Читать книгу Tödliches Verlangen - Madlen Schaffhauser - Страница 6

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Die Sonne blendet mich, als ich mit pochenden Kopfschmerzen erwache. Wo bin ich? Verwirrt schaue ich mich um. Als ich die vielen Blumen sehe, wird mir wieder alles bewusst. Der Sturz, meine Verletzungen und das verlorene Baby. Aus reinem Impuls heraus lege ich die Hände auf meinen Bauch.

Ich merke gar nicht, dass sich langsam die Tür öffnet und meine Schwester mit ihrer süssen Tochter hereinkommt, so sehr bin ich in Gedanken versunken. Als mein Patenkind sich bereits auf mich stürzen möchte, nehme ich meinen Besuch erst wahr.

„Hey Süsse.“ ich strecke meine Hand nach dem Mädchen aus, woraufhin mein Patenkind zu mir aufs Bett klettert und ihren Kopf an meine Schulter schmiegt.

„Hallo Zoe.“ höre ich nun meine Schwester neben mir, die mich mit einem besorgten Blick mustert.

„Hallo Valerie. Schön euch zu sehen.“

„Wie fühlst du dich?“

„Ich bin auf dem Weg der Besserung.“ leugne ich. Doch meine Schwester lässt sich davon nicht beirren.

„Warum sind dann deine Augen so verquollen und rot unterlaufen?“

Die Frage was wäre, wenn ich immer noch das Kind in mir tragen würde, stiehlt sich abermals einen Weg in mein Gehirn, während ich Caroline sanft über ihr Haar streichle, die immer noch eng an mich gedrückt neben mir liegt.

„Das muss von den Schmerzen sein.“

„Aber ja klar.“ Sie drückt mir einen leichten Kuss auf die Stirn, bevor sie einen Stuhl neben das Bett zieht.

Wie soll ich ihr meine Ängste und Sorgen ausdrücken, da ich selbst den Durchblick nicht habe, wie es mir momentan ergeht? Angespannt schaue ich auf die achtjährige Caroline und bewege meinen Kopf langsam hin und her. Ich hoffe Valerie versteht, was ich ihr damit sagen möchte. Das kleine Mädchen braucht nicht meine Geschichte zu hören.

„Sascha sollte nächstens hier sein. Er hat uns beim Eingang aussteigen lassen und sich dann auf die Suche nach einem Parkplatz gemacht. Heute scheinen wohl alle einen Krankenbesuch machen zu wollen.

Danach haben wir sicher etwas Zeit um zu reden.“ Sie zwinkert mir mit einem angedeuteten Lächeln zu.

„Zoe? Warum bist du hier in diesem Bett und nicht bei dir zu Hause?“ ertönt die kindliche Stimme meines Patenkindes.

„Anscheinend habe ich mich nicht auf die Treppe konzentriert, als ich mit hohen Absätzen hinuntergehen wollte.“

„Bist du gefallen?“

„Ja. Ich bin ganz dumm die Treppe hinuntergestürzt. Ich bin das beste Beispiel, dass man die Treppen nicht unterschätzen darf.“

„Warum sagst du anscheinend?“ wollte meine Schwester wissen.

„Ich kann mich nicht an den Sturz erinnern. Der Arzt meinte, dass ich an irgendeiner Amnesie leide. Den genauen Ausdruck habe ich vergessen.“

„Das ist nicht wahr. Wie kann das passieren?“

„Wahrscheinlich habe ich einen Schock erlitten und verdränge so den Sturz. Ich kann noch so krankhaft versuchen, den Abend in meine Erinnerungen zu rufen, aber das Bild verschwindet und es wird alles schwarz vor meinen Augen, sobald es an der Tür klingelte. An das Nächste, was ich mich wieder erinnern kann ist, dass ich hier in diesem Bett liege und Mam mit einem Arzt in diesem Zimmer ist.“

„Und das bleibt so?“

„Dr. Stevens meinte, dass man irgendwelche Übungen machen kann. Dadurch erhält man eine kleine Chance, um Erinnerungen zurückzugewinnen.“

„Was sind das für Übungen?“

„Das weiss ich noch nicht. Wahrscheinlich kommt heute eine Ärztin vorbei, die spezialisiert darauf ist.“

Meine Schwester und ich sehen gleichzeitig auf, als sich die Tür öffnet. Mein Schwager guckt schüchtern durch den kleinen Spalt und als er uns erkennt, tritt er mit leisen Schritten herein.

