Читать книгу Flammen des Sommers - Madeleine Puljic - Страница 5

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as kleine Haus lag in beschaulicher Einsamkeit unter der Nachmittagssonne. Umgeben von Ackerland, das nach ein paar Feldern bereits auf dichten Wald traf, schmiegte es sich an den Hang des Hügels, der es vom Rest des Dorfes abschirmte. Im Inneren der Hütte wurde dieser harmlose Eindruck jedoch schlagartig zunichtegemacht.

Berekh packte den vor Schmerzen stöhnenden Mann mit routiniertem Griff und drückte ihn auf den Tisch. Ehe der arme Kerl überhaupt begriffen hatte, wie ihm geschah, hatte Berekh ihn bereits mit Hanfseilen an der Platte festgebunden.

Blut tropfte zu Boden. Es fiel auf die groben Holzdielen und versickerte in den Ritzen. Aber darüber würde Berekh sich später Gedanken machen. Jetzt musste er sich erst einmal dem Mann widmen, der da bebend vor ihm lag, gebadet in kalten Schweiß.

Er tastete nach dem Messer, das er in Reichweite abgelegt hatte. Seine Finger waren feucht und schmierig von Blut, aber er fand den hölzernen Griff und umfasste ihn so fest, dass ihm das Messer unmöglich entgleiten konnte. Ein letztes Mal sah Berekh dem Mann in die angstgeweiteten Augen. Dann setzte er die Klinge an und tat den ersten Schnitt.

Unter den Fesseln begann der Mann zu zucken. Mit seiner freien Hand presste Berekh das Bein fester auf die Tischplatte und fixierte es dort, ließ sich weder durch das Zittern der Muskeln unter seinen Fingern noch durch die schmerzerfüllten Laute beirren, die der Mann nun ausstieß. Er ging konzentriert und methodisch vor, mit aller Entschlossenheit, die diese Arbeit erforderte.

Bis der Schrei ertönte.

Kurz und grell drang er aus dem Garten herein.

Für gewöhnlich hätte eine solche Unterbrechung Berekh kaum ein Stirnrunzeln entlockt. Schreie gehörten zu seinem Leben wie das Blut an seinen Händen. Der Grund, weshalb er dennoch zusammenzuckte, war die Stimme. Unter Tausenden hätte er sie wiedererkannt. Der Schrecken, den er darin hörte, ließ ihn den blutenden Mann auf seinem Tisch augenblicklich vergessen. Es gab nicht mehr viel, was seiner Frau Angst einjagen konnte.

Berekh ließ das Messer fallen, stürzte los – und knallte prompt mit dem Schienbein gegen die vermaledeite Truhe hinter der Tür, die ihm schon lange unangenehm aufgefallen war. Humpelnd hastete er weiter. Er durchquerte gerade den Vorraum, als er auch den zweiten Schrei zu hören bekam.

»Berekh!«

Diesmal lag eindeutig mehr Zorn als Furcht in dem Ausruf, was seinen Schritt unweigerlich verlangsamte. Wütend war seine Frau eine völlig andere Herausforderung.

Der Grund für ihren Ausbruch wurde offensichtlich, sobald Berekh ins Freie trat. In dem Garten, den seine Frau mit solcher Hingabe angelegt und gepflegt hatte, saß ein Drache.

Er war klein, eigentlich noch ein Welpe. Die Hornfortsätze an seinem runden Kopf waren kaum mehr als eine Reihe von flachen Wölbungen, die Flügel so winzig und unförmig, dass Berekh sich fragte, ob er den weiten Weg hierher überhaupt geflogen sein konnte.

All das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass er bereits die Größe eines kräftigen Ponys besaß und sein schuppiges Hinterteil mitten zwischen die Gurken gepflanzt hatte.

Daena zeigte mit zitternden Fingern auf ihren Besucher. »Was auch immer es ist, schaff es aus meinem Gemüse!«

Berekh wollte sich an die Stirn greifen. Zum Glück erinnerte er sich rechtzeitig an das Blut an seinen Händen – und das wiederum rief ihm seinen Patienten zurück ins Gedächtnis. Mit einem leisen Fluch lief er ins Haus. An der Schwelle hielt er inne und wandte sich noch einmal zu Daena um. »Ich bin gleich wieder da«, versicherte er ihr, ehe er an den Tisch in seinem Arbeitsraum zurückhetzte.

In seiner Eile entging ihm allerdings, dass sich das übermütige Drachenjunge an seine Fersen geheftet hatte. Glückliche Rauchwolken ausstoßend folgte es ihm bis in das Innere des Gebäudes.

Gerade noch hatte der hartgesottene Bauer ohne Mühe den Anblick seines aufgeschlitzten Knöchels ertragen, der ihm unter die eigene Pflugschar geraten war. Berekh hatte das Bein mithilfe des Messers von dem mit Blut und Erdreich verkrusteten Hosenbein befreien müssen, um die Wunde versorgen zu können. Eine schmerzhafte Angelegenheit, die der Mann tapfer ertragen hatte.

Aber ein Blick in die gelben Drachenaugen genügte, und er sank mit einem leisen Wimmern in Ohnmacht.

***

Durch das Fenster starrte Daena den Drachen mit unverhohlener Missgunst an. Das lag weniger an seiner schuppigen Natur – dem Lindwurm Ozlakzbrat gegenüber hatte sie schließlich eine tiefe Freundschaft empfunden. Doch Lrartsnjoks Anwesenheit beschwor eine ungute Vorahnung in ihr herauf, die sie nicht abschütteln konnte, seit er sich als ihr neuer Schützling vorgestellt hatte.

Die mythischen Wesen bevorzugten, unter sich zu bleiben. Dass sie eines ihrer Jungen fortschickten, um die Wege der Menschen zu erlernen, bedeutete für Daena nur eines: Schlechte Zeiten standen bevor.

