Читать книгу Flammen des Sommers - Madeleine Puljic - Страница 6

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was hatte sich verändert, seit Berehk das letzte Mal hier gewesen war. Die Straßen waren noch dieselben, auch die feindseligen Blicke unterschieden sich nicht von jenen, mit denen man ihn bei früheren Besuchen bedacht hatte. Trotzdem spürte er, dass etwas ganz und gar nicht stimmte in Liannon.

Der Fluss der Magie fühlte sich unnatürlich an, so als würde er in Bahnen gelenkt, für die er nie bestimmt gewesen war. Die Haare an seinen Armen stellten sich auf davon, aber er ließ sich sein Unwohlsein nicht anmerken.

Einmal mehr schlüpfte Berekh in die Rolle des gefürchteten Zauberers und ging erhobenen Hauptes seines Weges. Er tat, als beachtete er die Menschen nicht, stellte sich taub für die Kommentare, die seine unpassende Kleidung provozierte. War das tatsächlich alles, was die anderen Magier so irritierte? Von Zeit zu Zeit hörte er, wie sie die Namen Schlächter und Rinnval flüsterten. Einmal war ihm sogar, als hätte jemand ihn als ein Monstrum bezeichnet. Auch das war nicht neu.

Erst auf dem leeren Platz vor der Bibliothek erkannte Berekh das wahre Ausmaß der Veränderung, die in seiner Abwesenheit stattgefunden hatte: Yiryat, der katzengesichtige Drachenartige, der seit Jahrhunderten den Eingang dieses Wissenszentrums bewacht hatte und dem Berekh sich mehr verbunden fühlte als jedem menschlichen Bewohner Liannons, saß nicht auf seinem Podest. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass Yiryat sich auch nicht auf der Wiese des angrenzenden Parks sonnte.

Einmal darauf aufmerksam geworden, genügte ein mentales Abtasten, um seinen Verdacht zu bestätigen. Der Tatzelwurm befand sich nicht in der Stadt. Und auch sonst war kein einziges mythisches Wesen hier. Nicht einmal ein Irrlicht konnte er aufspüren, obwohl sie normalerweise die Labore in großer Zahl bevölkerten, angezogen von der magiegeladenen Atmosphäre, die dort herrschte.

Das Murmeln hinter Berekh wurde lauter. Beim Anblick des verlassenen Podests hatte er unbewusst innegehalten – die Menge in seinem Rücken jedoch nicht. Allmählich schloss sie zu ihm auf. Mit einem Mal kam er sich ganz und gar nicht mehr wie der gefürchtete Schlächter vor. Er fühlte sich verfolgt.

Berekh versuchte, das Gefühl der Bedrohung abzuschütteln, das ihn allmählich beschlich, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Mit schnellen Schritten, von denen er hoffte, dass sie entschlossen wirkten, legte er den verbleibenden Weg zur Bibliothek zurück.

Er zwängte sich sich durch das schwere Doppelflügeltor. Als das Tor hinter ihm zufiel und ihn in der staubigen Stille der Bücherhallen einschloss, atmete Berekh tief durch. Was stimmte hier nicht? Wieso sollte er sich von ein paar halbstarken Zauberern einschüchtern lassen? Ausgerechnet er? Wenn er wollte, könnte er vermutlich diese ganze dekadente Stadt dem Erdboden gleichmachen, und das im Alleingang. Aber gerade das machte ihr Verhalten so unheimlich.

Wie ein Schwarm Hornissen, der sich bereit für einen Angriff machte.

Was für ein Unsinn, schalt er sich selbst. Er war einer von ihnen. Außerdem war er nur hier, um Informationen auszutauschen, sonst nichts. Ein kurzes Gespräch, und er konnte wieder gehen. Den Rat der Arkanen vor einer möglichen Aktion der Nekromanten warnen und herausfinden, ob sie etwas über deren Verbleib wussten, das war alles.

Vor dem Abendessen würde er wieder zu Hause sein.

***

Der Ältestenrat der Arkanmagier glänzte durch Abwesenheit. Von den dreizehn Ältesten, die traditionsgemäß den Vorsitz der Magiergilde bildeten, fand Berekh gerade einmal vier in der Bibliothek vor. Bei zweien hatte er sich nicht einmal während der Schlacht bei Rinnval die Mühe gemacht, ihre Namen im Gedächtnis zu behalten, die Dritte verachtete er. Also richtete er seine Aufmerksamkeit direkt auf Tosalar, dem er immerhin ein Mindestmaß an Respekt entgegenbrachte.

Das allerdings nicht erwidert zu werden schien.

Der weißhaarige Zauberer fuhr von seinem Pult auf, sobald Berekh durch den Torbogen in den Ratssaal trat. »Was willst du schon wieder hier, In’Jaat?«, fragte er unwirsch.

Berekh grinste. »Immer wieder herzerwärmend, welch freundlicher Empfang einem hier bereitet wird. Ihr rührt mich. Ich hätte nicht gedacht, dass ich euch so fehlen würde.«

Interessant, dachte er und platzierte sich mit einer geringschätzigen Gebärde quer über die gepolsterten Armlehnen eines Lesesessels. Da hatte er geglaubt, innerlich endlich zur Ruhe gekommen zu sein, und dabei genoss er diese Machtspiele der Gilde wie eh und je. Mancher Dinge wurde man eben doch niemals müde.

»Spar dir deine Unhöflichkeiten«, entgegnete Tosalar barsch. »Wieso bist du hier?«

Auch die anderen Magier vernachlässigten mittlerweile ihre Arbeiten. Ihre Bücher lagen vergessen, die Tinte tropfte unbeachtet auf Papier und Boden, während sie ungeniert zu ihm herüberstarrten. Noch beobachteten sie den Disput der beiden Älteren wortlos, doch das ließ sich leicht ändern.

»Brauche ich für meinen Besuch denn einen Grund?« Berekh hob die Augenbrauen. »Ich habe ebenso viel Recht, hier zu sein, wie ihr.«

»Vielleicht in Liannon«, kommentierte eine bissige Frauenstimme, »aber dieser Teil der Bibliothek ist dem Rat vorbehalten. Du hast hier nichts zu suchen!«

Berekh sah die junge Zauberin nicht einmal an. Er hatte gewusst, dass er Marosa mit seiner Bemerkung aus ihrer Starre reißen würde. Es hatte seinen Grund, weshalb er die rothaarige Zauberin selbst dann kaum ernst nehmen konnte, wenn er sich darum bemühte. Was er aus Prinzip nicht tat.

Nein, den Erzmagier zu beobachten war viel aufschlussreicher. Das leichte Zucken, das bei Marosas Ausbruch durch sein Gesicht gefahren war, verschaffte Berekh die Vorfreude des Triumphs. Es verriet ihm, dass Tosalar nur zu gut wusste, was seine ignorante Gefährtin einmal mehr verabsäumt hatte, zu bedenken.

