und rhetorisch überlegen war. Momentan schrieb sie an ihrer Doktorarbeit in der medizinischen Grundlagenforschung. Vor kurzem hatte sie ihr Medizinstudium mit Bestnoten abgeschlossen. Nun war sie auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für ihre Assistenzzeit in der Klinik, in der sie auch die Versuche für ihre Doktorarbeit durchführte. Tim hasste es, wenn Leila die Zügel in die Hand nahm. Er war selbst ein sehr dominanter Mensch und im Zusammensein mit Frauen pflegte er gerne die „alte Schule“. Still schluckte er seinen Ärger hinunter, streichelte kurz seinen angegriffenen Stolz und rief den Kellner. Nachdem er bezahlt hatte, half er Leila in ihre Jacke und führte sie mit einer Hand an ihrem Rücken durch die Bar nach draußen. Im Vorbeigehen ließ er dem Typen am Nachbartisch noch ein kurzes „Piece Out, Hombrey!“ zurück und sie verschwanden aus der Bar.

Gemeinsam liefen sie die enge gepflasterte Straße, die zu ihrer kleinen Wohnung führte entlang. Tim hatte für drei Nächte eine zwei Zimmer Wohnung im StadtteilPrenzlauer Berg gemietet. Die vielen Gläser Cider zeigten bei beiden bereits ihre Wirkung. Während sie fest umschlungen kreuz und quer die kleine Straße hochliefen, begann Leila laut zu singen. „We all live in a yellow submarine....“ Es klang grausam. „Willst du die Katzen hier verjagen?“ Für eine Frau sang sie ungewöhnlich schlecht. Und darüber wusste sie bestens Bescheid. Seine kleinen Spitzen hielten sie aber scheinbar nicht davon ab sich weiter selbst zu genießen. „Du Schuft!“, lachend kniff sie ihm in den Po und rannte quer über die Straße zu einer großen Bronzestatue, die hinter einem niederen Eisenzaun stand. Der Mann hatte einen bemitleidenswert kleinen Penis. Ohne zu zögern kletterte sie über den Zaun und stieg auf den steinernen Podest zu der Statue. „Schnell, mach ein Bild!“, schrie sie Tim zu. Sie bückte sich leicht und küsste dem Mann seinen kalten, nackten Hintern. „Du hast sie einfach nicht mehr alle!“

Etwa fünfzehn Minuten später saßen sie auf einem antiken braunen Sofa mit dicken Knöpfen, die das robuste Leder strafften. Tim liebte diese Art Möbel. Oft dachte er daran, wie es wäre, fünfzig Jahre früher zur Welt gekommen zu sein. Hätte er mit seiner Art und seinem Stil die Welt im Sturm erobert?

Er hatte seinen rechten Arm fest um Leilas Schultern gelegt. Ihr Kopf lag zur Hälfte auf seiner Schulter zur anderen auf seiner Brust. In seiner linken Hand hielt er einen Scotch. Lagavulin, sechzehn Jahre. Einer seiner Favourits. Auf dem Weg nach Hause hatten sie an einer kleinen Bar Halt gemacht. Über der schweren Tür hing ein großes Schild auf dem „Scotch and Sofa“ geschrieben stand. Die Bar ähnelte einer Smoker´s Lounge im Stile der fünfziger Jahre. Vor dem großen Spiegel hinter der robusten Eichenbar standen die besten Whiskeys, Brandys, Cognacs und sonstige Spirituosen. Im Hintergrund tönten leise Jazzklänge. Das wenige Licht schimmerte in der Rauchwolke vor ihnen. Die verschiedenen antiken Sofas und schweren Couchtische waren in großzügigem Abstand voneinander im Raum verteilt. Es war bereits ein Uhr und nur noch wenige Gäste befanden sich in der Bar. Tim nahm die anderen Gäste kaum noch wahr. Langsam zog er seinen Arm über ihren Kopf und griff nach seiner Zigarette, die im Aschenbecher vor ihnen abbrannte. „Was denkst du, wird aus uns?“ Er nahm einen kräftigen Zug und hielt seinen Blick nach vorn gerichtet. Kurz wartete er auf eine Reaktion von ihr. Dann nahm er einen weiteren Zug und wandte seinen Blick nach rechts. „Ich meine, was passiert da zwischen uns? Wir kennen uns erst vier Monate. Wann immer möglich verbringen wir unsere Zeit miteinander. Ich habe mich noch nie mit einer Frau so vertraut gefühlt. Trotzdem bekomme ich von dir immer wieder Signale, dass wir keine vernünftige Zukunft haben können.“ Leila schwieg. Ohne ein Wort zu sagen, griff sie nach seinem Scotch, nahm einen kräftigen Schluck und verzog furchtbar ihr Gesicht. Tim reichte ihr seine Zigarette und sie nahm einen Zug davon. Er klopfte die abgebrannte Asche ab und richtete seinen Blick wieder nach vorn. „Warum setzt du mich unter Druck, Tim? Ich weiß, wie kompliziert mein Leben ist. Und aus diesem Grund habe ich es dir gleich zu Beginn erklärt.“ Sie schwiegen. Damit hatte sie recht. Die Situation war schnell klar geworden. Dennoch fühlte er es. Erst vier Monate waren vergangen seit seiner spontanen Fahrt zu ihr und den vielleicht leidenschaftlichsten zwei Nächten in seinem Leben. Eine Geschichte, die eigentlich eher in das Muster One Night Stand passen würde. Diese Frau war gefährlich. Doch Tim war fest entschlossen sich der Gefahr zu stellen.