Lrartsnjok selbst schien sich dessen nicht im Geringsten bewusst zu sein. Für ihn war es das Abenteuer seines Lebens. Was auch immer Berekh in seiner Vergangenheit den Menschen angetan haben mochte – der Begeisterung des Jungdrachen nach zu urteilen hatte es dem Vertrauen der Anderlinge nichts anhaben können. Seine Blicke folgten jeder Bewegung des Heilers mit einer Heldenverehrung, die schon fast an eine Manie grenzte.

Was Daenas Laune nicht gerade besserte.

Natürlich war es ungerecht, Lrartsnjok einen Vorwurf daraus zu machen, dass er nicht Ozlakzbrat war. Aber es fiel schwer, zwischen den beiden keine Vergleiche anzustellen. Selbst Lrartsnjok hatte den Lindwurm freimütig als seinen Onkel bezeichnet – auf physische Verwandtschaft gaben die Drachenartigen offensichtlich wenig. Auf eine spirituelle Art fühlten sie sich alle einer einzigen Familie zugehörig.

Aber während Ozi sich mit Daena gegen die restlichen Menschen in ihrer Truppe verbündet und ihr mit guten Ratschlägen zur Seite gestanden hatte, war sie für Lrartsnjok praktisch nicht existent. Nur ein Anhängsel des großen Magiers.

Seltsamerweise hatte es sie eigentlich nie gestört, wenn sie von den Leuten im Dorf bloß als die Frau des Arztes angesehen wurde. Menschen waren eben anders, sie sahen nur, was sie sehen wollten. Außerdem hatten sie ihre Vergangenheit gegenüber den Nachbarn stets für sich behalten. Daena genoss das einfache Leben, das sie hier gefunden hatten. Und ihren Garten.

Bei dem Gedanken an das zertrampelte Gemüse, das sie so mühevoll aus den winzigen Trieben hatte wachsen lassen, verfinsterte sich ihre Miene noch weiter. Ein bisschen Frieden war eben einfach zu viel verlangt.

Jusek, der Bauer mit dem umgeackerten Fuß, zuckte zusammen, als sie den Verband mit mehr Druck als nötig anlegte. Berekh hatte den Knochen zusammenwachsen lassen und die gefährlichsten Bereiche der Verletzung geheilt. Aus der klaffenden Wunde war ein nicht mehr allzu tiefer Schnitt geworden, der jedoch ohne Zweifel immer noch schmerzhaft war. Besonders unter Daenas zorniger Behandlung.

Doch Jusek biss die Zähne bloß ein wenig fester zusammen und gab keinen Laut von sich. Wie gebannt starrte er aus dem Fenster, obwohl er im Gegensatz zu Daena dafür eine recht verrenkte Haltung einnehmen musste. Seine angstgeweiteten Augen waren starr auf Berekh gerichtet, der dort draußen mit dem jungen Drachen diskutierte und versuchte, ihm zu erklären, weshalb manche Menschen den Anblick von seinesgleichen nicht gewohnt waren. Und dass Menschenbehausungen nun einmal nicht für Wesen seiner Größe konzipiert waren.

»Keine Angst«, brummte Daena unwirsch. »Der beißt schon nicht.«

Sich vor fremden Dingen zu fürchten und dabei die potenzielle Gefahr direkt vor sich außer Acht zu lassen, war einer der ersten Fehler, die den Schülern an der Kämpferakademie ausgetrieben wurden.

»Hä?« Endlich wandte der Bauer seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu, die vor ihm saß und sein Bein versorgte.

»Ich dagegen schon.« Mit einem Ruck zog Daena den fertigen Verband fest.

Während Jusek sich stöhnend zusammenkrümmte und nicht wagte, seinen neuerlich pochenden Fuß zu umfassen, stand Daena auf und klopfte den Staub eines arbeitsreichen Tages von ihrer Schürze ab.

Dann warf sie ihm ein Leinensäckchen mit Weidenrinde in den Schoß. »Gegen die Schmerzen«, erklärte sie trocken.

***

Berekh erwachte, weil er fror. Auch wenn die Tage bereits länger und sonniger wurden – nachts kroch immer noch die Kälte in ihre Hütte und rief ihm die Nachteile eines Körpers aus Fleisch und Blut in Erinnerung.

Sechs Jahre lang war er nichts gewesen als ein lebender Totenschädel, bis ein Zauber der Nekromanten ihm ein zweites Leben ermöglicht hatte. Mittlerweile war er dankbar für diese Entwicklung, aber es gab auch Momente, in denen er seine Entscheidung bereute. Zum Beispiel, wenn er wieder einmal um die Wärme einer Decke betrogen wurde.

Ein Blick zur Seite genügte, um seinen Verdacht zu bestätigen. Daena nahm fast die gesamte Breite des Bettes ein, obwohl sie ihm nicht einmal bis zur Schulter reichte, wenn sie nebeneinander standen. Ihre schmale Gestalt lag großflächig ausgestreckt quer über dem Bett und war unentwirrbar in die gemeinsame Decke gewickelt. Sie so zu sehen, entlockte Berekh immer wieder ein Lächeln.

Zu gut erinnerte er sich daran, wie ihre Nächte vor noch nicht allzu langer Zeit ausgesehen hatten. Als sie sich im Schlaf unbewusst in den hintersten Winkel gepresst hatte, so klein wie nur möglich zusammengekauert, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Zumindest so lange, bis die Albträume sie schreiend auffahren lassen hatten. Ein Andenken an die Jahre, die sie in den Minen der Morochai verbracht hatte.

Er wusste nicht, was dort mit ihr geschehen war. Hatte nie danach gefragt, wie sie überlebt hatte. Aber er brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um sich den Anblick ins Gedächtnis zurückzurufen, den sie geboten hatte, nachdem ihr die Flucht aus den Minen gelungen war: totenbleich, wo sich der Schmutz nicht zu tief in ihre Haut gegraben hatte, um sich einfach abwaschen zu lassen. So abgemagert, dass er jede Rippe zählen konnte. Und eine Angst in den Augen, die durch die roten Furchen in ihrem Gesicht nur noch stärker betont wurde.