Mit gespieltem Bedauern schüttelte Berekh den Kopf. »Hat sich immer noch niemand gefunden, der dem armen Mädchen das Lesen beibringt? Eine wahre Schande, diese mangelhaften Lehrpläne heutzutage.« Der vor Wut bebenden Magierin zugewandt fügte er hinzu: »Ich war Ratsmitglied, Teuerste. Und da ich weder mein Amt niedergelegt habe noch vom Rat ausgeschlossen wurde, bevor ich das Zeitliche gesegnet habe, bin ich es genau genommen immer noch. Was du natürlich wüsstest, wenn du dir nicht nur die amüsanten Teile meiner Geschichte zu Gemüte geführt hättest.« Er deutete durch das Tor auf die endlosen Reihen von Bücherregalen, die den Hauptteil des Gebäudes einnahmen. »Du kannst es nachlesen, falls jemand die Güte besitzt, dir den eigentlichen Zweck einer Bibliothek zu erklären.«

Tosalar wollte wohl zu Wort kommen, denn er öffnete den Mund. Der beschwichtigende Einwand, den seine Gesten erahnen ließen, blieb jedoch ungehört. Marosa war schneller.

»Die Statuten des Rates wurden sicherlich nicht für solche wie dich geschrieben!«, ereiferte sie sich.

Nun horchte Berekh doch auf. Er fühlte, wie das Feuer durch sein Blut kroch: der wilde Teil seiner Magie, so sehr an seine Emotionen gebunden. Das Erbe seiner dryadischen Vorfahren, das ihm den Zugang zu den Lehren der Arkanen eigentlich hätte verwehren müssen. Aber zu seiner Zeit war das Wissen um die grüne Magie verschollen und vergessen gewesen, und lange Zeit hatte er selbst dazu beigetragen, dass es so geblieben war.

Betont langsam setzte er sich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn auf seine gefalteten Hände. Die Rothaarige begann bereits, sich unter seiner Aufmerksamkeit zu winden. Doch Berekh bohrte seinen Blick unerbittlich weiter in sie.

»Und was genau«, fragte er ruhig und kalt, »verstehst du unter solchen wie mir?«

Einen Moment lang zögerte sie, dann spuckte sie ihm ihre Antwort voller Hass ins Gesicht. »Was du bist, ist unnatürlich!«

Berekh ließ seinen Blick an ihrem magiegeformten Körper auf-und niedergleiten. »Ach was.«

Das belustigte Schnauben der beiden namenlosen Arkanen irritierte ihn kurzfristig. Ihre Anwesenheit hatte er vollkommen vergessen. Wer wählte nur solche persönlichkeitsarmen Langweiler in den Rat?

Marosa dagegen schien ihnen mehr Bedeutung beizumessen. Erneut wollte sie aufbrausen, doch diesmal kam Tosalar ihr zuvor.

»Schluss jetzt, Bredanekh!«

Berekh verzog das Gesicht. Er hasste diesen Namen. Es hatte seinen Grund, weshalb er ihn abgelegt hatte. Zu viel Vergangenheit haftete daran.

Der Ratsälteste schien seine Reaktion jedoch nicht zu bemerken, denn er fuhr ungehindert fort: »Wir wissen, dass du nicht nach Liannon kommst, weil du unsere Gesellschaft schätzt, In’Jaat. Also sag endlich, welche Katastrophe du diesmal anzukündigen hast, und wir bringen es hinter uns.«

Widerwillig musste Berekh sich eingestehen, dass der andere Magier recht hatte. Er steigerte sich in Nichtigkeiten hinein, dabei hatte er dieses Gespräch eigentlich so rasch wie möglich hinter sich bringen wollen. Ein wenig von der Unruhe, die er mithilfe der vertrauten Atmosphäre der Bibliothek abgestreift hatte, kehrte bei dem Gedanken an die Menge vor dem Tor zurück. Augenblicklich wurde er wieder ernst.

Er erhob sich und sah auf Tosalars faltenloses Gesicht hinab. »Unter vier Augen.«

Kurz flackerte Misstrauen im Blick des Arkanen auf. Dennoch nickte er, ohne zu zögern oder den Protest der anderen zu beachten. Berekh folgte ihm in eine enge Studierkammer, in der sich Schriftrollen, Manuskripte und Folianten bis unter die Decke stapelten. Kein Luxuszimmer, sondern ein Arbeitsraum. Das Ratsmitglied rückte in seiner Achtung nach oben. Ein wenig.

***

Als Tosalar die Tür hinter sich ins Schloss drückte, fiel die erzwungene Ruhe augenblicklich von dem Ältesten ab. »Also?«, fragte er.

Berekh registrierte, dass die Hand des Ratsmitgliedes auf der Klinke liegen blieb. Eine sinnlose Geste, hätte er wirklich die Absicht besessen, den Erzmagier auszulöschen. Aber das Leben bestand aus leeren Gesten. Wann hatte jemals eine erhobene Hand ein Schwert aufgehalten? Und trotzdem wanderte sie beim Anblick einer niederschlagenden Waffe unwillkürlich nach oben, so wie die Anwesenheit des Schlächters in Tosalar den Fluchtreflex hervorrief.

Aber sein Kampf lag nicht hier, er war auf der Suche nach einem anderen Gegner.

»Die Schwarzmagier«, konstatierte er.

Tosalar blinzelte ein paar Mal. Dann schüttelte er verwundert den Kopf. »Deine Fehde mit den Nekromanten ist immer noch nicht beigelegt?«

»Eure etwa schon?« Immerhin hätte der Verrat der Nekromanten für sie alle das Ende bedeuten können, als sie bei Rinnval auf der falschen Seite in die Schlacht eingegriffen hatten.

Tosalar zuckte jedoch bloß mit den Schultern. »Es war ein ärgerlicher Umstand, aber so ist das nun einmal im Krieg. Deshalb halten wir uns auch üblicherweise aus so etwas heraus, wie du weißt.«

Der Vorwurf ging nicht ungehört an Berekh vorüber. Er bleckte die Zähne. »Sie werden wieder zuschlagen.«

»Sie sind nicht unser Problem.«

Unversehens fand Berekh sich auf der anderen Seite der Kammer wieder, eine Hand um den Hals des Zauberers gelegt, die andere in Flammen gehüllt, gefährlich nahe an Tosalars Gesicht. »Sag mir, zweifelst du an meiner Magie?«

Kreidebleich versuchte Tosalar, ihn abzuschütteln, doch er kam nicht gegen die magische Klammer an, die sich um seinen Geist gelegt hatte und die nicht arkanen Ursprungs war. Diese Energie war wilder, roh und ungebrochen.

»Nein«, krächzte er.

Berekh drückte noch ein wenig fester zu. »Ich habe die Rückstände ihrer Experimente gespürt. Wenn ich also behaupte, dass ihr Ziel nichts ist, das wir gegen uns gewandt wissen wollen, glaubst du mir?«

Ein Nicken war die Antwort.

»Gut.« Berekh ließ von dem Magier ab, der mit einem Mal trotz seiner edlen und farbenprächtigen Robe aussah wie ein Häufchen Elend. »Ich wollte eigentlich auch nur fragen, ob der Rat etwas über den Verbleib der Schwarzmagier weiß.«

»Wir …« Tosalar musste husten. Mit einer Hand massierte er seinen malträtierten Kehlkopf, ehe er weitersprach. »Wir spionieren anderen Gilden nicht nach.«

»Vielleicht solltet ihr das.«

»Jedenfalls bist du umsonst hier eingedrungen. Wir wissen nicht, wo sie sich aufhalten.«

Das hatte Berekh befürchtet. Dennoch konnte er sich der Enttäuschung nicht erwehren, als er sich abwandte. »Dann danke ich für die Gastfreundschaft. Entschuldige die Unannehmlichkeiten.«

Er griff nach der Klinke, aber zu seiner Überraschung hielt Tosalar ihn zurück.

