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Pommerle erlebt etwas ganz Neues

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Inhaltsverzeichnis

Seit einer guten halben Stunde suchte Frau Bender ihren Pflegling. Sie war am Strande gewesen, an dem man Pommerle stets fand; aber niemand hatte heute das Kind gesehen. Auch von ihren Spielgefährtinnen war keine zu erblicken.

Frau Bender hatte ihren Gatten gebeten, er möge einmal nach dem ehemaligen Hause des Fischers Ströde gehen, denn es war nicht ausgeschlossen, daß das Kind die einstige Wohnung des Vaters aufgesucht hatte, daß es dort weilte und traurigen Erinnerungen nachging. Bis jetzt hatten Benders ängstlich vermieden, jene Seite des Dorfes aufzusuchen, weil sie fürchteten, daß Pommerle durch den Anblick des Elternhauses zu sehr erschüttert werden könnte.

Der Professor kehrte mit dem Bemerken zurück, daß niemand dort drüben das Kind gesehen habe.

So machte sich Frau Bender abermals auf den Weg, um das Kind zu suchen. Gleich um die Straßenecke war der kleine Kaufmannsladen, wo Pommerle gut bekannt war, weil es dorthin allerlei für die Tante einkaufen ging.

»Sie suchen Ihre Kleine, gnädige Frau? Sie ist vor einer Viertelstunde hier gewesen und hat gefragt, ob sie nicht einen Gang für mich machen könne, ich möge ihr dafür zwei Stücke Zucker schenken.«

»Mein Pommerle?«

»Ja, ich kenne die Kleine recht genau.«

»Um Zucker hat sie gebeten?«

»Jawohl, Frau Professor, sie wollte sich den Zucker verdienen und fragte mehrfach, ob ich keine Arbeit für sie habe. Da habe ich der kleinen Naschkatze die verlangten Stückchen gegeben. Dann ist das Kind schnell davongelaufen.«

Frau Bender schüttelte den Kopf. Daß ihr Pommerle gern Zucker aß, war ihr ganz etwas Neues. Und daß es gar bei der Kaufmannsfrau um Zucker bat, wollte ihr nicht recht in den Sinn. Sie ging die Straße weiter hinab, weil sie allmählich unruhig über das Ausbleiben der Kleinen wurde. Es war sonst nicht Hannas Art, so lange von Hause fortzubleiben. Es mußte etwas ganz Besonderes vorgekommen sein, daß Pommerle das Heimkommen vergaß.

Frau Bender traf endlich einen ihr bekannten Badegast, der, ebenso wie Benders, alljährlich nach Neuendorf kam.

»Sie suchen Ihre Kleine, gnädige Frau? Die ist ganz bestimmt auf dem Schießplatz. Dort sind alle Kinder Neuendorfs; es sind zwei Wagen mit Zirkusleuten angekommen.«

Frau Bender atmete auf. Das erschien ihr durchaus glaubhaft. Sie ging beruhigt heim und bat den Gatten, er möge doch hinaus zum Schießplatz gehen, um nachzusehen, ob Pommerle dort sei.

Herr Professor Bender machte sich sogleich auf den Weg. Der Schießplatz von Neuendorf lag etwa zehn Minuten nach dem Walde hin vom Orte entfernt; eine breite Fahrstraße führte geradeswegs darauf zu.

Schon von weitem hörte Herr Bender lautes Schreien und Rufen der Kinder, und als er herankam, sah er das rege Leben und Treiben, das hier herrschte.

Da standen zwei grüne Wohnwagen. In einem schienen die Zirkusleute zu wohnen, von einem zweiten wurden Bretter und Leinenballen abgeladen. Man baute mitten auf dem Platze ein Zelt auf; wahrscheinlich sollte in Kürze hier in Neuendorf eine Vorstellung stattfinden.

Professor Bender schritt näher heran. Hinter einem Baume blieb er stehen. Dort drüben sah er zwei kleine Mädchen stehen, das eine im dunklen Badeanzug, das andere in einem beschmutzten Kleidchen. Beide schleppten unter größter Anstrengung jetzt Stricke und Bretter, die vom Wagen heruntergeworfen wurden, nach einem Platze, wo zwei Männer beschäftigt waren, Pfähle in die Erde zu rammen.

Der Professor nahm die goldene Brille von der Nase, putzte sie nochmals, schaute dann wieder hinüber. – Richtig, die Kleine im Badeanzug war sein Pommerle.