Mithilfe seiner Magie hatte er Daena die Narben genommen. Ihre Angstattacken waren schwächer geworden, nachdem sie aufgehört hatte, vor ihnen ans Ende der Welt zu flüchten, und sich der Ursache ihrer Furcht gestellt hatte: den Morochai, die sie bis dahin für unbesiegbar gehalten hatte. Die geballte Macht dieser geflügelten Echsen war in der Schlacht um Rinnval zerschlagen worden. Was von ihnen übrig geblieben war, hatten Kämpfer, Magier und einfache Bürger erbarmungslos verfolgt und ausgemerzt.

Trotzdem hatte es Monate gedauert, bis sich auch Daenas Innerstes sicher genug gefühlt hatte, um im Schlaf loslassen zu können. Selbst wenn Berekh sie beim Einschlafen in den Armen hielt, fand er sie manches Mal am nächsten Morgen in eine Ecke gedrängt. Aber diese Nächte wurden seltener.

Wenn er zu ihrem Seelenfrieden beitragen konnte, indem er unter kalten Füßen litt, war er nur allzu bereit, diese kleine Unannehmlichkeit in Kauf zu nehmen. Die letzten zwei Jahrhunderte lang hatte er nicht einmal Füße besessen, also was sollte es ihn kümmern. Er hatte sich noch immer nicht daran sattgefühlt, wieder zu leben.

Aber dieses Leben hatte seinen Preis. Und noch war die Schuld nicht beglichen.

Leise und ohne Daena zu wecken rollte er sich aus dem Bett. Er fischte auf dem Boden nach seinem Gewand und schlüpfte hinein. Die imposante Robe eines Magiers hatte er längst gegen die schlichten Leinenhosen und Hemden getauscht, die er seinem jetzigen Beruf als Heiler angemessener empfand. Er hegte keine Illusionen darüber, dass ihn die Dörfler trotzdem bereits von Weitem erkannten. Bis nach Wesan hatte sich mittlerweile herumgesprochen, dass der neue Medikus selbst schwerwiegende Verletzungen und Krankheiten behandeln konnte. Berekh bemühte sich zwar stets darum, zu verheimlichen, wie er das eigentlich bewerkstelligte, den Gerüchten konnte das jedoch wenig anhaben. Menschen legten eben Wert auf guten Tratsch, das hatte sich seit seiner Zeit nicht geändert.

Zu seiner Erheiterung hatte Daena etwa zur gleichen Zeit ihre Hosen abgelegt und begonnen, Kleider zu tragen, wie es die Bäuerinnen in der Umgebung taten. Nicht, dass er sich darüber beklagen wollte. Es betonte die weiche und weibliche Seite an ihr, die sie sonst eher verborgen hielt.

Er argwöhnte, dass sie mit diesem Kleiderwechsel nur einen sichtbaren Schlussstrich unter ihr Kämpferdasein setzen wollte, auch wenn sie das vehement bestritt. Sie behauptete, dass es dafür rein praktische Gründe gab. Die Schürze und die versteckten Taschen seien für ihre Arbeit in Garten und Haus von Vorteil.

Das konnte er schwer abstreiten. Es war offensichtlich, wie sehr sie es genoss, Dinge mit ihren eigenen Händen zum Wachsen zu bringen. Berekh musste zugeben, dass sie dafür tatsächlich ein gewisses Gespür entwickelt hatte – im Gegensatz zu ihren Kochkünsten, die bedauerlicherweise seit der Zeit ihrer Wanderschaft keinerlei Verbesserung erahnen ließen. Auf dem verwilderten Stück Land, das zu ihrem Grund gehörte, hatte Daena nach und nach eine Vielzahl von Beeten angelegt. Unter anderem brachte ihr Garten Kräuter hervor, die er in Form von Tinkturen, Salben und Tränken benutzte, sobald Magie für die Heilung nicht von Nöten war.

Er wusste allerdings auch von den Übungen, die sie trotz allem Morgen für Morgen in der Scheune absolviert hatte, aus der jetzt das leise Schnarchen des Drachen zu hören war.

Blieb nur zu hoffen, dass Lrartsnjok seinen Feueratem unter Kontrolle hatte. Wenn er das Frühsommerheu in Brand steckte, das sie dort lagerten, konnte er leicht ihr gesamtes Haus abfackeln. Berekh beschloss, gleich am nächsten Morgen einen Schutzzauber um das Gebälk zu legen. Sie brauchten ihre Scheune noch.

Daena hatte ihre Übungen nicht aufgegeben, und das bewies Berekh, dass sie bereit sein wollte. Offenbar glaubte sie ebenso wenig an den Frieden wie er. Im Gegenzug wusste seine Frau vermutlich längst, dass er manchmal des nächtens verschwand, selbst wenn sie bisher kein Wort darüber verloren hatte.

Er wollte ihr davon erzählen, wollte es wirklich. Aber vor jedem Mal hoffte er, dass es danach nichts mehr zu erzählen gäbe. Dass er seinen Schwur endlich gehalten und der Nekromantin ein Ende gemacht hätte, deren Zauber ihn zurück ins Leben geholt hatte. Doch bis jetzt war er jedes Mal erfolglos zurückgekehrt, und seine Hoffnung wurde immer schwächer – so wie die Gerüchte, denen er folgte, immer vager wurden.

Berekh stieß einen lautlosen Seufzer aus und schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln.

Dann öffnete er mitten in ihrem Schlafgemach ein Portal und trat hindurch.

***

Die Gefahr, dass jemand seine Magie zurückverfolgen und direkt in sein eigenes Haus platzen könnte, hinderte ihn schon lange nicht mehr. Im Gegenteil. Seine Kräfte waren in vollem Ausmaß zurückgekehrt. Sollten seine Feinde dieser provokanten Einladung doch nachkommen. Er würde sie erwarten. Zumindest würde ihm das die mühsame Suche ersparen.

Die Kompression des Portals gab ihn frei, und statt der hölzernen Dielen spürte Berekh kalten Stein unter den Fußsohlen. Noch im selben Augenblick wusste er, dass er auch heute Nacht kein Glück haben würde.