»Warte! Verrätst du mir nicht, was das für Experimente waren, die du entdeckt hast?«

Berekh stieß ein trockenes Lachen aus. »Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?« Der Erzmagier war fassungslos.

»Ich habe nicht nachgesehen«, erklärte Berekh. Einer spontanen Eingebung folgend fügte er hinzu: »Lust auf einen kleinen Ausflug?«

***

»Irgendetwas ist schiefgegangen.« Daena marschierte den Hof mit energischen Schritten ab, von der Scheune zum Brunnen und wieder zurück, immer an der Hauswand entlang. Sie benötigte das Gefühl des Vorankommens, so imaginär es auch war. Nur so konnte sie nachdenken.

Lrartsnjok dagegen brachte sie dadurch vollends aus der Fassung. Der junge Drache zappelte unruhig von einem Bein auf das andere und folgte jeder ihrer Bewegungen mit dem Kopf. »Er hat gesagt, er ist gleich wieder da«, wiederholte er nervös.

»Aber das ist er nicht, wie man sieht!«, schnauzte Daena zurück. »Und er wäre nicht einfach verschwunden, ohne Bescheid zu geben«, beharrte sie.

Tatsächlich?, fragte die Stimme in ihr. Wie sie dieses Lästermaul mittlerweile verabscheute.

Allein verbrachte Nächte waren eine Sache. Am Morgen war er schließlich immer zurückgewesen. Sollte sie jetzt etwa auch abwarten? Unschlüssig blieb sie stehen.

Reagierte sie wie ein hysterisches Eheweib? Berekh war ein freier Mann … Relativ gesehen. Er konnte gehen, wohin er wollte. Schließlich vertraute sie ihm.

Solange er wieder heimkam.

***

Die beiden Magier verteilten ihre Reisepunkte insgesamt über fünf Königreiche. Abwechselnd beschworen sie ihre Portale, nur um sicherzugehen, dass niemand ihren Weg bis nach Liannon zurückverfolgen konnte. Auf diese Weise dauerte es beinahe eine halbe Stunde, bis sie endlich in den unterirdischen Tempelruinen eintrafen.

Die klamme Luft, die ihnen entgegenschlug, hatte seit Berekhs letztem Besuch an Qualität nicht gerade gewonnen.

»Was ist das für ein Geruch?«, presste Tosalar hervor, einen Ärmel seiner kostbaren Robe vor Nase und Mund gedrückt.

»Der Tod«, antwortete Berekh kalt, obwohl ihm der Gestank nicht weniger zusetzte als seinem Begleiter.

»Nicht die Verwesung«, erboste sich der Erzmagier. »Hältst du mich für weltfremd? Da ist noch etwas anderes.«

»Das meine ich doch.« Also war er nicht der Einzige, der Krajas Parfum roch. Er hatte es sich nicht bloß eingebildet. »Glaube mir, da besteht kein Unterschied.«

Sollte er sich jetzt erleichtert fühlen? In Anbetracht der Tatsache, dass es sich in diesem Fall nur um einen Hinterhalt handeln konnte, in den sie gerade bereitwillig hineinmarschierten, hegte Berekh da seine Zweifel. Wenn der Geruch keine Einbildung war, hatte die Schwarzmagierin ihn bewusst hinterlassen, andernfalls wäre er längst verschwunden.

Aber umzukehren kam nicht in Frage. Was auch immer sie dort unten erwartete, konnte Aufschluss geben über das, was über kurz oder lange über die Welt hereinbrechen würde. Und in dieser Welt lebten nicht nur Freunde, die Berekh inzwischen ans Herz gewachsen waren, sondern auch seine Frau. Also musste er weiter.

Er ließ eine Flamme in seiner Handfläche aufleuchten und sandte sie auf Augenhöhe voraus. Mit vorsichtigen Schritten tastete er sich über die gesprungenen Bodenplatten voran.

Wenn Yiryat in Liannon gewesen wäre, hätte er ihn einfach fragen können und sie hätten sich das ganze Spektakel erspart. Tatzelwürmer wussten Dinge. Berekh hätte sich überhaupt nicht mit dem Rat der Arkangilde abgeben müssen, schließlich hatte sich Yiryat in Liannon aufgehalten, seit Berekh als junger Adept zum ersten Mal in die fliegende Stadt gekommen war. Doch ausgerechnet jetzt war er fort.

Berekh schlug nach einer Spinnwebe, die den halben Gang überspannte und ihm klebrig und staubig über das Gesicht gestreift war.

»Wieso war eigentlich Yiryat nicht in der Stadt?«, fragte er über die Schulter zurück.

Es folgte eine kurze Stille, in der Berekh das Schulterzucken des anderen förmlich hören konnte.

»Wer weiß schon so genau, was in diesen Tieren vorgeht«, antwortete das Ratsmitglied schließlich ohne sonderliches Interesse. »Die Verwandtschaft besuchen oder etwas in der Art.«

Tiere? Berekh stutzte. Kein Magier sprach so von den mythischen Wesen, von einem Tatzelwurm erst recht nicht. Gerade ein Erzmagier sollte mehr Respekt an den Tag legen, wenn es um den Tatzel ging. Berekh wusste das aus Erfahrung.

Im Gehen wandte er sich zu Tosalar um und stellte ohne Verwunderung fest, dass dieser seine Hände sicher in den Ärmeln verstaut hatte und jedem Staubkorn großflächig auswich. Sollten sie hier auf ein ernstes Hindernis stoßen, würde der Älteste sich vermutlich in seiner eigenen Kleidung verheddern und sich auf diese Weise selbst flambieren, bevor eine Falle ihn töten konnte.

Aber wie hatte er sich so treffend ausgedrückt?, dachte Berekh. Das ist nicht mein Problem.

Arroganz kam nun einmal vor dem Malheur. Davon konnte er ein Lied singen.

***

Mit jeder Minute, die verging, wuchs die unheilvolle Vorahnung in Daena, und damit auch ihre Überzeugung, dass sie nicht bis zum Morgen warten durfte. Aber was sollte sie tun?

Sie musterte den jungen Drachen an ihrer Seite. Selbst wenn sie wüsste, wo Liannon zu finden war, seine noch nicht ausgewachsenen Flügel waren nicht in der Lage, sie dorthin zu tragen. Außerdem war die fliegende Stadt gegen Eindringlinge aus der Luft geschützt, und als solche würden sie gelten.

So ungern Daena es sich eingestand – sie war auf Hilfe angewiesen, die sie hier nicht finden würde. Also stürmte sie kurz entschlossen ins Haus. Sie machte sich nicht die Mühe, Licht zu entfachen, den Weg die Treppe hinauf fand sie auch im Dunkeln. In ihrem Schlafzimmer angekommen, holte sie die Truhe unter dem Bett hervor. Gestern noch hatte Daena geglaubt, sie für immer geschlossen zu haben.

Lrartsnjok reagierte ein wenig verstört, als sie in Hosen und Tunika wieder auf den Hof trat, ihrer früher alltäglichen Kriegerkleidung. Der Stoff roch ein wenig muffig, doch das Leder von Hose und Wams war noch so weich und geschmeidig, als hätte sie diese Kleider niemals abgelegt.

Noch misstrauischer wurde der Drache, als er die Waffen sah, die Daena umgeschlungen hatte. Ihr Schwert ruhte an ihrer Hüfte, ein Dolch steckte in ihrem Stiefel und am Rücken trug sie einen gut bestückten Köcher zusammen mit dem dazugehörigen Jagdbogen. Die ärmellose Tunika gab den Blick auf ihre Tätowierung frei. Wenn sie Hilfe anwerben musste, dann als Kämpferin, nicht als einfache Dorfbewohnerin.