„Wie geht es meiner Lieblingsschwägerin?“ Sascha beugt sich zu mir und gibt mir sanft einen Kuss auf die Wange. Mit seiner lieben Art, zaubert er doch tatsächlich für eine Sekunde ein Lächeln auf mein Gesicht.

„Du Charmeur. Als hättest du die grosse Auswahl an Schwägerinnen.“

„Na ja. Aber ich möchte dich doch um nichts auf der Welt gegen eine andere Schwägerin austauschen wollen. Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Ich bin froh, dass du endlich wieder bei Bewusstsein bist.“

„Tut mir leid.“ flüstere ich.

„Oh nein. So war es ganz und gar nicht gemeint. Ich wollte dir keine Schuldgefühle machen. Ich möchte dir nur sagen, wie wichtig du für uns bist.“ Sascha drückt mich kurz und lässt mich gleich wieder los, als er merkt, dass ich mich vor Schmerzen anspanne. „Komm meine Süsse. Wir lassen deine Mami und Zoe einen kurzen Moment alleine.“ wendet er sich an seine Tochter.

Caroline erhebt sich müde aus dem Bett und sieht mich mit tränenreichen Augen an, als sie sich zu mir umdreht.

„Es wird alles wieder gut, meine Liebe.“ Ich drücke die Hand meines Patenkindes, während ihr Blick auf mich geheftet ist. „Kommst du mich bald wieder besuchen?“

„Ja.“ Sie beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie mit ihrem Vater verschwindet.

Die Tür war kaum geschlossen, als meine Schwester einmal tief Luft holt und die unausweichliche Frage stellt. „Was ist passiert, was ich noch nicht weiss?“ Ganz die Art meiner Schwester. Wie immer kommt sie direkt auf den Punkt.

„Ich bin gestürzt und habe mich ziemlich übel verletzt. Reicht das nicht?“

„Mir wäre es lieber, wenn du gar nicht hier liegen würdest, aber ich sehe dir an, dass dich noch etwas beschäftigt. Nur weiss ich nicht, was es ist. Hat es mit Noah zu tun?“

„Warum mit Noah?“

„Hast du endlich mit ihm gesprochen?“

„Ja, ich habe mich endlich von ihm getrennt. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“

„Wenn ich die Rosen hier ansehe, bin ich mir da aber nicht so sicher.“ Valerie dreht ihren Kopf zu den vielen Blumensträussen und macht eine Handbewegung darüber. „War er hier?“

„Ja. Gestern. Aber ich habe ihm für allemal gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll. Es ist alles geklärt zwischen uns.“

„Also was ist es dann. Rück endlich mit der Sprache heraus. Warum machst du so einen niedergeschlagenen Eindruck?“

Ich weiss, dass ich meine Schwester nicht länger hinhalten kann. Vielleicht tut es mir sogar gut, wenn ich mit jemandem darüber sprechen kann.

„Ähm.“ versuche ich verzweifelt den Anfang zu machen und starre auf meine linke Hand, die auf meiner rechten bandagierten Hand liegt . Ich ringe nach den richtigen Worten, doch die scheinen nicht erscheinen zu wollen „Ich war in der achten Woche schwanger.“ so, jetzt ist es endlich heraus.

Meiner Schwester hat es doch tatsächlich die Stimme verschlagen. Sie sitzt mit offenem Mund da und starrt mich fassungslos an. Als sie sich wieder gefangen hat, schaut sie mir tief in die Augen.

„Das ist wahrhaftig ein Schock. Und wie geht es dir dabei?“

Ich zucke vorsichtig mit meinen Schultern. „Wenn ich das wüsste.“ In ihren Augen schimmern Tränen, was mich dazu veranlasst, meine Eigenen nicht länger zurückhalten zu können. Valerie setzt sich zu mir aufs Bett und hält mich fest an sich gedrückt. Meine zurück gestauten Tränen suchen ihren Weg nach draussen und es dauert lange, bis sie wieder verebben. Ich fühle mich gleich ein klein wenig besser, nachdem ich meinen Gefühlen endlich freien Lauf gelassen habe. Nur leider hält dieses Gefühl der Befreiung nicht lange an.

Sie löst sich von mir und streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Kannst... kannst“ ich spüre, wie die nächste Frage in ihrer Kehle stecken bleibt und ich denke, ich weiss, über was sie sich den Kopf zerbricht. Zögernd spricht sie weiter. „du noch Kinder bekommen?“

Da ist es. Natürlich musste sie mir diese Frage stellen. Wieder starre ich ins Leere und versuche meine Gedanken zu sammeln. Es fällt mir schwer darüber zu sprechen, aber früher oder später kann ich dieser Situation nicht mehr ausweichen.

„Mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Das Baby wurde durch den Sturz getötet und ich habe anscheinend dadurch ziemliche schlimme Verletzungen zugezogen.“ Ich schlucke ein paar Mal leer, bevor ich weiter reden kann. „Aber es ist schlimmer als es klingt. Ich war ja sowieso nicht bereit für ein Kind. Das ist wohl jetzt die Bestrafung dafür, dass ich nicht mal gespürt habe, dass ein kleines Wesen in mir herangewachsen ist.“

„Hörst du dir eigentlich selber zu? Wem willst du etwas vorgaukeln? Dir oder mir?“ Meine Schwester fährt wie vom Blitz getroffen auf und ist sichtbar aufgebracht. „Hast du dir selbst zugehört? Du vergötterst Kinder und liebst meine Caroline, als wäre sie dein Eigen. Warum nur...“ Abrupt hört sie auf, mich zu verurteilen und setzt sich wieder langsam auf den Stuhl neben meinem Bett. „Es tut mir leid, Zoe. Ich wollte nicht an dir herumnörgeln oder dich kritisieren.“

„Ist schon gut. Ich denke, wenn ich mir nur genug oft einrede, dass ich sowieso keine Kinder wünsche, ist es vielleicht irgendwann nicht so schlimm. Es war immer so selbstverständlich, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt Kinder haben werde.“ Meine Stimme versagt kläglich und wieder brennen Tränen in meinen Augen, die ich kaum zurückhalten kann.

„Weiss sonst schon jemand Bescheid darüber?“

„Nein und ich möchte es auch nicht an die grosse Glocke hängen.“

„Wirst du es Noah erzählen.“

„Ich denke nicht. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und diese Geschichte würde ihm nur einen Grund geben, um sich um mich sorgen zu wollen.“

„Ach meine Süsse. Irgendwie wird schon alles wieder gut werden. Es wird sich schon eine Lösung finden, wenn du bereit dazu bist. Ich bin immer für dich da. Das weisst du hoffentlich, oder?“

„Danke Valerie. Ich bin froh, dass ich mit dir darüber reden konnte.“

Meine grosse Schwester drückt mir sanft die gesunde Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange, nachdem sie sich erhoben hat.

„Ich werde jetzt mal nachsehen gehen, wo Caroline und Sascha sind. Er muss nachher noch zur Arbeit. Wenn du irgendwas brauchst, ruf mich an. Ich werde sofort kommen.“ Sie dreht sich nochmals um, bevor sie aus dem Zimmer verschwindet. „Ach übrigens. Ich habe deinen Chef angerufen und ihm mitgeteilt, dass du hier bist und dass er in den nächsten Tagen wohl nicht mit dir rechnen muss.“

„Danke. Du bist ein wahrer Schatz. Grüss Caroline von mir und sag ihr, dass wieder alles in Ordnung kommt. Ich möchte nicht, dass sie sich irgendwelche Horrorgeschichten zusammenreimt.“

Nach einem etwas weniger beschwerlichen Gang ins Bad, als beim letzten Mal, tat mir anfangs die Stille in meinem Krankenzimmer gut, nachdem meine Schwester gegangen ist und ich in aller Ruhe meinen Gedanken nachgehen konnte. Aber nun fühle ich mich leer in diesem Zimmer und wünschte es wäre jemand hier.

Mein Wunsch bleibt nicht lange in der Luft liegen. Zwar kommt niemand von meinem Bekanntenkreis ins Zimmer, aber ich bin dennoch froh, dass nun eine Ärztin mit weissem Kittel und einem Stethoskop vor mir steht.

„Guten Tag Frau Berner. Ich bin Frau Dr. Christensen.“ Die schöne, rothaarige Mittdreissigerin lächelt mich mit einem warmen Blick an und reicht mir die Hand.

„Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“

„Das ist doch selbstverständlich. Nun erzählen Sie mir zuerst einmal, was vorgefallen ist. Ich habe zwar durch Dr. Stevens von Ihrem Unfall erfahren, aber ich möchte von Ihnen wissen, an was Sie sich noch erinnern können.“

„Nun...“ ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe aus dem Fenster, als ich an den besagten Abend denke und der Ärztin neben mir, alles zu schildern versuche. „Ich war endlich wieder einmal mit meiner Freundin Pam verabredet. In letzter Zeit haben wir uns ziemlich selten gesehen und ich freute mich über den gemeinsam Abend. Nachdem ich etwas früher von der Arbeit gegangen bin, habe ich mich zu Hause zurecht gemacht. Gerade als ich mich anzog, klingelte es an der Tür. Und nun liege ich hier. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Pam teilte mir mit, dass sie mich am Ende der Treppe gefunden und sofort den Notruf gerufen hat.“

„Sie müssen einen ziemlichen Schock erlitten haben, dass Sie sich nicht mehr an den Unfall erinnern können. Sie leiden an einer sogenannten retrograde Amnesie. Ihr Gedächtnis versucht dadurch das Erlebte zu verdrängen.“

„Das hat mir Dr. Stevens ebenfalls mitgeteilt.“

„Durch konkrete Gedächtnisübungen können wir vielleicht die Erinnerungen zurückgewinnen. Ich werde ein gezieltes Training für Sie zusammenstellen. Wenn es Ihnen passt, können wir am Donnerstag damit beginnen.“

„Ich habe nichts vor, ausser hier im Bett zu liegen. Viel mehr bleibt mir nicht zu tun. Eigentlich habe ich gehofft, bald möglichst nach Hause gehen zu können. Ich wäre viel lieber in meiner gewohnten Umgebung.“

„Ich kann Sie vollkommen verstehen, aber Ihr Zustand lässt es leider noch nicht zu, dass Sie schon alleine für sich sorgen können.“ Die Ärztin erhebt sich, mit einem Block aus Papier und einem Stift in der Hand und schüttelt mir die Hand. „Also, bis in zwei Tagen. Erholen Sie sich bis dahin gut. Essen Sie genug. So kommen Sie am schnellsten wieder auf die Beine.“

Gerade als Dr. Christensen aus dem Zimmer tritt, taucht eine Krankenschwester, in einen weissen Kittel gekleidet, auf. Diese junge Frau habe ich bis jetzt noch nicht kennengelernt.

„Schön Sie wach zu sehen. Guten Tag Frau Berner. Darf ich mich vorstellen?“

Auch wenn ich ihren Namen gar nicht wissen möchte, kann ich doch wohl schlecht nein sagen, oder? Erschreckt über meine unverschämten Gedanken, versuche ich ein unverkrampftes Lächeln an den Tag zu bringen.

„Mein Name ist Nadja Wulst.“ fährt die Krankenschwester fort „Wie fühlen Sie sich?“

„Besser als noch vor ein paar Stunden.“

„Ich werde Sie jetzt von diesen Schläuchen, die in Ihrem Arm stecken befreien. Diese Infusionen benötigen Sie wohl nicht mehr. Was meinen Sie, kommen Sie ohne diese Gehhilfe zurecht?“ versucht die Krankenpflegerin zu witzeln und lächelt mich voller Freundschaft an. Nur kann ich ihr nicht ganz folgen.

„Wie?“

„Der Infusionsständer war sicher eine gute Stütze.“

„Ach so. Ja das war er. Aber ich bin froh, wenn ich diese Infusionsnadel“ und zeige auf meine linken Arm „nicht mehr benötige. Sie ist äusserst lästig, wenn man sich drehen möchte.“

„Das kann ich Ihnen gut nachvollziehen. Dann werde ich Sie jetzt einmal davon befreien.“

Behutsam löst sie den Kleber, durch den die Nadel an meinem Arm befestigt ist. Danach zieht sie sorgfältig die dünne Nadel heraus, drückt mir eine Mullbinde auf den Einstich und schiebt den Infusionsständer weg. Sie holt ein Pflaster aus dem Schrank und bringt es auf meinem Arm an.