Flechten bedeckten die verwitterten Felsplatten, aus denen der weitläufige Tunnel bestand. Die ehemals mit arkanen Symbolen verzierten Wände waren geborsten, irgendwo sickerte Wasser von der Oberfläche herab und tropfte einen steten Takt ins Leere.

In der Zeit von Berekhs erstem Leben war dieser Ort ein gut besuchtes Heiligtum gewesen, von Priestern und Magiern gleichermaßen geschätzt. Aber Alter und Feuchtigkeit hatten an dem Tempel genagt und die Ausstrahlung von Würde und Kraft, die dieser einst besessen hatte, nahezu restlos verschlungen.

Zeremonien waren hier seit Jahrhunderten nicht mehr abgehalten worden, Studenten und Bibliotheken aus der unterirdischen Anlage verschwunden. So weit Berekhs Geist auch tastete, außer dem üblichen Kleingetier befand sich kein Leben hier unten. Die Ruine war verlassen.

Allerdings noch nicht so lange, wie es den Anschein hatte.

Ein letzter Hauch von Magie hing in der Luft. Schwach und schal, kaum stärker als der Geruch eines vorbeiziehenden Gewitters. Aber er war vorhanden.

Die Nekromanten waren hier gewesen, vor ein paar Wochen noch. Er war ihnen näher gekommen als je zuvor, seit er ihnen nachjagte. Dennoch hätte er seinem Ziel kaum ferner sein können.

Der alte Tempel war sein letzter Hinweis gewesen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin er sich jetzt noch wenden sollte. Wo er noch suchen konnte. Jahrhunderte der Erfahrung. Magie, von der selbst die Ratsältesten nicht einmal zu träumen wagten – und er war am Ende seiner Weisheit angelangt.

Berekh zweifelte nicht daran, dass die Schwarzmagier sich längst von dem Schlag erholt hatten, den er ihnen bei der Schlacht vor Rinnval versetzt hatte. Er konnte das hämische Lachen der schwarzgelockten Äbtissin beinahe hören. Irgendwo hatte sie ihr Gefolge um sich versammelt und verspottete seine Unfähigkeit, sie aufzuspüren. Mit Sicherheit war es keine Angst, die sie an verfallene Orte wie diesen hier trieb. Es waren ihre widernatürlichen Zauber, deren Rückstände er hier immer stärker wahrnahm und die er mittlerweile an sich haften fühlte wie klebrigen Schmutz. Die Nekromanten bereiteten sich auf etwas vor, erprobten neue Wege hinein in die Abgründe dessen, was jenseits des Todes lag. Aber zu welchem Zweck?

Ein kalter Windstoß entfuhr den Untiefen des Gewölbes und trieb ihm den Gestank von verwesendem Fleisch in die Nase. Und noch etwas anderes. Einen Geruch, dem er einst verfallen gewesen war und der ihm jetzt nur noch den Magen umdrehte. Vielleicht existierte er auch nur in seiner Einbildung, doch verwoben mit der erstickenden Ausdünstung von Leichen und Tod roch er den bittersüßen Duft von Krajas Parfum.

Berekh taumelte zurück, von Übelkeit und Erinnerungen überwältigt. Und er tat das Einzige, das ihm im Angesicht seiner eigenen Vergangenheit übrig blieb: Er stürzte durch das Portal und floh.

***

»Oh bei den Göttern, wo kommst du denn her?«

Berekh hatte kaum in seiner Schlafkammer Fuß gefasst, als ihn auch schon Daenas angewidertes Gesicht begrüßte. Zumindest der Teil, der nicht von der Hand verdeckt wurde, die sie auf Mund und Nase presste. Hastig schloss er das Portal hinter seinem Rücken, doch es war zu spät. Der Gestank des Tempels war ihm gefolgt und verpestete das Zimmer.

Als er sich wieder umwandte, war die Müdigkeit in Daenas Augen Argwohn gewichen. Bevor er darüber nachdenken konnte, murmelte Berekh etwas von einem Notfall, zu dem er gerufen worden sei.

Wenn man davon absah, allzu sehr auf Details zu pochen, war das nicht einmal so weit von der Wahrheit entfernt. Noch weniger gelogen waren seine nächsten Worte: »Wie es aussieht, bin ich zu spät gekommen. Ich konnte nichts mehr ausrichten.«

Seine Frau rümpfte die Nase. »Um ein paar Wochen zu spät, so wie du stinkst.« Sie kletterte aus dem Bett und tapste auf nackten Füßen durch das Zimmer. Am Fenster angekommen, schob sie den Riegel zurück und zwängte das Fenster aus seinem leicht verzogenen Holzrahmen, um die frische Morgenluft hereinzulassen. »Da hättest du schon ein Nekromant sein müssen, um mit diesem Patienten noch etwas anfangen zu können.«

Ihre Bemerkung ließ Berekh unwillkürlich zusammenzucken. Zu seinem Glück war Daena noch einen Moment lang von dem Anblick der aufgehenden Sonne abgelenkt, die ihre ersten Strahlen über die Hügel warf. Er hatte sich rasch genug wieder unter Kontrolle, um ihr mit einem ungelenken Schulterzucken zu begegnen, als sie sich wieder umwandte.

Erneut sah er Misstrauen durch ihre Augen huschen, aber sie hakte nicht weiter nach. Was sicherlich auch daran lag, dass mittlerweile ein lautes Schnaufen und Grollen aus dem Schuppen drang.

»Wenn der uns abfackelt …«, schimpfte Daena, packte ihr Überkleid und war aus der Stube gestürmt, noch ehe sie es übergeworfen hatte.

Ihre wütenden Schritte polterten die schmale Treppe hinunter. Erst dann wagte es Berekh – der wahrscheinlich mächtigste wieder lebende Magier, der von vielen nur der Schlächter genannt wurde – den Atem entweichen zu lassen, den er unbewusst angehalten hatte.

***

Warum hatte er ihr nicht die Wahrheit gesagt? All die Zeit hatte er nach einer passenden Gelegenheit gesucht. Also warum griff er nach der erstbesten Ausrede, die ihm einfiel, sobald es dazu kam?