»Was hast du vor?«, fragte Lrartsnjok, als sie an ihm vorbei zum Stall ging.

»Ich reite in die Stadt. Vielleicht finde ich dort einen Magier.«

Der Jungdrache sah wenig begeistert aus, folgte ihr jedoch in geringem Abstand. »Meine Familie hat mir eingeschärft, mich von Städten fernzuhalten«, verkündete er in gewichtigem Ton.

Daena warf ihm einen kurzen Blick zu und stemmte sich gegen das Holztor. »Da solltest du auf sie hören«, sagte sie. »Deshalb reite ich auch alleine.«

Sie brauchte nur an Juseks Reaktion auf das Erscheinen des Drachen zu denken. Man konnte sich leicht ausrechnen, welche Wirkung es hätte, mit Lrartsnjok in einer befestigten Stadt wie Wesan aufzutauchen. Aufmerksamkeit würde sie damit zwar erregen, aber wohl kaum von der Art, wie sie es im Augenblick benötigte.

Ihr brauner Wallach war seit dem Morgen nicht sauberer geworden, dafür hatte er sich offensichtlich mit Trudi angefreundet, die es sich auf dem breiten Pferderücken bequem gemacht hatte. Daena hatte nicht einmal gemerkt, dass das Huhn aus dem Haus verschwunden war – soviel zu ihrer gefunden geglaubten Tierliebe. Allerdings war das sicher kein Nachteil, denn Geflügel war bekanntlich nicht gerade das, was man gemeinhin als stubenrein bezeichnete.

Aber ihre Kämpferkleidung hatte schon Schlimmeres durchgestanden, also packte sie den Sattel und stemmte ihn auf das Pferd.

»Alleine?«, fragte Lrartsnjok vom Eingang her. »Ist das eine gute Idee?«

»Ich habe keine Ahnung«, schnauzte Daena zurück. »Ich bin kein Tatzel, dass ich alles wüsste, und ich habe auch gerade keinen parat, den ich fragen könnte!«

Die Ungewissheit, was sie eigentlich tun sollte, nagte an ihren Nerven. Und Nervosität machte sie immer angriffslustig. In diesem Fall auf den ungewollten Gast, der sie mit unnötigen Fragen aufhielt.

Sie zog den Sattelgurt so abrupt fest, dass der Braune unwillig aufstampfte.

»Aber …«, die Stimme des Drachen trug plötzlich einen Hauch von Verzweiflung in sich, »wenn du gehst … Was ist denn dann mit mir?«

Daena hielt inne. Gegen das Dunkel des Nachthimmels sah sie Lrartsnjoks Kopf nur als schwarze Silhouette, doch seine Augen leuchteten golden und rund. Große Tränen quollen daraus hervor und tropften auf den festgetretenen Erdboden.

Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig wegen des Verhaltens, das sie bisher an den Tag gelegt hatte. Egal, was der Drache sonst noch sein mochte, Plagegeist hin oder her, er war vor allem eines: ein Kind, das von zu Hause fortgeschickt worden war. Und seine Gastgeberin hatte ihn nicht gerade freundlich aufgenommen.

Es gelang ihr, ein aufmunterndes Lächeln aufzusetzen. Sie tätschelte seine schuppige Wange. »Du hast die wichtigste Aufgabe überhaupt. Du musst auf den Hof aufpassen! Es muss doch jemand hier sein, wenn Berekh zurückkommt, und ihm sagen, wo ich bin. Sonst laufen wir schließlich aneinander vorbei.«

Lrartsnjok schniefte. »Wirklich?«, fragte er voll neuer Hoffnung.

»Natürlich!«

Daena stieg in den Sattel und winkte dem Drachen noch einmal zu, der seine Brust stolz herausgestreckt hatte und den Blick wachsam über das verlassene Grundstück schweifen ließ. Dann drückte sie dem Braunen die Schenkel in die Flanken und ritt los.

***

Daena war erstaunt, wie gut es sich anfühlte, nach den Monaten der Sesshaftigkeit nun wieder unterwegs zu sein. Die gleichmäßige Bewegung des Pferderückens, die Weite des Sternenhimmels über ihr und vor ihr nichts als die staubige Straße. Nach all der Zeit war sie endlich wieder aktiv, hatte sie ein Ziel vor Augen. Wäre da nicht das Wissen gewesen, welches Ziel das eigentlich war.

Aber auch wenn sie sich an frühere Tage erinnert fühlte, nichts war wie damals. Sie hatte in ihrer Kämpferzeit niemals ein Pferd besessen – was nicht gerade für einen gerechten Lohn sprach. Oft genug hatte sie ihr Leben für ein paar Brotkrumen und ein halbwegs trockenes Lager für die Nacht riskieren müssen. Auf der anderen Seite war sie damals selten allein gereist. Den Großteil ihrer Wanderzeit hatte sie mit Berekh als Begleiter verbracht, ohne jemals zu wissen, wohin ihre Reise sie führen würde.

Vieles hatte sich geändert seit damals, sie selbst am allermeisten. Nie wieder würde sie ihr Leben damit verbringen, vor etwas davonzulaufen. Nie wieder wollte sie einem Feind solche Macht über sich gewähren, indem sie sich von ihrer Angst beherrschen ließ. Und ihre größte Angst bestand im Augenblick darin, ihren Mann zu verlieren. Daher gab es für sie nur einen Weg, und der führte voran.

Umso frustrierender war es, als sie Wesan noch lange vor dem Morgengrauen erreichte und das Stadttor verschlossen vorfand. Der Nachtwächter öffnete die kleine Luke im Tor gerade weit genug, um sie zu informieren, dass das auch so bleiben würde.

»Scher dich fort!«, bekam Daena zu hören. »Städtische Öffnungszeiten von Sonnenauf-bis -untergang. Komm wieder, wenn es hell ist.«

»Bist du blind? Das ist der Wappengreif der Kämpferakademie auf meinem Arm, also mach das Tor auf!«

»Da könnte ja jeder kommen! Ob du da einen Greif oder den Hintern des Königs aufgemalt hast, das ist mir gleich. Hier wird keine Ausnahme gemacht, für dahergelaufene Leute welchen Berufs auch immer.«

»Aber es sind noch Stunden, bis die Sonne aufgeht!«

»Na und? Das hättest du dir eben überlegen sollen, bevor du hier angeklopft hast. Dort drüben ist eine Herberge. Gesell dich zu den anderen Streunern. Gute Nacht!« Mit diesen Worten klappte er die Luke wieder zu.

Sie hätte ihn bestechen können. Eine Flasche Schnaps oder ein paar Münzen wären vermutlich alles gewesen, was er verlangt hätte. Aber der Markt hatte zu so später Stunde ohnehin nicht geöffnet, also hätte sie dadurch wenig gewonnen. Ihr Geld sparte sie sich lieber für einen Magier auf, der würde teuer genug werden.

Falls sie überhaupt einen finden konnte. Immerhin hatte Berekh sich für diese Gegend entschieden, weil Wesan weitab von all den königlichen Hauptstädten lag, in die es gewöhnliche Zauberer üblicherweise zog.