„Das wäre geschafft. Wie sieht es mit Ihren Blutungen aus? Haben Sie nachgelassen?“

Völlig baff, dass sie mich auf die Blutungen anspricht, starre ich sie an. „Ähm, ja.“

„Sie brauchen sich nicht dafür zu schämen.“

„Ich schäme mich nicht. Es ist nur so, dass hier jeder von meinem Missgeschick Bescheid weiss und dass ich dabei mein Baby verloren habe. Jeder wusste es schon, bevor ich es überhaupt erfahren habe.“

„Das braucht Sie keinesfalls zu beunruhigen. Am wichtigsten ist, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Alles andere wird sich ergeben.“

„Das sagen Sie so leicht.“

„Ich kann nicht leugnen, dass Sie etwas sehr schicksalhaftes erlebt haben, aber lassen Sie sich bitte nicht unterkriegen. Sie sind noch sehr jung und man weiss nie, was einem das Leben noch alles bringen kann.“

„Leider hat mir der Arzt keine so rosige Zukunft vorausgesagt.“

„Wenn Ihr Kinderwunsch so gross ist, können Sie sich immer noch überlegen, ob Sie allenfalls für eine Adoption fähig sind. Oder ob eine Leihmutter in Frage käme. Aber lassen Sie sich Zeit und verdauen Sie zuerst das, was Ihnen widerfahren ist.“

„Woher nehmen Sie bloss diese Zuversicht?“

„Mein Beruf lehrt es mich. Kommt Ihr Freund noch vorbei?“

„Ich habe keinen Freund.“

„Bin ich etwa schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten?“ schuldbewusst schaut mich die Krankenschwester an.

„Ist schon gut. Es stimmte schon seit längerer Zeit nicht mehr zwischen uns. Nur will er es nicht wahrhaben.“ und ich schaue auf die vielen Rosensträusse, die anscheinend von ihm sind. Ich muss zugeben, dass er in diesem Fall Geschmack bewiesen hat. Nur ist das noch lange kein Grund, bei ihm zu bleiben.

„Eine weitere Patientin wartet auf mich. Sie drücken den Knopf, wenn irgendwas ist?“

Ich nicke nur mit dem Kopf. „Darf ich das Zimmer verlassen?“ Ich spüre plötzlich eine innere Unruhe und habe das Verlangen aus diesen vier Wänden zu kommen, in denen ich mich nun schon seit über vier Tagen befinde.

„Wenn Sie sich stark genug fühlen, dürfen Sie das gerne tun. Bitte teilen Sie jeweils mir oder einer anderen Krankenschwester mit, wenn Sie die Etage verlassen.“

„Ich brauche etwas Abwechslung. Wo befindet sich das Café?“

„Im Erdgeschoss. Warten Sie kurz. Ich bin gleich zurück.“

In der Zwischenzeit gehe ich kurz ins Bad und werfe einen Blick in den Spiegel. Mein geschwollenes Auge sieht nicht mehr so schlimm aus wie gestern, aber es ist immer noch ziemlich dick und der Bluterguss verfärbt sich ganz langsam gelblich. Meine Haare stehen wirr von meinem Kopf ab. Mit ein paar Bürstenstriche bringe ich es einigermassen in Ordnung. Nun noch ein Haargummi um meine langen, braunen Haare und ich sehe gleich etwas präsentabler aus.

Gerade als ich mich auf die Bettkante zurücksetzte, kommt die nette Krankenpflegerin mit einer Krücke in der Hand zu mir zurück. Ich erwarte sie bereits sitzend auf meinem Bett und starre sie entgeistert an. „Muss das sein?“

„Da Sie jetzt den Infusionsständer nicht mehr als Stütze haben, bleibt ihnen wohl nichts anderes übrig, als diese hier zu nehmen. Ich kann auch einen Rollstuhl besorgen, wenn Ihnen das lieber ist.“

Mir wird schnell klar, dass ich ohne diese Krücke nicht weit kommen werde. Wenn ich also mein Zimmer endlich mal verlassen möchte, habe ich keine andere Wahl, als diese Gehhilfe zu benützen. „Sie haben mich überredet.“ Ich schenke der Frau vor mir ein schwaches Lächeln, schnappe meine Handtasche, die sich im Beistelltisch befindet und folge mit vorsichtigen Schritten der Krankenschwester zum Aufzug.

„Kommen Sie alleine klar?“

„Ich denke schon.“ Die Pflegering verlässt mich, während ich auf den Lift warte und mich auf dem Flur umsehe. Ein langer nicht enden wollender Gang erstreckt sich vor mir und etliche Türen gehen davon ab. Ich vermute, dass hinter jeder dieser Tür mindestens eine Patientin liegt. Plötzlich frage ich mich, was diese Frauen wohl gerade durchmachen müssen. Haben Sie vielleicht ein ähnliches Schicksal wie ich zu verdauen? Mir wird es eng um die Brust, als ich mich wieder an meinen Verlust denken muss und bin froh, dass sich endlich die Aufzugtüren vor mir öffnen, damit niemand meine gläserne Augen sehen kann. So schnell es meine Kraft und mein Körper zulässt, gehe ich hinein und drücke auf den Knopf, der das Erdgeschoss anzeigt. Zum Glück habe ich mir noch schnell die Etage gemerkt, auf der sich mein Zimmer befindet. Wäre schön peinlich, wenn ich beim Empfang nach meinem Zimmer fragen müsste.