Die Antwort gestand Berekh sich nur ungern ein: Krajas Parfum.

Für dessen Vorhandensein gab es nur zwei denkbare Erklärungen. Erstens: Er hatte sich den Geruch nur eingebildet, was bedeutete, dass er halluzinierte und allmählich den Verstand verlor. Oder zweitens: Kraja hatte ihn absichtlich dort platziert. Und das hätte nur dann einen Zweck besessen, wenn sie nicht bloß damit rechnete, dass jemand ihr und ihren Schwarzmagiern nachspürte, sondern auch ganz genau wusste, wer ihr da folgte. Berekh war sich nicht sicher, welche der beiden Möglichkeiten ihm mehr missfiel.

Eine einzelne, braun getupfte Feder durchbrach seinen Gedankengang. Der Wind trieb sie an ihm vorbei und über den Hof. Ihr Kiel war angesengt.

»Woher hätte ich denn wissen sollen, dass dein Weibchen so an diesen komischen Vögeln hängt?«, kommentierte Lrartsnjok mit niedergeschlagener Stimme seinen Blick. »Ich dachte, das wäre mein Frühstück.«

Wie sollte er dem jungen Drachen erklären, warum Daena beim Anblick dessen, was von ihren Hühnern übrig geblieben war, mit dem Besen auf ihn losgegangen war? Berekh hatte im Moment ganz andere Sorgen. Kindererziehung hatte er eigentlich nicht dazuzählen wollen, und die eines vorlauten Drachenjungen schon gar nicht.

»Du solltest einem Weibchen niemals Futter wegnehmen«, brummte er. »Schon gar nicht, ohne vorher zu fragen.« Und besonders dann nicht, wenn es sich dabei um mein Weibchen handelt.

Alle vier Hennen mitsamt ihrem stolzen Gockel waren in Flammen aufgegangen, und Lrartsnjok hatte seine vor Wut brodelnde Gastgeberin auch noch nach einem Nachschlag gefragt.

»Oh. Sie wollte die Vögel selbst zum Frühstück?« Der Jungdrache sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.

Berekh ersparte sich genauere Erklärungen. »Hat man dir denn nicht beigebracht, dir dein Futter selbst zu jagen?«, fragte er stattdessen.

»Oh … Doch!« Neues Selbstvertrauen durchströmte den Drachen. »Ich werde deinem Weibchen Frühstück bringen!«, rief er entschlossen.

»Ja, mach das.« Das würde Berekh Zeit geben, um über die vergangene Nacht nachzudenken.

Lrartsnjok galoppierte los, um Schwung zu holen. Seine Flügel waren noch nicht kräftig genug, um ihn aus dem Stand hochsteigen zu lassen, aber sein Eifer war entfacht. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schrie Berekh gegen das Trampeln an: »Nichts, was einen Zaun rundherum hat, verstanden?«

»Was ist ein Zaun?«, brüllte Lrartsnjok über seine Schulter zurück, ohne innezuhalten. Ein splitterndes Krachen war die Folge.

»Das, was du gerade umgerannt hast!«

»Ist gut!«

Kopfschüttelnd machte Berekh sich auf den Weg in den Schuppen, um Werkzeug für den demolierten Zaun zu holen. Weitere Katastrophen würden die Laune seines Weibchens nicht gerade verbessern, und Daena schien seit der Ankunft ihres Gastes ohnehin angeschlagen. Außerdem würde ihm die körperliche Arbeit dabei helfen, den Kopf freizubekommen, also sollte er die Reparatur besser gleich vornehmen – bevor Daena den Schaden zu Gesicht bekam.

Sobald er jedoch die Scheunentür öffnete, wurde er angegriffen. Unter hysterischem Gackern und heftigen Flügelschlägen zwängte sich ein Huhn zwischen seinen Beinen hindurch und stürmte auf das Haus zu.

Kein Wunder, dass Lrartsnjok Nachschlag wollte, dachte Berekh. Er hat ja auch eines übersehen.

Der leicht angekokelte Kadaver, den der Drache eine halbe Stunde später in vollem Flug vor ihrer Haustür abwarf, war unmöglich zu identifizieren. Wenn man von der Größe ausging, musste es sich dabei um ein Schaf oder eine Ziege handeln … Doch dann sah Berekh den Lichtfleck, der von etwas im Nacken des Tieres reflektiert wurde. Etwas aus Metall, das verdächtig nach einem Halsband aussah.

Er musste würgen. Dass von dem Ding ein nicht unangenehmer Bratengeruch ausging, der sich kaum von jedem anderen Fleisch unterschied, war dabei nicht gerade hilfreich.

Lrartsnjok landete etwas ungeschickt, dafür mit umso mehr Enthusiasmus. »Kein Zaun, wie versprochen!«, erklärte er stolz.

Wir sind erledigt, dachte Berekh. Fieberhaft überlegte er, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bis Daena merkte, was hier draußen los war. Womit hatte er diese wandelnde geschuppte Katastrophe nur verdient?

Er belegte den Drachen und seine gesamte Rasse in Gedanken noch mit allen unheiligen Namen, da öffnete sich bereits die Tür seiner Hütte.

***

Weibchen, schimpfte Daena stumm in sich hinein. Auch das noch.

Sie ließ das breite Messer erneut auf die Rübe vor sich auf dem Tisch herniedersausen und achtete nicht auf die Gemüsestücke, die sie dadurch auf den Boden beförderte. Dem werde ich schon noch beibringen, wer hier nur das Weibchen ist.

Es war noch nicht allzu lange her, da war sie die Hauptperson in ihrem eigenen Leben gewesen und Berekh das Anhängsel. Er hatte sogar in ihre Tasche gepasst. Aber seit dem Zeitpunkt, als er wieder Fleisch auf die Knochen bekommen hatte, fühlte Daena sich immer weiter an den Rand gedrängt.