Statt in die Schenke einzukehren, suchte sie sich deshalb ein bequemes Fleckchen Wiese an der Stadtmauer, von wo aus sie das Tor im Blick behalten konnte. Das Schwert platzierte sie gut sichtbar auf ihren Knien, um aufdringliche Wegelagerer und übermütige Trunkenbolde aus besagtem Wirtshaus abzuhalten. Anschließend übte sie sich in Geduld.

***

Ohne ersichtlichen Grund war Berekhs Flamme mitten in dem unterirdischen Gang einfach stehengeblieben und hatte sich nicht dazu bringen lassen, weiterzuschweben. Unter Tosalars amüsiertem Blick hatte Berekh sie wieder auf die Hand genommen und versucht, sich seinen Ärger darüber nicht anmerken zu lassen.

Das war der Moment gewesen, in dem die Schreie begonnen hatten.

Lang gezogen und voller Schmerz drangen sie aus der Tiefe der verfallenen Tempelanlage herauf.

»Was war das?« Die Belustigung war schlagartig aus dem Gesicht des Erzmagiers verschwunden. »Hast du nicht gesagt, hier ist niemand?«

Berekh hatte noch einmal seinen mentalen Tastsinn ausgesandt, doch das Ergebnis war dasselbe geblieben wie bei seinem ersten Besuch: nichts. Wer auch immer da Qualen gelitten hatte, war längst fort. Also waren sie weitergegangen.

Mittlerweile verfolgten die Stimmen sie schon eine gefühlte Ewigkeit. Sie weinten, flehten um Erlösung, schrien voller Verzweiflung und Angst, kamen jedoch niemals näher, egal wie weit die beiden Zauberer in die unterirdische Ruine hinabstiegen.

Jetzt, wo Berekh darüber nachdachte, fragte er sich, ob sie jemals unten ankommen würden. Als der Tempel noch seinem eigentlichen Zweck gedient hatte, war er nie in die heiligen Hallen vorgedrungen, die sich irgendwo dort unten verbergen mussten. Geistesabwesend schlug er mit seiner freien Hand nach einer Spinnwebe, die den halben Gang überspannte und ihm klebrig und staubig über das Gesicht gestreift war.

Ähnliche Gedanken bewegten wohl auch seinen Begleiter. »Wenn ich daran denke, dass wir den ganzen Weg auch wieder zurückgehen müssen …«, sagte Tosalar und stöhnte.

Berekh stutzte. Langsam hob er die Hand in das Licht der magischen Flamme und betrachtete sie.

»So weit werden wir nicht gehen müssen«, murmelte er. Innerlich verfluchte er seine eigene Blindheit. Diese Spinnwebe hatte er jetzt mindestens zum fünften Mal beiseite gewischt.

»Was soll das heißen?«

»Wir gehen im Kreis.«

»Im Kreis? Wir sind an keiner einzigen Abzweigung vorbeigekommen!«

»So ist es.« Berekh legte seine Finger an die Wand, nur um sie sogleich wieder angeekelt zurückzuziehen. Pure schwarze Magie pulsierte unter dem Stein, formte und verformte ihn.

»Es ist ein Labyrinth.« Das war keine Schlussfolgerung, die ihn begeisterte.

Ein magisches Labyrinth war einfach zu durchqueren für jene, die es kannten. Für alle anderen war es ein Hinterhalt, der leicht tödlich enden konnte. Es wiederholte sich ins Unendliche, ohne jemals irgendwo hinzuführen.

Wer konnte schon ahnen, was im Kopf des Nekromanten vorgegangen war, der dieses Exemplar ersonnen hatte?

»Na großartig«, kommentierte Tosalar wenig hilfreich. »Also müssen wir den richtigen Schlüssel finden, um es zu deaktivieren?« Er sandte einen Blitzzauber aus, der irgendwo in der Finsternis des Tunnels vor ihnen verschwand und nicht die geringste Wirkung zeigte. »Das war es nicht.«

»Ich glaube nicht, dass ein Zauber der Schlüssel ist. Das wäre zu gewöhnlich.«

Der Erzmagier schnaubte. Auch Berekhs finsterer Blick schüchterte ihn nicht ein. »Du beharrst doch auf deinem Ruf als allmächtiger Zauberer. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, es zu beweisen.«

Berekh brummte unwillig, aber seine Gedanken rasten bereits. Was konnten die Nekromanten als Schlüssel festgelegt haben? Es konnte so gut wie alles sein. Ein Geräusch, eine Handlung, ein Gefühl … Währenddessen hörte Tosalar nicht auf, mit Zaubern um sich zu werfen, und der unentrinnbare Gestank begünstigte auch nicht gerade Berekhs Denkvermögen. Tod, Magie … und Krajas Parfum, das wie ein wurmartiger Parasit immer wieder aufs Neue in seine Nase kroch, selbst wenn er es zwischendurch verdrängte.

»Das ist es«, stieß er aus und griff nach dem Arm des Arkanen.

»Was ist was?«

Tosalar versuchte, sich loszumachen, doch Berekh packte ihn noch fester. »Sei still!«

Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, die Gegenwart auszublenden. In seiner Bemühung, die Schwarzmagier nicht zu unterschätzen, hatte er ihre größte Schwäche völlig außer Acht gelassen: die Selbstverliebtheit ihrer Äbtissin.

Mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte, beschwor Berekh im Geiste seine Vergangenheit herauf. Er wischte die Jahrhunderte beiseite, die er tot im Grab gelegen hatte, versetzte sich zurück in eine Zeit, in der er sich seinen Namen als Schlächter gemacht hatte – und stolz darauf gewesen war. In die Zeit, als er Krajas Bett und Ambitionen geteilt und sie sich gegenseitig zu immer größeren Wahnsinnstaten angestachelt hatten.

Es kostete ihn große Überwindung, in seine eigene Gedankenwelt zurückzufinden. Sobald ihm das jedoch einmal gelungen war, fiel es erschreckend leicht, noch einmal die alte Ehrerbietung heraufzubeschwören. Sie war nicht weniger Illusion als der Zauber um ihn herum, denn ergeben hatte er sich Kraja nie. Aber Aufrichtigkeit war es auch nicht, was sie von ihrem Umfeld erwartete. Es genügte, ihr überzeugend genug zu huldigen.

Er musste nicht erst Tosalar nach Luft schnappen hören, um zu wissen, dass er den Schlüssel gefunden hatte. Der wirkliche Gang lag jetzt vor ihnen. Berekh war bloß nicht auf den Anblick gefasst, der sich ihm bot, als er die Augen wieder öffnete.

Seine Flamme hatte sich wieder auf den Weg gemacht, der ihr vorhin verwehrt gewesen war. Sie verharrte gut zwei Dutzend Schritte vor ihnen und wartete auf sie.

Ihr Licht erhellte zwei nackte, blutige Beine. Der zerschundene Körper, der sich im Schatten dahinter abzeichnete, kam ihm nur allzu bekannt vor. Noch am Morgen hatte er mit dieser Frau das Bett geteilt.

***

Kaum schob die Stadtwache das massive Tor auf, zwängte Daena sich auch schon hindurch, ihren Braunen am Zügel führend. Die unbeschlagenen Hufe des Wallachs klapperten hohl auf den groben Pflastersteinen, die die Hauptstraße befestigten.