Unten angekommen sehe ich mich zuerst einmal in alle Richtungen um. In die eine Richtung sieht dieser Flur fast so aus, wie meiner. In die andere Richtung deutet ein Pfeil, der das Café und den Ausgang anzeigt, was ich auch am Ende des Ganges entdecke. Wie soll ich nur diesen weiten Weg schaffen? Meine Kraft droht mich jetzt schon zu verlassen. Langsam mache ich einen Schritt vor den Anderen und komme meinem Ziel immer näher.

Ich sehe einige leere Tische. Also gehe ich gleich zum Getränkeautomaten und suche mir etwas schmackhaftes aus. In meiner Tasche suche ich nach meinem Portemonnaie, um mir ein paar Münzen herauszunehmen, damit ich den Automaten damit füttern kann. Nur zu blöd, dass sich darin kein Kleingeld befindet. Bleibt mir wohl nichts anderes übrig als mich an der Theke bedienen zu lassen.

„Was darfs sein?“

„Ich möchte ein Rivella.“

„Gerne.“ Die Frau hinter der Kasse kommt sogleich mit einer Flasche Rivella und einem Glas zurück.

„Darfs sonst noch was sein?“

„Den Blick. Das wäre dann alles.“ Ich drücke ihr eine Zehnernote in die Hand und verstaue das Portemonnaie wieder in meiner Tasche.

„Ich bringe Ihnen die Sachen zum Tisch.“

„Oh. Vielen Dank.“

„Wo möchten Sie sitzen?“

Eigentlich habe ich gehofft, auf dem Gartensitzplatz sitzen zu können, um etwas frische Luft einatmen zu können. Aber da es aus allen Eimern zu regnen scheint, entschliesse ich mich im Innern zu bleiben. Also deute ich auf einen freien Tisch, der sich neben einem Fenster befindet. So kann ich wenigstens hinaussehen.

Endlich kann ich wieder sitzen. Diese wenigen Minuten, die ich auf den Beinen waren, kosteten mich mehr Kraft, als ich gedacht habe. Ich nehme einen kräftigen Schluck von meinem Rivella und schlage die Zeitung auf. Obwohl ich versuche mich auf den Text zu konzentrieren, schweifen meine Gedanken immer wieder zu meinem nicht vorhandenen Unfall zurück. Irgendwann bin ich soweit, dass ich es aufgebe und die Zeitung zur Seite lege. Stattdessen krame ich ein weiteres Mal in meiner Handtasche und nehme mein iPhone in die Hand.

Schockiert sehe ich eine ganze Menge ungelesener SMS. Während ich mich durch die Meldungen lese, bemerke ich, dass mich ein Mann, der mit einer Frau und zwei düster dreinblickenden Muskelprotz an einem Tisch sitzt, unverhohlen beobachtet. Unbeeindruckt tippe ich mich durch die Nachrichten. Die meisten sind gute Genesungswünsche. Sogar mein Chef hat sich gestern gemeldet. Es sind nur noch drei ungelesene Nachrichten. Die drittletzte ist von Pam. Bin nun unterwegs zu dir. Die zweitletzte von Janosch. Hai Sista. Morgen um ein Uhr bei dir. In Ordnung? Ach ja, wir waren ja am Samstag zum shoppen verabredet. Mein Bruder braucht wieder einmal eine Beratung beim Kleider kaufen.

Nun noch die Letzte und Älteste. Sorry Zoe, aber es wird etwas später. Ich mache so schnell ich kann. Jetzt hast du wenigstens noch Zeit deine Lieblingsserie anzusehen. Bis später. Pam.

Müde schaue von meinem iPhone auf und blicke aus dem Fenster. Irgendwann fangen meine Gedanken an, sich zu überschlagen. Irgendwas erscheint mir merkwürdig an Pams SMS. Ich lese es ein drittes und viertes Mal durch. Plötzlich klingelt es in meinem Kopf und ich weiss, was mich an der Nachricht stört. Wann hat mir Pam gesimst? Ich schaue auf die Uhrzeit. Sie hat mir kurz nach halb sieben geschrieben. Aber um diese Zeit war sie doch schon lange bei mir? Ich bin mir fast sicher, dass ich auf meine Uhr sah, bevor ich zur Tür ging. Und diese zeigte knapp nach sechs an.