Berekh traf die Entscheidungen. Er behielt Geheimnisse für sich, er kannte die Leute, den Weg. Sie war nur noch mitgezogen worden, gebannt von seiner Zielstrebigkeit und seiner Energie. Und sie hatte es genossen, das gab sie durchaus zu. Mit den Entscheidungen auch die Verantwortung abzugeben war ihr mehr als willkommen gewesen. Daena hatte nie über das Schicksal von irgendjemand anderem entscheiden wollen.

Aber unsichtbar war sie verdammt noch einmal auch nicht!

Und auch wenn sie sich des Kämpfens überdrüssig gefühlt hatte, so war das doch zumindest ein Leben gewesen, das ihr einen gewissen Status gegeben hatte. Eine Kämpferin wurde ernst genommen, selbst eine kleine, unscheinbare wie sie. Sogar an Berekhs Seite war sie an der Front geblieben. Die Kriegerin des Zauberers – immer noch eine Person, der man Respekt zollte.

Aber seit sie das Schwert gegen das Küchenmesser getauscht hatte und nur noch Gemüse massakrierte, hatte sich das gründlich geändert. Zugegeben, sie hatte sich in ihre neue Rolle voller Eifer und Freude gestürzt, froh, ihr altes Leben hinter sich zurücklassen zu können. Ein Neubeginn, ein ruhiges Dasein auf eigenem Grund und Boden … Das war es schließlich gewesen, wovon sie geträumt hatte. Aber einmal wahr geworden, zeigte der Traum jetzt seine Schattenseiten.

Vielleicht hätte sie alles einfacher ertragen können, wäre sie nicht die Frau des Wunderheilers gewesen. Daena bezweifelte, dass auch nur ein Einziger im Dorf ihren Namen kannte. Sie war Berekhs Frau. Und eine Zeit lang war das alles gewesen, was sie sein wollte, es hatte ihr vollauf genügt.

Allmählich jedoch verlor sie sich selbst. Sie hätte nie gedacht, dass sie sich ausgerechnet an der Seite des Mannes, den sie aus vollem Herzen liebte, so überflüssig fühlen könnte, so hilflos. So …

Daena stutzte. Wischte über den nassen Fleck, der auf dem Tisch erschienen war, und anschließend über ihre Augen. Was war nur mit ihr los? Es sah ihr nicht ähnlich, so sentimental zu sein. Wütend kämpfte sie weitere Tränen nieder.

Schon seit ein paar Tagen fühlte sie sich innerlich aufgewühlt und reizbar, aber das hier war neu. Sie neigte nicht zum Weinen. Wahrscheinlich war sie unausgeglichen, weil ihr ihre Übungen fehlten, der letzte Halt, der ihr aus ihrer früheren Existenz geblieben war. Nun musste Daena sie unterlassen, weil sich dieses Mistvieh von Drache in ihrer Übungsscheune eingenistet hatte. Und ihre Hühner gefressen hatte.

Oder lag es an Lrartsnjok selbst?

Nein. Seine Bemerkung hatte sie eher wütend gemacht als gekränkt. Und das vielleicht zu Unrecht, wie ihr gerade klar wurde. Hatte Ozlakzbrat ihr nicht einmal erklärt, dass bei den Drachen die Weibchen mit äußerster Vorsicht und Hochachtung behandelt wurden? Oder galt das nur für Lindwürmer? So genau hatte sie nie nachgefragt. Sie hatte gedacht, dazu würde ihnen noch Zeit bleiben. Ein weiterer Irrtum.

Aber wenn es nicht Lrartsnjok war, was hatte sie dann so aus der Fassung gebracht?

Berekhs nächtliches Verschwinden drängte sich ihr wieder auf. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie erwacht war und sich allein in ihrem Bett wiedergefunden hatte. Er versorgte Kranke, ging Magierdingen nach oder tat, die Götter wussten was. Suchte möglicherweise nach Abenteuern, weil auch ihm das Landleben zu langweilig wurde. Abenteuer, von denen er den Geruch von Verwesung zurückbrachte.

Und von Parfum, zischte eine ungebetene Stimme in ihrem Kopf.

Tief in Daenas Bauch krampfte sich etwas zusammen. Sie versuchte noch, sich von diesem inneren Schlag zu erholen, als sie aus dem Augenwinkel etwas am Fenster vorbeifallen sah. Ein dumpfes Plumpsen war die Folge.

»Was zum …«, entfuhr es ihr.

Sie legte Messer und Rüben beiseite und wischte sich geistesabwesend die Hände an der Schürze ab, während sie ein paar Mal tief durchatmete, um sich zu sammeln.

Merkwürdig, dass es ihr nichts ausgemacht hatte, Berekh ihre Schwäche zu zeigen, solange sie sich stark gefühlt hatte. Jetzt war ihr allein der Gedanke daran unangenehm. Sie hatte schließlich keine Sorgen. Der Tod stand nicht mehr an ihrer Schwelle, also gab es auch keine Entschuldigung mehr für ihre Tränen.

Am Weg zur Tür hinaus wäre sie beinahe über Trudi gestürzt. Das letzte verbliebene Huhn hatte an den zu Boden gefallenen Rübenstücken herumgepickt und sich an dem gütlich getan, was eigentlich einmal ein Mittagessen hätte werden sollen. Als Daena das Tier unabsichtlich mit dem Fuß erwischte, stob es laut gackernd auf und lief in die angrenzende Stube.

Daena hatte nicht riskieren wollen, auch noch ihr letztes Flügelvieh an den gefräßigen Drachen zu verlieren, also hatte sie Trudi im Haus Asyl gewährt. Dass das Huhn einen Namen bekommen hatte, war irgendwie nebenbei passiert. Aber wer einen Drachenangriff überlebte, hatte sich Daenas Meinung nach einen Namen verdient.

Sämtliche Gedanken über Trudi und ihre eigenen Sorgen waren wie weggeblasen, sobald sie die Tür öffnete und sah, was sie dort draußen erwartete: ein peinlich berührter Magier, ein vor Stolz zappelnder Jungdrache … und ein verkohlter Haufen Fleisch.