Überrascht musste sie feststellen, dass sie das frühe Treiben der Stadt unterschätzt hatte. Vielleicht war sie derartigen Trubel auch einfach nicht mehr gewohnt, ihr Dorf zählte kaum zwei Dutzend Häuser. Mit dem Pferd gab es jedenfalls kein Durchkommen, also band sie es kurzerhand an der nächsten Schenke an und zwängte sich allein durch die Menge, indem sie sich mit Schultern und Ellbogen einen Pfad zum Marktplatz erkämpfte.

Händler, Bauern und Handwerker boten lautstark ihre Ware feil, wobei sie versuchten, einander zu übertönen, um die vorbeiströmenden Kunden von den unmöglichsten Behauptungen zu überzeugen. Daena schenkte ihnen keine Beachtung, obwohl es sie einige Mühe kostete. Seit dem frühen und zugegebenermaßen kargen Abendessen vom vergangenen Nachmittag hatte sie nichts mehr zu sich genommen.

In ihrer Zeit als Kämpferin war sie daran gewöhnt gewesen, oft tagelang mit den kleinsten Rationen auszukommen, doch das ruhige Landleben hatte sie verweichlicht. Ihr Magen knurrte bei all den Düften, die ihr hier in die Nase stiegen. Frisches Brot, geräuchertes Fleisch und Käse mischten sich mit den geheimnisvollen Gerüchen der exotischeren Waren und teuren Gewürze. Aber zu ihrem Glück auch mit dem von Pferdemist und der Gülle, die reichlich in der Gosse schwamm, sodass ihr Hunger nicht allzu sehr angestachelt wurde.

Über die Köpfe der plappernden und feilschenden Städter hinweg erspähte sie schließlich eines der bunten Zelte, nach denen sie Ausschau gehalten hatte. Die grünen und blauen Stoffbahnen bildeten ein spitzes Dach, das zusätzlich mit wehenden Wimpeln geschmückt war und förmlich das Wort Zauberer hinausposaunte.

Sie schlug die Plane am Eingang beiseite, duckte sich hindurch und trat in das düstere Zwielicht des Zeltes.

***

Daenas lebloser Körper lag verrenkt an die Steinmauer gelehnt. Blut quoll aus zahllosen Wunden und bedeckte ihre Blöße notdürftig. Ihre glasigen Augen sahen starr an Berekh vorbei. Er wartete auf den Schmerz, auf die Leere. Auf die wilde Flamme, die ihn von innen verzehren und den Verlust aus ihm herausbrennen würde.

Aber all das blieb aus. Er fühlte sich wie immer.

»Oh Götter, nein«, schrie Tosalar hinter ihm auf.

Eine Sekunde lang war Berekh verwirrt. Dann packte er den Erzmagier, der an ihm vorbeitaumeln wollte, am Kragen seiner Robe und riss ihn grob zurück. Was auch immer der andere dort im Tunnel sah, es konnte nicht Daena sein, die ihn so reagieren ließ.

Berekhs Verstand holte endlich zu der Erkenntnis auf, die seine Magie bereits von Anfang an versucht hatte, ihm mitzuteilen: Daena war wohlauf. Vor ihm befand sich nicht ihr Leichnam, sondern eine Falle. Die Illusion eines geliebten Menschen, die jeden Nekromanten kalt gelassen hätte. Sie war nur für Eindringlinge wie sie bestimmt.

»Lass mich!« Mit aller Macht versuchte Tosalar, von Berekh loszukommen und zu der Illusion zu stürzen. »Du hast ja keine Ahnung …«

Berekh warf ihn nieder. In derselben Bewegung hob er einen der Steine auf, die aus der Tunnelwand gebrochen waren, und warf ihn zu dem, was für ihn immer noch nach seiner Frau aussah.

Der Stein berührte sie nicht.

Einen halben Meter vor ihr brach er noch im Flug in Flammen aus und verglühte innerhalb eines Augenblicks. Er hatte nicht einmal die Gelegenheit, zu Boden zu fallen. Im selben Moment erlosch die Illusion. Vor ihnen lag wieder nur der leere, verfallene Weg, der hinab in den Tempel führte.

Tosalar atmete einige Male hörbar durch. Er erhob sich, klopfte mit angewidertem Gesichtsausdruck den Schmutz von seiner Robe und sah Berekh widerwillig an. »Allmählich habe ich den Eindruck, du kennst den Weg hier zu gut für jemanden, der behauptet, bisher keinen Fuß hier heruntergesetzt zu haben.«

Berekh runzelte die Stirn. »Ach, zu allem anderen, was mir bereits vorgehalten wird, willst du mir jetzt auch noch unterstellen, ein Nekromant zu sein?«

»Willst du etwa leugnen, dass du verdächtig gut über schwarze Magie Bescheid weißt?«, entgegnete der Erzmagier. »Jemand, der so besessen war von Macht wie du, soll ausgerechnet dieser Versuchung widerstanden haben? Ich bin nicht naiv.«

»Dann solltest du solche Behauptungen lieber unterlassen«, brachte Berekh ihn ungehalten zum Schweigen. »Besonders an einem Ort wie diesem.« Hier wurden ohnehin schon zu viele unerwünschte Erinnerungen heraufbeschworen.

Und Tosalars Anschuldigungen kamen der Wahrheit für seinen Geschmack viel zu nahe.

***

Räucherwerk und Kerzen machten das ohnehin muffige Innere des Zeltes heiß und stickig. Der Rauch brannte Daena in den Augen und kratzte in ihrem Hals. Ehe sie sich in dem Halbdunkel orientieren konnte, drang eine krächzende Stimme an ihr Ohr.

»Willst du dein Schicksal erfahren, Kämpferin? Welche Schlachten du schlagen und welche Bestien du besiegen wirst?«

»Äh … Danke, aber ich glaube, das ist nicht nötig.«

War sie etwa in das Zelt eines Wahrsagers gestolpert? Dann würde sie hier wohl kaum einen Magier finden, der sie nach Liannon bringen konnte. Sie glaubte nicht an solchen Humbug wie das Lesen aus Händen, Karten oder Kristallkugeln. Niemand konnte die Zukunft vorhersehen, nicht einmal ein Tatzelwurm. Die katzenartigen Drachen sahen nur mehr von der Gegenwart als andere und zogen ihre Schlüsse daraus. Meistens die richtigen.

Bei Menschen, die behaupteten, mehr zu wissen als ein mythisches Wesen, glaubte Daena nur an eines: Betrug.

»Sind es düsterere Gedanken, die dich herführen?«, fuhr die heisere Stimme fort. »Soll ich dir von dem Ende erzählen, das du einmal finden wirst, und wie dein Name in Erinnerung bleiben wird?«

»Nein, danke.« Daenas Finger streiften über den Stoff und tasteten nach dem Eingang, der sich eigentlich direkt hinter ihr befunden hatte.

»Ah, ich sehe schon«, fuhr die knarzende Stimme fort. »Nach Ruhm brauchst du nicht mehr zu streben, nicht wahr, Daena? Dann ist es vielleicht die Liebe, die dich hergeführt hat?«

Erschrocken fuhr sie herum. Sie starrte auf die kleine Gestalt, die ihr aus der Dunkelheit des Zelts entgegenhumpelte. Der Stimme nach hatte Daena eigentlich einen Mann erwartet, doch zu ihrer Überraschung fand sie stattdessen ein grauhaariges, gebücktes Weiblein vor sich. Runzeln bedeckten ihr Gesicht. So viele, dass sie alt genug schien, um schon gelebt zu haben, als die Götter noch auf der Erde gewandelt waren. Ihr zahnloser Kiefer schob etwas im Mund herum, das nach einem Stück Apfel aussah.