Ich schliesse meine Augen, um meine Gedanken so besser festhalten zu können und um sie neu zu ordnen. Das Bild steigt mir vor das innere Auge, wie ich mich in mein Lieblingsoutfit schäle und aufsehe, als es klingelt. Ich sehe, wie ich die Treppe hinuntergehe und mit leichtem Schritt zur Tür gehe und sie öffne.

Mit einem Mal wird mir speiübel. Mein Körper fängt an zu zittern. Nur mühsam tippe ich eine SMS an Pam. Meine Finger wollen mir kaum gehorchen. Obwohl ich mir nun über einiges im Klaren bin, möchte ich mich trotzdem versichern.

Kaum habe ich die Nachricht gesendet, vibriert mein Smartphone in meiner Hand. Ich muss mich richtig konzentrieren, damit die Buchstaben nicht vor meinem Augen verschwinden.

„Es war mindestens halb acht, als ich bei dir war. Warum willst du das wissen?“

Mein Herz fängt wie wild an zu rasen. Meine Befürchtung hat sich nun bewahrheitet. Ich kriege kaum Luft und versuche mich ganz normal zu verhalten. Da höre ich schon eine Stimme neben mir.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

Es ist der Mann, der mich vorher schon begafft hat. Was wollte denn der jetzt von mir?

„Ja alles bestens.“ bringe ich leise heraus.

„Ist Ihnen nicht gut?“

Mir ist überhaupt nicht wohl. Ich suche das Café nach einem WC ab und erhebe mich von meinem Stuhl.

„Entschuldigen Sie mich.“ Ich schnappe meine Krücke und versuche so rasch wie möglich zur Toilette zu kommen. Ich gerate langsam in Panik. Mein Zufluchtsort befindet sich viel zu weit weg. Zu meiner Überraschung hebt mich der fremde Mann auf seine Arme, als würde ich keine fünfundfünfzig Kilo wiegen und läuft mit schnellen Schritten zu meinem Ziel. Ich bemerke gar nicht, wie uns die anderen Besucher des Cafés anstarren und wie die zwei Männer von seinem Tisch, uns in kurzem Abstand folgen.

Eigentlich müsste ich mich gegen diesen Unbekannten wehren und ihm deutlich machen, dass er mich wieder auf den Boden stellen soll, aber ich habe absolut keine Kraft dazu. Ich bin sogar enorm froh, dass mich der dunkelblonde Fremde zur Toilette trägt. Er stösst die Tür auf und lässt mich auf meine Füsse nieder. Ich stürze in die erstbeste Kabine und kann gerade noch den Deckel heben, bevor ich mich übergeben muss.

Ich habe keine Ahnung wie lange ich schon vor dieser Schüssel knie und mich meinen niederschmetternden Gefühlen hingebe. Umso deutlicher spüre ich die Schmerzen, die meinen ganzen Körper beherrschen. Langsam löse ich mich aus meiner verzweifelten Position und hebe mich auf die Füsse. Überraschenderweise befindet sich meine Krücke an der Wand gegenüber meiner Toilette. Ich bin mir sicher, dass ich die irgendwo unterwegs habe liegen lassen. Wie kam sie also hierher? Hat sie etwa der Mann, der mir vorhin geholfen hat, hierher gebracht? Ist ja auch egal. Ich bin nur dankbar, dass ich meine Gehilfe wieder habe und mich nicht an einen anderen Menschen wenden muss.

Vor dem Waschbecken und dem darüber hängendem Spiegel bleibe ich stehen. Ich drehe den Wasserhahn auf und spritze mir mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht und wische dann mit einem Papiertuch mein Gesicht ab. Danach trinke ich ein paar Schlucke und richte meine Haare. Ich versuche meine Gedanken und Ängste auszublenden, die mich vor wenigen Minuten überfielen, was mir überhaupt nicht gelingen will. Nachdem ich mich etwas erholter und präsentabler fühle, verlasse ich die Damentoilette und hoffe ungesehen in mein Zimmer zu kommen. Aber noch bevor sich die Tür hinter mir schliesst, steht der dunkelblonde Mann neben mir.

„Geht es Ihnen besser?“

„Alles bestens.“ und gehe weiter.