Sie hätte das Halsband nicht gebraucht, um zu erkennen, was Lrartsnjok da erlegt hatte. Der Kopf des Kadavers war ihr zugewandt, und die durch das Feuer verzerrten Gesichtsmuskeln des Tieres gaben den Blick auf das Gebiss frei. Ein Gebiss, das eindeutig zu raubtierhaft war, um irgendetwas zu gehören, das Daena als essbar tituliert hätte.

Größe und Halsband legten darüber hinaus eine eindeutige Identität nahe: Revas, die alte, zottelige Hündin des Schusters, die beinahe blind gewesen war und fast noch schwerhöriger als ihr Herrchen. Jetzt hatte der Schuster in dieser Hinsicht wohl keine Konkurrenz mehr.

Daena fühlte den Zorn in sich aufsteigen. Gut. Mit Wut konnte sie die Welt konfrontieren. Anklagend zeigte sie auf Berekh. »Du«, rief sie, »bekommst dieses Untier unter Kontrolle, oder es setzt etwas!«

Sie hatte gerade noch Zeit, Lrartsnjoks betroffenen Ausdruck zu sehen. Dann legte sich der Wind, der Daena bis dahin davor bewahrt hatte, zu riechen, was von Revas übrig geblieben war. In ihr brodelte Übelkeit hoch. Zitternd warf sie die Tür wieder ins Schloss und lehnte sich gegen das Holz, das sich unangenehm warm in ihrem Rücken anfühlte.

Sie bezwang den Brechreiz.

Den Kampf gegen die Tränen verlor sie. Stumm und heiß brannten sie sich aus ihr heraus.

***

»Ich habe den Hund begraben.«

Berekhs Stimme klang erstaunlich kleinlaut. Trotzdem brachte Daena es nicht über sich, sich zu ihm umzuwenden. Ihr Zorn war verraucht, doch die Tränen hatten sie leer und matt zurückgelassen. Sie fühlte sich erschöpft, als hätte sie gerade eine Schlacht geschlagen – und dabei verloren.

Oder wie nach einem Tag in den Minen, flüsterte die verhasste Stimme in ihr.

Ihre Hand, die bisher beständig den Kochlöffel im Topf gerührt hatte – Gemüsesuppe; nichts, das auch nur entfernt nach Fleisch aussah – erstarrte mitten in der Bewegung. Mühsam zwang sie das Bild zurück in die Vergangenheit und konzentrierte sich auf den Sonnenschein, der durch das Fenster und auf ihre Haut fiel.

Schließlich nickte sie, den Blick weiterhin in den Suppentopf gerichtet.

»Er wird nicht sehr erfreut darüber sein, dass du sein Essen vergräbst.« Sie schaffte es, das Beben aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Eigentlich …« Der Zauberer wurde noch leiser. »Eigentlich hat er für dich gejagt. Er wollte dich beeindrucken.«

Daena seufzte. Auch das noch. Jetzt war es ihre Schuld, dass niemand diesem Biest jemals erklärt hatte, was geeignete Beute war und was er besser nicht anrühren sollte?

»Es kommt nicht wieder vor, versprochen.«

Berekhs Stimme klang näher. Unwillkürlich fingen ihre Hände an zu zittern. Daena straffte die Schultern und begann erneut zu rühren.

»Es war Revas, ist dir das bewusst?«

Einige Atemzüge lang herrschte Schweigen hinter ihr. Dann: »Ich gehe und sage es dem Schuster.«

Jetzt wandte Daena sich doch um und sah ihren Mann mit dem Blick an, den er in so einer Situation verdiente. »Ich gehe.«

Ihr Name war im Dorf weniger bekannt als der seine, an Berekhs Wirkung auf Menschen konnte das jedoch kaum etwas ändern. Sie mochten ihn respektieren, aber er war und blieb ihnen unheimlich. Und sie konnte es ihnen nicht verdenken, wenn sie in seine Augen sah, die ihr magisches Glühen nicht verloren hatten. Auf Außenstehende wirkte es befremdlich, ohne dass sie einen genauen Grund hätten benennen können. Doch Daena kannte ihn besser. Wie in seiner Zeit als Totenschädel verriet es ihr seine tiefsten Emotionen, selbst wenn er seine Gesichtszüge unter Kontrolle hatte.

So sah sie auch jetzt das rote Feuer, das sich mit dem Grün seiner Augen mischte, und erkannte den Schmerz hinter der ernsten Miene. Etwa eine Sekunde lang, ehe seine Hand über ihre zweifellos immer noch geröteten Augen strich und seine Arme sie tröstend umschlossen. Er konnte ihre Gefühle ebensogut erahnen wie sie die seinen.

»Ich versuche gerade, böse auf dich zu sein«, murrte sie gegen seine Brust.

»Dann lass es doch bleiben.«

Als Antwort kniff Daena ihm in die Seiten, bis er lachend ihre Hände fing. Er musste ein wenig in die Knie gehen, um seine Stirn an ihre legen zu können, weil er sich weigerte, seine Umarmung zu lösen. Doch die Mühe schien es wert zu sein. Das Glühen in seinen Augen erlosch.

***

Sie war nach dem Mittagessen aufgebrochen. Zu Fuß, da ihr das weniger aufwändig erschien, als ihren Ackergaul so weit zu putzen, dass man ihn ohne Bedenken reiten konnte. Der befand sich gerade im vorsommerlichen Fellwechsel und haarte, was das Zeug hielt. Was er kompensierte, indem er sich in etwa die gleiche Menge Dreck wieder ins Fell einrubbelte.

Daena besaß nicht genügend Kleider, um es sich leisten zu können, sie durch so einen Ritt zu ruinieren. Und keinesfalls würde sie sich in Hosen im Dorf blicken lassen. Außerdem war der Weg nicht weit.

Aber das Gespräch mit dem Schuster war schwieriger verlaufen, als sie erwartet hatte.

Anfangs hatte er sie nicht richtig verstanden, obwohl sie aus voller Lunge gebrüllt hatte. Ständig wollte er ihr die Füße für neue Schuhe vermessen – rund und rot, wobei Daena keine Vorstellung davon hatte, wie runde Schuhe aussehen sollten. Er beschwichtigte sie jedoch, dass er das schon machen würde.