»Wenn du über all das Bescheid wissen willst, wieso kennst du dann nicht auch die Antwort auf deine Fragen?«

Das Weiblein lächelte gutmütig und schwieg. Umso besser. Daena hatte keine Zeit für diesen Unfug.

»Ich habe mich nur im Zelt geirrt«, sagte sie. »Verzeih die Störung, aber ich benötige deine Hilfe nicht.« Daenas Hand glitt in einen Spalt. Kühle Morgenluft drang herein. Sie hatte den Eingang gefunden.

»Wie du meinst.« Die Alte spuckte den Apfel aus. »Einen Rat möchte ich dir trotzdem mit auf den Weg geben, Kriegerin.«

Daena wollte die alte Frau ignorieren und so schnell wie möglich aus dem erstickenden Zwielicht fliehen, aber etwas hielt sie zurück. Vielleicht der leise Zweifel, der ihr gekommen war, als die Alte sie beim Namen genannt hatte. Natürlich war dieser nicht schwer zu erraten für jemanden, der sich über das weltliche Geschehen informierte. So viele weibliche Absolventen besaß die Kämpferakademie nicht, und Rinnval hatte ihr tatsächlich einen gewissen Ruhm beschert. Die Vergangenheit hatte Daena jedoch gelehrt, dass es weit mehr in dieser Welt gab, als sie jemals begreifen konnte. Mit jedem Geheimnis, das sie aufdeckte, fand sie unzählige neue.

Also wandte sie sich wieder um und forderte die Wahrsagerin mit einer Handbewegung auf, fortzufahren.

»Was du zu suchen glaubst, wirst du hier nicht finden.«

»Tja, gut zu wissen.« Wirklich sehr hilfreich. Daena kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu verdrehen. Die Alte tat das alles schließlich auch nur, um sich eine Handvoll Münzen für ein regelmäßiges Abendbrot zu verdienen. Andererseits hätte sie sicherlich auch ein ehrlicheres Handwerk finden können.

»Aber was du vermeidest, erwartet dich beim südlichen Brunnen.«

Noch so eine leere Floskel. »Wie kommst du auf den Gedanken, ich würde etwas vermeiden?«

Das Weiblein machte nur ein unbestimmtes Geräusch. Es zuckte mit den Schultern und begann, sich wieder ihrem sogar für Daenas Laienaugen vollkommen unmagischem Tand zuzuwenden.

Missmutig schlug Daena nach dem Zeltstoff und stapfte hinaus. Sie hatte hier drinnen ohnehin bereits mehr Zeit vergeudet, als sie beabsichtigt hatte.

***

Je weiter sie kamen, desto schlimmer wurde der Gestank. Was auch immer dort verweste, konnte nicht mehr weit entfernt sein. Oder es war größer, als Berekh befürchtet hatte. Zu gut erinnerte er sich an die teilweise gigantischen Schädel, die er in dem sumpfigen Unterschlupf der Nekromanten gesehen hatte – aufgestapelt in der Kammer, in der er Daena nach seiner Wiederbelebung vorgefunden hatte. Wenn er sich recht erinnerte, war sogar ein Troll darunter gewesen, und die rochen bereits lebendig nicht besonders gut. Tot mochten sie in etwa dem entsprechen, was ihnen hier entgegenwallte.

Irgendwo vor ihnen war ein stetes Pochen zu hören, das allmählich lauter wurde. Mit jedem Mal jagte es ihm aufs Neue eisige Schauer über den Rücken.

Dann endlich fiel das Licht seiner Flamme auf etwas anderes als behauene Steinquader.

»Hier sind Türen«, flüsterte Berekh seinem Begleiter zu.

»Welche nehmen wir?«, wisperte Tosalar ebenso leise zurück.

Die unheimliche Atmosphäre hatte begonnen, ihre Wirkung zu zeigen, doch keiner von ihnen wollte derjenige sein, der sich diese Tatsache als Erster eingestand.

Es hätte auch nichts geändert, sie konnten nicht zurück. Nicht so knapp vor dem Ziel. Berekh musste wissen, womit die Nekromanten experimentierten, wenn er sie aufhalten wollte. Er schätzte, dass Tosalar einfach aus sturer Selbstgefälligkeit bei ihm blieb, weil er Berekh in nichts nachstehen wollte.

»Eine nach der anderen«, antwortete er deshalb leise.

Tür für Tür öffneten sie und lugten hinein. Hinter jeder fanden sie das Gleiche: enge Kammern, sauber und leer. Der Staub war in diesem Abschnitt verschwunden. Offenbar war er bis vor Kurzem noch genutzt worden, vermutlich als Schlafbereich. Von den Besuchern war nichts zurückgeblieben.

Das änderte sich schlagartig, als sie auf das Flügeltor stießen, das in die Haupthalle führte. Mit einem Mal wurde der Leichengestank überwältigend. Und hier fanden sie auch endlich den Grund dafür.

Was ursprünglich einmal ein großer, kreisförmiger Gebetsraum gewesen sein musste, war auf obszöne Weise entweiht worden. Blut hatte den Boden getränkt und war zu einer braunen Kruste getrocknet, die die alten Mosaike überdeckte. Körperteile lagen wild verstreut und stapelten sich an den Wänden hoch. Keines davon war menschlich.

Voller Grauen sah Berekh sich um. Die Knochen von Anderlingen, die er in ihrem letzten Unterschlupf gesehen hatte, hatten den Nekromanten offensichtlich nicht mehr gereicht. Sie hatten mythische Wesen aller Arten abgeschlachtet und für ihre Experimente missbraucht. Der abgetrennte Kopf eines Basilisken lag inmitten der Gliedmaßen von Vampiren, Einhörnern, Kobolden und den großschuppigen Überresten eines Drachenartigen. Nahe dem Eingang stieß Berekh auf einen kleinen Haufen Steine, der wohl einmal ein Erdgeist gewesen war. Überall in der Kammer mischten sich Fell, Haut und Knochen zu undefinierbareren Fleischbergen.

»Warum sind hier keine Fliegen?« Tosalars Stimme riss Berekh aus seinem Schock.

»Es gibt kein Leben hier unten.« Berekh starrte gebannt auf das grauenhafte Bild vor sich, unfähig, den Blick abzuwenden.

»Und was ist dann das?« Der Erzmagier deutete auf die andere Seite des Raumes. Aus einer Nische drang das gleichmäßige Klopfen, das sie hergelotst hatte. In den Schatten war eine Bewegung zu sehen, die sich im selben Takt wiederholte.

***

Auf dem Hauptplatz befanden sich noch zwei weitere Zelte, die Daenas Vorstellungen eines Magiermarktstandes nahekamen. Vor dem ersten kündigte ein Schild Wundermittel für Haarwuchs, Schönheit und Potenz an, was ihr nicht sehr arkan anmutete.

Das zweite Zelt stand weit offen und stellte bemalte Harnische und prunkvolle Rüstungen zur Schau – ein Plattenschmied. Offensichtlich zielte er auf eine gehobenere Käuferschicht ab, als um diese frühe Stunde hier anzutreffen war, denn er starrte entsprechend gelangweilt durch die Gegend. Daenas Auftauchen weckte kurzfristig sein Interesse, aber ein sachkundiger Blick über ihre einfache Kleidung genügte, um es verschwinden zu lassen, noch ehe sie sich enttäuscht von seinem Zelt abgewandt hatte.