Er mußte lachen. Wie das kleine Ding emsig tätig war, wie es mit aller Kraftanstrengung und mit Hilfe von Grete Bauer die Bretter heranholte. Pommerle hatte sich das Kleidchen ausgezogen, aus Furcht, daß es schmutzig werden könnte, und sich dafür in den Badeanzug gesteckt. Aufgeregt lief die Kleine, wenn sie ihrer Last ledig war, wieder zum Wagen zurück, um neue Bretter in Empfang zu nehmen.

Aber auch die anderen Kinder waren zum größten Teil nicht untätig. Mitunter hörte Bender lautes Lachen, wenn die beiden Männer, die das Zelt errichteten, ihre Späße mit der kleinen Schar machten. Als der Professor näher trat, hörte er gerade, daß einer der beiden Männer die Kinder fragte:

»Wißt ihr auch, welcher Ring nicht rund ist?«

Ein kurzes Schweigen folgte.

»Nun, – der Hering!«

Da brach lautes Gelächter aus, und Pommerle lachte wohl am herzlichsten mit.

Professor Bender trat noch näher heran und stellte sich gerade vor seine eifrige Pflegetochter hin.

»Nanu, Pommerle, was machst du denn hier?«

»Ach, Onkel, – ist das schön! Ein weißes Pferdchen haben sie, und dreißig Pfennige kostete es. Und sie hat ein feines rosa Kleid mit lauter kleinen Sternchen. –Gerade wie eine Fee! Und morgen nachmittag geht es los! –«

»Wer – – was? – – Das weiße Pferd kostete dreißig Pfennige und hat ein rosa Kleid?«

»Komm schnell 'mal mit, Onkel!« Pommerle keuchte vor Erregung und versuchte den Onkel mit sich fortzuziehen. »Guck 'mal schnell in den Wagen 'rein, – eine ganz kleine Stube, und eine Küche ist drin. Und auch noch ein Baby, das schreit. – Und ein ganz kleiner Kochherd. – Das mußt du sehen, Onkel!«

»Es geht nicht, mein Kleines, daß wir den fremden Leuten in die Wohnung schauen.«

»Ach, komm doch, – und dann gehen wir zu dem kleinen, weißen Pferd. – Onkel, ich weiß was, was du nicht weißt. – Was für Haare hat ein einjähriger Dackel, und was für Haare hat ein fünfjähriger Dackel?«

Pommerle konnte vor Lachen kaum weiterreden.

»Welche Farbe hat denn der einjährige Dackel? Braun oder schwarz?«

»Ach, Onkel!« Pommerle hüpfte um den Professor herum, »Hundehaare haben sie beide! – Nun komm rasch zu dem weißen Pferdchen!«

»Sag 'mal, mein Pommerle, was machst du denn hier?«

»Ich bau' das Zelt auf,« erwiderte das Kind stolz, »ich und die Grete Bauer, und morgen kommt das weiße Pferdchen und läuft auf den Hinterpfötchen. Auf dem Kopfe hat es einen Staubwedel, damit nickt es. Dann ist eine kleine, schöne Fee da, die reitet auf dem Pferd. – Ach, Onkel, so etwas hast du noch gar nicht gesehen! – Ich darf doch hin und das alles sehen? Wenn ich noch fleißig helfe, kostet es gar nichts.«

»Aber, Pommerle!«

»Und noch viel was Schöneres ist da. – – Die beiden Männer dort wollen uns so viel erzählen, daß uns vor Lachen der Bauch platzt! Du mußt mit hinkommen, Onkel, und die Tante auch. – Aber nu komm doch!«

Der gutmütige Professor ließ sich von dem Kinde hin zu dem Wohnwagen führen, dessen Tür weit offen stand. Eine kleine Stiege führte hinauf in den Wagen.

»Da – steig fix mal 'rauf und guck 'rein!«

»Das darf man nicht machen, mein Kind.«

Aber da war das Kind schon oben auf der obersten Stufe, schaute in den Wagen hinein und fragte freundlich:

»Darf der Onkel auch 'mal 'reinsehen? Er möchte so gern den kleinen Kochherd sehen.«

Eine jüngere Frau schaute heraus. Professor Bender trat lachend näher.