„Wem wollen Sie etwas vormachen?“

„Niemandem.“

„Haben Sie einen Wunsch?“

„Ich möchte nur auf mein Zimmer.“

„Darf ich Sie begleiten?“

„Warum?

„Ich möchte Ihnen nur behilflich sein. Seien Sie mir nicht böse, aber Sie sehen so aus, als würden Sie nächstens in Ohnmacht fallen.“

„Das kann Ihnen doch egal sein.“

„Da haben Sie vollkommen recht.“

Wir gehen ein paar Schritte nebeneinander her, bis er das Schweigen abermals unterbricht.

„Übrigens, ich heisse Alexander.“ Er streckt mir die Hand entgegen und ich nicke nur leicht mit dem Kopf. Als er merkt, dass ich nicht weiter darauf reagiere, nimmt er seine Hand zurück und steckt sie in seine Hosentasche.

„Wollen Sie etwas Gesellschaft?“

„Nein.“ antworte ich etwas zu schroff und füge besänftigend hinzu. „Ich brauche meine Ruhe.“

„Wer hat Ihnen das angetan?“

Verblüfft über Alexanders Frage, starre ich ihn an. Obwohl ich genau weiss, was er meint, stelle ich mich so an, als hätte ich keine Ahnung. „Was meinen Sie damit?“

Er deutet auf meine bandagierte Hand und mein linkes Auge. „Das sind noch lange nicht die schlimmsten Verletzungen, stimmts?“

Mein Mund klappt auf, aber es kommt kein Ton heraus. Ich bin einfach zu verblüfft über seine Wahrnehmungsfähigkeit.

„Ich bin anscheinend die Treppe hinuntergestürzt.“ Das wurde mir jedenfalls erzählt, füge ich stumm dazu.

„Anscheinend?“

„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was passiert ist. Ich muss einen ziemlichen Schock erlitten haben.“ Hoffentlich spürt er nicht, wie ich ihm etwas verheimliche. Aber warum sollte mich das auch stören, denn schliesslich bin ich diesem Mann keine Rechenschaft schuldig. Wir sind uns ja erst gerade das erste Mal begegnet.

Noch ein paar Schritte, dann bin ich beim Lift, denke ich mir. Danach kann ich endlich seinen Fragen und diesen wunderschönen, olivgrünen Augen entkommen, die mich zu durchlöchern versuchen. Ich betrachte ihn eingehender. Erst jetzt sehe ich, was für ein bildschöner Mann mir vor Kurzem geholfen hat. In diesen Armen habe ich gelegen, geht es mir durch den Kopf und ich fühle, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Ein Räuspern holt mich zurück auf den Boden.

„Verraten Sie mir Ihren Namen?“

„Zoe.“

„In welchem Stock befindet sich ihr Zimmer, Zoe?“

„Im siebten.“ Ich habe nicht einmal bemerkt, dass der Lift schon angekommen ist, da ich keine Taste gedrückt habe.

„Ich wünsche Ihnen eine gute und schnelle Genesung. Passen Sie gut auf sich auf.“ Er drückt nochmals meinen linken Arm und lässt mich alleine im Fahrstuhl zurück. Während sich die Aufzugtüren schliessen, überkommt mich eine seltsame Enttäuschung, dass sich dieser gutaussehende Mann schon jetzt von mir verabschiedet hat. Noch bevor mir bewusst wird, was ich tue, hebe ich die Krücke, um zu verhindern, dass sich die Türen ganz schliessen. Ich bringe ein verlegenes „Danke“ heraus.

„Für was?“

Beschämt schaue ich zu Boden. „Für Ihre Hilfe. Ich wüsste nicht, was geschehen wäre, wenn Sie nicht dagewesen wären.“ Ich hebe meinen Kopf und schaue ihm direkt in die Augen. „Vielen Dank.“ hauche ich kaum hörbar und bin froh, dass sich der Fahrstuhl in dem Augenblick schliesst, in dem er die Hand nach mir ausstrecken möchte. Erst jetzt spüre ich, wie mein Herz wild zu pochen angefangen hat. Aber warum? Was ist nur plötzlich los mit mir? Ich bin etwas enttäuscht darüber, dass mich der Lift langsam nach oben bringt, statt dass er nochmals aufgeht und ich abermals Alexander vor mir sehen kann. Aber was habe ich auch erwartet? Schliesslich bin ich diejenige, die vor ihm geflüchtet ist und sich auf ihr Zimmer zurückzieht.

Tödliches Verlangen

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