Das Glück war eindeutig nicht auf ihrer Seite. Wenn auf dem Markt kein fahrender Zauberer zu finden war, würde die Sache teuer werden. Sie musste sich von den Schenken und Herbergen hinaufarbeiten und hoffen, dort fündig zu werden. Einen Magier, der bei irgendwelchen Herrschaften gastierte, würde ihr Geldbeutel nicht bezahlen können.

Ziellos und hungrig kämpfte sie sich einen Weg über den Platz. Das Wogen der Menschenmenge wurde zusehends stärker. Daena wurde an eine niedrige Mauer gedrängt und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Eine Hand an die steinerne Umrandung gedrückt, fluchte sie laut und ungeniert. Jemand hatte sie direkt an einen Brunnen geschubst, und um ein Haar wäre sie hineingestürzt.

Daena ließ ihren Blick über den Markt schweifen und korrigierte ihre Feststellung. Jemand hatte sie an den Südbrunnen geschubst, wo das auf sie wartete, was sie zu vermeiden suchte.

Unwillig schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit die dummen Gedanken vertreiben. Gut, sie hatte nicht gefunden, weshalb sie gekommen war. Die Alte hatte gut geraten, das war alles. Wahrscheinlich hatte sie einfach einen logischen Schluss gezogen, wofür Daena ihr geheimnisvolles Zelt gehalten haben mochte.

Aber es gab keine Prophezeiungen und nichts, vor dem sie davonlief. Um sich das zu beweisen, wandte Daena sich um und drängte sich an die Tische und Wagen rund um den Brunnen. Suchend ließ sie ihren Blick über die angebotenen Waren gleiten. Getöpfertes Geschirr, Schnitzereien aus Holz und Horn. Nichts davon kam ihr vertraut oder gar bedrohlich vor. Nichts, was sie hätte meiden müssen.

Dann sah sie die Amulette.

Unwillkürlich griffen ihre Finger danach, tasteten über die groben Runen, die darin eingeritzt waren, fühlten die Wärme, die von manchen ausging. Sie waren aus allen nur erdenklichen Materialien gefertigt, manche nicht mehr als unförmige Steine, die jemand mit einer harzigen Farbe bemalt hatte. Dennoch kamen sie ihr nur allzu bekannt vor.

»Na Mädel, brauchst du ein wenig Schutz?«

Die Stimme des Händlers fuhr ihr durch Mark und Bein. Sie zuckte zurück, als hätte sie sich an den Amuletten die Finger versengt.

»Verständlich, wenn man Angst hat«, erklärte er. »Gerade in der heutigen Zeit.«

Endlich wagte Daena, dem Mann ins Gesicht zu sehen. Das schiefe Grinsen des Händlers präsentierte gelbfleckige Zähne zwischen grauen Bartstoppeln. Über seine Wange zog sich eine gezackte Narbe, die bis über den Hals hinunterreichte.

Er schwenkte die schwieligen Hände mit einer einladenden Geste über seine Waren. »Ich habe Schutzzauber für alles, was du willst, Herzchen.« Er zwinkerte ihr zu.

Daena zögerte keine Sekunde länger. Mit gefletschten Zähnen zog sie ihr Schwert, hechtete über den Tisch und ging auf ihn los.

***

Was in der Nische klopfte, trug kein Leben in sich. Die Augen des Zlaiku waren milchig und leer, das kleine Bärengesicht war halb verrottet. Trotzdem bewegte sich seine Hand unablässig und zog dabei an der eisernen Fessel, die um das knochige Handgelenk geschlungen war. Sobald das Ende der Kette erreicht war, fiel sie kraftlos zurück und schlug dabei gegen die Wand.

»Der gibt nicht auf«, bemerkte Tosalar ohne das geringste Anzeichen von Mitgefühl.

Berekh sah ihn kalt an. »Er kann nicht. Es ist nicht sein Wille, der ihn hier festhält.«

Zorn brodelte in ihm. Alles hier fühlte sich falsch und verdorben an, und dieses arme untote Ding war mehr, als er dulden konnte. Die kleinen Bärenwesen hatten wahrlich niemandem etwas zuleide getan. Es wurde Zeit, dass er dem Treiben der Nekromanten endgültig ein Ende bereitete.

»Wir haben genug gesehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete Berekh ein Portal direkt hinter sich. »Geh.«

»Was bildest du dir ein? Du hast mir nichts vorzuschreiben!«

»Das war kein Befehl, sondern ein Ratschlag.« Die wilde Magie tobte in Berekh, suchte nach einem Weg hinaus. Er schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück, breitete die Arme aus und sandte die Flammen aus. Mit einem Aufschrei sprang Tosalar durch das Portal.

Berekhs Feuer kroch in den letzten Winkel der unterirdischen Anlage, verzehrte die Überreste der blutigen Experimente und löschte jede untote Existenz aus, die sich noch hier befand. Erst als er in dem Tempel nichts mehr von der schwarzen Magie spürte, die die Anlage entweiht hatte, folgte er dem Erzmagier nach draußen.

Sein Portal hatte nur an die Außenseite der Ruine geführt, unweit des verfallenen Gebäudes, durch das sie hinabgestiegen waren. Aber kaum dass er hindurchgetreten war, schlug er geblendet die Hand vor die Augen. Als sie von Liannon aufgebrochen waren, hatte sich die Nachmittagssonne gerade dem Horizont zugeneigt. Jetzt stand sie im Osten hoch am Himmel. Hatten sie wirklich die ganze Nacht in diesem unseligen Massengrab verbracht? Oder hatte das Labyrinth die Zeit ebenso verzerrt wie den Raum, den es einnahm?

»Ich hatte keine Vorstellung davon, dass die Schwarzmagier zu so etwas imstande sind.«

Berekh lachte verächtlich. »Vom moralischen oder magischen Standpunkt aus?« Er schüttelte den Kopf. »Ihr werten Ratsmitglieder habt doch schon immer alles gering geschätzt, das seinen Ursprung nicht in eurer Mitte hat.«

Kein Wunder, dass er sich immer wieder derart abmühen musste, um die Arkanen zum Handeln zu bewegen. Sie waren einfach blind für alles, was sie nicht sehen wollten.

»Wir haben einmal den Fehler begangen, andere Magie als die unsere zu unterschätzen.« Tosalar musterte ihn mit abfälligem Blick. »Wir haben daraus gelernt.«

»Meinen Glückwunsch. Also habe ich dich überzeugt?«

Der Erzmagier machte eine unbestimmte Geste. »Wir werden uns beraten.«

»Du und deine drei Handlanger? Wo ist der Rest des Rates?«

»Unterwegs und stellt Nachforschungen an.« In der relativen Sicherheit des Sonnenlichts hatte Tosalar seinen Hochmut rasch wiedergefunden. Er rümpfte die Nase in Berekhs Richtung und fügte hinzu: »Nicht, dass es dich etwas angehen würde.«

Ohne ein weiteres Wort öffnete er ein Portal, ging hindurch und schloss es von der anderen Seite, ehe Berekh ihm nachfolgen konnte.

»Arroganter Schnösel.« Das bedeutete wohl, dass es mit seiner Ratsmitgliedschaft nun endgültig vorbei war. Nicht, dass Berekh diesem Status nachtrauern würde. Er schüttelte den Kopf und kehrte seinerseits nach Hause zurück.

Flammen des Sommers

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