»Lassen Sie sich nicht stören, für meine Kleine ist das alles ganz etwas Neues.«

»Ach, Onkel,« rief Pommerle laut aus dem Innern des Wagens heraus »komm doch nur 'mal her, – in so 'ner kleinen Küche möchte ich auch kochen. Und hier ist noch ein kleiner Junge!«

»Komme heraus, Pommerle,« befahl Bender, »man darf fremden Leuten nicht in die Wohnung gehen, das gehört sich nicht.«

»Aber zum weißen Pferdchen dürfen wir doch gehen?«

»Ja, zum Pferd wollen wir gehen.«

»He – holla, Kleine,« rief es vom anderen Wagen herüber, »nur immer tüchtig arbeiten!«

»Ich muß wieder was tun, Onkel, das Zelt muß fertiggemacht werden. Wenn es morgen regnet, werden die Leute naß. Lieber, lieber Onkel, nicht wahr, du hilfst mir ein bißchen?«

»Wo hast du denn dein Kleid gelassen?«

Pommerle wies auf ein Häufchen, das auf der Wiese lag. »Da – ausgezogen, Onkel, weil die ollen Bretter gar so dreckig sind.«

»So zieh dich jetzt wieder an, Kleines, die Tante wartet auf uns.«

»Ach – Onkel, – nur noch ein bißchen zum weißen Pferdchen. – Zucker hab' ich ihm gebracht, dann hat es mir auf die Hand einen Kuß gegeben. – Onkel, kannst du mir nicht noch ein Stück Zucker schenken? Das Pferdchen freut sich so.«

»Wenn du hübsch artig bist, Pommerle, gehen wir morgen in den Zirkus.«

Wieder begann das Kind furchtbar zu lachen.

»Rate mal, Onkel: welcher Kuß ist rund?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hahaha – der Zirkus! – Ach, Onkel, der Mann dort drüben ist zu spaßig! – Wollen wir nicht noch ein bißchen hingehen? Immer, wenn er was sagt, muß man fürchterlich lachen.«

»Wir werden ihn uns morgen anhören. Jetzt komm, die Tante wartet.«

Noch einmal lief die Kleine davon.

»Ich soll jetzt nach Hause kommen,« sagte Pommerle zu dem Erbauer des Zeltes, »ich kann nicht mehr mithelfen.«

»Dann bekommst du auch keine Freikarte.«

»Vielleicht zahlt der Onkel, ich will ihn gleich 'mal fragen.«

»Jawohl, Pommerle,« meinte Herr Bender, »wenn du brav bist, gehen wir morgen nachmittag alle drei in den Zirkus.«

»Ach, wenn es doch erst morgen nachmittag wäre,« seufzte das Kind, »das werde ich wohl gar nicht erwarten können.«

»Jetzt nimm 'mal rasch deine Sachen, Pommerle, kannst im Badeanzug laufen.«

Das Kind ergriff die Kleidungsstücke, kam zurück zum Onkel und sagte: »So, nun können wir gehen. Aber nachher darf ich noch 'mal zu dem weißen Pferdchen?«

Man hatte etwa den halben Weg zurückgelegt, als man Spaziergänger traf. Die Dame wies auf die Straße:

»Kleines Mädchen, du hast einen Schuh verloren.«

Pommerle drehte sich hastig um. Richtig, da lag der Schuh. Das Kind hob ihn auf. Bei dem eifrigen Erzählen war dem Kinde der Schuh entglitten.

»Nimm Schuhe und Strümpfe lieber in die Hand, Pommerle. Ich will dein Kleidchen mir über den Arm hängen, und du trägst das andere.«

»O je, Onkel, es ist ja gar nichts mehr da – nur noch das Kleidchen.«

Pommerle schaute sich in der Runde um. Nichts als das Kleid und der eine Schuh war zu sehen.

»Aber, Kind, du mußt doch besser auf deine Sachen aufpassen! Nun müssen wir den ganzen Weg wieder zurückgehen.«

Erst fand man einen Strumpf, dann das Hemdchen, etwas weiter hin lag der zweite Schuh, Höschen und Unterröckchen lagen ganz in der Nähe des Zirkusplatzes; doch der zweite Strumpf war nicht zu finden.

»Ach, Onkel – sieh mal den kleinen, niedlichen Hund dort!«

Auf dem Rasenplatz lag ein weißes, zottiges Hündchen, das zerrte an einem weißen Gegenstand und vergnügte sich damit, den Gegenstand in lange Streifen zu zerreißen.