Erst als sie schon dachte, bald hätte das ganze Dorf gehört, dass sein Hund tot war, begriff der alte Mann endlich, was sie ihm entgegenschrie. Er brach zusammen. Unter Schluchzen wollte er wissen, was denn geschehen sei, und Daena hatte Mühe, an der Geschichte festzuhalten, die sie sich so sorgfältig zurechtgelegt gehabt hatte. Immerhin konnte sie schlecht die Wahrheit erzählen. Bestimmt hatte Jusek bereits herumposaunt, was ihm in der Hütte des Heilers begegnet war. Gerade deshalb brauchte niemand auch noch das Detail zu erfahren, dass eben dieser Drache in den Haustierbeständen wilderte.

Also schilderte sie so überzeugend wie möglich, dass Revas wohl etwas Falsches gefressen hatte und Berekh sie gefunden hatte. Held, der er war, hatte dieser natürlich versucht, das Tier zu retten, aber alle Mühe war vergebens gewesen. Der Zustand des armen Hundes war leider nicht mehr besonders ansehnlich gewesen, weshalb sie ihn in allen Ehren bestattet hatten.

Daena fand, dass sie den schmalen Grat zwischen rücksichtsvoll allgemein gehaltener Auskunft und gerade genügend Ausschmückung, um die Erzählung glaubhaft zu machen, fast ohne Ausrutscher meisterte. Von den Maden hätte sie vielleicht nichts sagen sollen, aber der Schuster hing nun einmal sehr an seiner langjährigen Begleiterin und wollte sie unbedingt bei seinem eigenen Haus begraben. Davon sah er nach dieser Erwähnung ab.

Die folgenden Stunden brachte Daena damit zu, den armen Mann zu trösten und sich Anekdoten aus Revas’ jungen Jahren anzuhören. Als der Schuster die Flasche mit Obstbrand endgültig geleert hatte, die zwischenzeitlich auf dem Tisch erschienen war, hatte er bereits zum mindestens zwölften Mal seufzend erzählt, dass sie eben schon immer ein neugieriges Tier gewesen war. Nie hatte sie die Schnauze voll bekommen, es hatte ja einmal so enden müssen mit ihr. Dann rülpste er noch einmal und knallte mit dem Kopf auf den Tisch.

Daena vergewisserte sich rasch, dass er unverletzt war und sein Schnarchen in regelmäßigen Abständen kam. Dann löschte sie die Kerze, die schon gefährlich weit heruntergebrannt war. Erst da bemerkte Daena die Dämmerung, die durch das Fenster gekrochen kam. Sie hätte doch das Pferd nehmen sollen.

Während sie durch die hereinbrechende Nacht marschierte und auf den Hügel zuhielt, der ihr Haus vom Dorf trennte, grübelte sie über einen Spitznamen, den sie Lrartsnjok verpassen konnte – Drachennamen konnte schließlich kein Mensch aussprechen. Allerdings dachte sie dabei weniger an eine Koseform. Mistdrache und Fresssack waren ihre Favoriten.

Bis sie die Hügelkuppe erreicht hatte, war es bereits endgültig Nacht geworden, und ihre Sinne begannen, Alarm zu läuten. Unter sich konnte sie das Haus ausmachen.

Es war dunkel.

Im Hof leuchteten immer wieder einzelne Flammen auf. Sie erhellten einen verzweifelten Jungdrachen, der mit jedem Schniefen kleine Feuerwolken ausstieß.

So schnell ihre Beine sie trugen, stürzte Daena den Hang hinab.

»Was ist passiert?«, rief sie schon auf halbem Weg.

Doch Lrartsnjok schüttelte nur den eckigen Kopf.

»Wo ist Berekh?«, fuhr sie den Drachen an, sobald sie vor ihm stand. Am Liebsten hätte sie ihn gepackt und gerüttelt, aber dazu war er bedauerlicherweise ein wenig zu groß geraten.

Mit zitternder Kralle deutete Lrartsnjok irgendwo nach rechts. Daena starrte in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen.

»In den Wald?«, hakte sie nach.

Erneut war ein Kopfschütteln die Antwort. »Er hat gesagt, er ist gleich wieder da«, wimmerte der Drache. »Aber er ist überhaupt nicht gleich wieder da, er ist doch sofort nach dir weg!«

»Wohin?« Die Angst schnürte ihr mittlerweile fast die Kehle zu, doch das minderte nicht ihre Lautstärke.

»Durch ein rundes Ding in der Luft …«

Daena stutzte. Berekh hatte ein Portal geöffnet? Wozu? Und wieso hatte er ihr nichts davon gesagt, wenn er doch gleich nach ihr aufgebrochen war?

Mühsam zwang sie sich zur Ruhe. Mit aller Eindringlichkeit fragte sie: »Was hast du in diesem Ding gesehen? Eine Landschaft? Ein Zimmer?«

Hinter den Schlieren und Wirbeln, die alles war, was jemand wie sie in einem Portal erkennen konnte, erhaschten Magiebegabte oft einen Blick auf das andere Ende der Verbindung. Und ein Drache galt doch sicher als magisches Wesen, oder nicht?

Lrartsnjok blinzelte verdutzt. Ein konzentrierter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Eine … Straße … Heißt das so? Viele Häuser links und rechts mit bunten Fenstern und Bildern an den Wänden. Sachen, die sich von allein bewegen. Oh, und leuchtende Dinger in den Bäumen!«

Daena fluchte. Sie kannte nur einen Ort, auf den diese Beschreibung zutraf: Liannon, die Stadt der Magier. Und die schwebte hoch über ihren Köpfen. Irgendwo zwischen Saris im Süden und Zlaival im Norden, vielleicht sogar jenseits der ihr bekannten Welt. Sie könnte sich allerdings auch genauso gut in einer anderen Dimension befinden, soweit es Daena betraf.

Denn ohne Magie führte kein Weg dorthin.

Flammen des Sommers

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