Sie blieben noch lange in der Bar sitzen. Ihre kurze Aussprache hinterließ keine Spuren auf ihre Stimmung. Diese Gespräche waren in letzter Zeit häufiger geworden und sie lernten darüber hinweg zu sehen.

„Kannst du mir deine Sprache beibringen?“ In seinen Vorstellungen träumte Tim oft davon damit eines Tages ihre Familie zu beeindrucken. Er war kein Fremdsprachentalent. Dennoch fand er Sprachen anziehend. Gerne hätte er sie alle gelernt. Doch meistens bewies er nur wenig Durchhaltevermögen. Dieses Mal war es aber etwas anderes. Tim wollte kurdisch lernen, um Leila besser verstehen zu können, um ihre Kultur und ihren Alltag nachvollziehen zu können.

„[De Tschiauwanni - Na we men Tim a] - das heißt; wie geht es dir? Mein Name ist Tim.“ Er wiederholte den Satz zwei Mal. „Und dann sagst du [baschm sors spass] mit scharfem S am Ende. Das bedeutet; gut vielen Dank!“ Für Leila war die kleine Unterrichtseinheit bestimmt anstrengend.

Sie lagen bereits in dem kleinen Bett in ihrer Mietwohnung. Es musste nach vier Uhr sein und der Alkohol machte sie langsam schläfrig. „Was heißt, ich liebe dich?“ „[Ez te hesch diggm]“ Tim wiederholte den Satz, küsste sie auf den Mund und ließ sich neben ihr in das Laken fallen. „Ich weiß noch, wie du es das erste Mal sagtest.“ Das war das letzte, was er hörte, dann schlief er ein.

Tim schreckte unsanft aus seinem Traum auf. Hastig versuchte er den Lärm zu lokalisieren, der ihn geweckt hatte. In seinem Kopf pulsierte ein hämmernder Schmerz vom gestrigen Alkohol. Unter der dicken Decke fühlte er das feuchte Laken. Während er schlief, musste er stark geschwitzt haben. Seine Hand griff unkontrolliert auf den Nachttisch und warf dabei ein halb volles Whiskeyglas auf den Boden. Krampfhaft öffnete er die Augen. Durch das Dachfenster schien bereits die hochstehende Sonne. Sein klingelndes Handy vibrierte auf dem Nachtisch.

„Ja, hallo?“ Seine Stimme klang verschlafen. Der pochende Schmerz in seinem Kopf machte jedes Wort zu einer Qual.

„Hallo, Tim! Habe ich Sie etwa geweckt? Haben Sie einen kurzen Moment Zeit?“ Die Stimme am Telefon kam ihm bekannt vor. Woher kannte er diesen Mann?

„Ja, Sie haben mich geweckt. Wer ist da?“

„Das tut mir wirklich leid. Ich dachte Sie wären schon wach. Hier spricht Privatdetektiv Thomas Ringer. Sie haben mich vor etwa sieben Wochen kontaktiert. Sie wollten Information über ein unbekanntes Krankenhaus in Schweden.“ Langsam dämmerte es ihm. Er hatte das Gespräch schon fast vergessen. Nachdem er mehrere Wochen nichts gehört hatte, hatte er den Glauben aufgegeben, über diesen Weg etwas herauszufinden. „Es tut mir leid, dass Sie so lange nichts von mir gehört haben, aber auf Grund der wenigen Informationen, die Sie mir geben konnten, war die Aufgabe doch schwieriger als erwartet.“ Der Mann schien einen Augenblick abzuwarten, ob Tim etwas erwidern wollte. Er hatte den Mann nie gesehen. Im Internet war er auf seine Homepage gestoßen. Da er wenig andere Möglichkeiten sah, engagierte er Thomas Ringer. Über eine Telefonnummer auf der Internetseite konnte er ihn erreichen. „Tim, ich habe eine gute Nachricht für Sie. Es hat mich viel Zeit gekostet, aber ich glaube ich habe eine interessante Spur entdeckt.“ Wieder machte er eine kleine Pause. Tim war nun hell wach. „Allerdings muss ich ihnen mitteilen, dass es teurer wird als erwartet.“

Als Tim auflegte pochte sein Herz. Hatte sich eben eine weitere Chance aufgetan. Nachdem er seinen Glauben fast vollkommen verloren hatte? Ruckartig sprang er aus seinem Bett. Zielgerichtet nahm er seine Hose vom Geländer und griff aufgeregt in seine rechte Hosentasche.

Hastig drehte er die Hose und schüttelte sie kräftig. Verwirrt lief er zurück zu seinem Nachttisch und durchwühlte die beiden Fächer. Nichts. Sein Kopf begann wieder zu schmerzen. Erschöpft ließ er sich zurück auf sein Bett fallen. Was war passiert? Dann fiel es ihm auf. Sie war weg. Sein Bett war leer. Heute Nacht war er noch neben einer blonden lesbischen Frau eingeschlafen. Sie musste sich, während er geschlafen hatte, davongeschlichen haben. Hatte sie seine Notizen geklaut? Resignierend schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und schaute an die Decke. Schlagartig schreckte er auf und griff nach seinem Handy. Es war dreißig Minute nach elf. „Fuck, verpennt!“ Er zog die Decke über den Kopf und schlief wieder ein.

Treibsand

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