Professor Bender und Pommerle traten näher heran; das Tierchen spitzte die Ohren und sprang schließlich schweifwedelnd an dem Kinde empor.

»Pommerle – ist das nicht dein Strumpf?«

Der Professor hatte mit dem Stocke das Spielzeug des Hundes emporgehoben. Es war tatsächlich ein Kinderstrumpf. Pommerle schaute recht bedrückt drein.

»Das ist aber nicht hübsch,« sagte es kläglich, »man darf doch keine Sachen fortnehmen.«

»Man darf auch seine Sachen nicht so achtlos umherwerfen, mein liebes Kind. – Aber jetzt hilft es nichts mehr. Wir wollen nun endlich heimgehen, die gute Tante wird schon in Sorgen sein.«

Unterwegs erzählte Pommerle eifrig.

»Onkel, hat die Tante auch 'mal bald Geburtstag?«

»Ja, Pommerle, schon im nächsten Monat.«

»Was schenken wir ihr dann?«

»Das weiß ich heute noch nicht.«

»Ach, lieber, guter Onkel – schenke ihr doch so 'nen kleinen Kochherd oder so ein weißes Pferdchen. – Das ist zu schön!«

»Nein, mein Kind, das kann die Tante nicht gebrauchen. – Aber, Kind, dort liegt ja schon wieder der Strumpf auf der Erde.«

Schuldbewußt hob ihn Pommerle auf. Dann wanderten die beiden rasch weiter, bis sie endlich das Fischerhaus erreicht hatten.

Die Tante hatte schon mehrfach nach ihnen ausgeschaut. Man sah es ihr an, daß sie erleichtert aufatmete, als sie Pommerle gesund und munter erblickte.

Pommerle stürmte auf sie zu.

»Ein weißes Pferdchen haben sie – – oh, und einen grünen Wagen mit einem Baby und einem kleinen Kochherd! Und ich hab' das Zelt gebaut – und ein Stückchen Zucker schenkst du mir auch. – – Dann hat der Hund meinen Strumpf gefressen. – Morgen kommt das weiße Pferd mit dem Puschel auf dem Kopfe – und – – Tante – – welcher Ring ist nicht rund?«

So sprudelte es von den Lippen des kleinen Mädchens.

Pommerle war kaum zu beruhigen.

Aber eine Stunde später gab es neue Aufregung. Man hörte Trompetenstöße. Pommerle sprang auf, auch Professor Bender trat hinaus vor die Tür, ging mit seinem Schützling bis zur nächsten Straßenecke.

Und dann sah Pommerle etwas ganz Wunderbares. – Da kam ein Wagen daher, der wurde von einem dunkelbraunen Pferde gezogen, das eine silberglänzende Decke auf dem Rücken hatte. Auf einem anderen Pferde ritt ein Mann mit einer goldenen Trompete. Und da war noch ein Mann, der begann jetzt zu reden:

»Hochverehrtes Publikum! Unser Zirkus ist in Neuendorf angekommen und gibt morgen nachmittag um vier Uhr eine große Galavorstellung für Kinder, und am Abend um acht Uhr eine Elitevorstellung für die Erwachsenen. Wir bieten Ihnen etwas noch nie Gesehenes, und wir bitten das hochverehrte Publikum um recht regen Besuch.«

Wieder ein Trompetenstoß, dann setzte sich der Wagen in Bewegung.

Pommerles Augen hingen wie gebannt an einem bemalten Manne, der so merkwürdig ausschaute.

Aber dann kam noch etwas viel Schöneres. Ein weißes Pferd erschien, auf dem Kopf trug es einen rosa Wedel aus Federn, der wippte und nickte auf und nieder. Und auf dem Rücken des Pferdes saß eine wunderschöne Fee in einem rosa Kleide, ganz mit Silber bestickt. Sie hatte die Beine mit silbernen Schnüren umwunden und kleine rosa Schuhe an den Füßen.

»Oooooh – –,« staunte Pommerle, es konnte nichts anderes sagen. Dieses schöne Mädchen mit dem Silberband im blonden Haar war für Pommerle wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Vor den Pferden aber ging noch ein buntbemalter Mann mit einer Pauke. Er hatte Zettel in der einen Hand und reichte sie den ihn umdrängenden Kindern hin.

»Onkel,« sagte Pommerle noch fassungslos vor Staunen, »darf ich mir von dem bunten Manne auch einen Zettel holen?«

»Freilich!«

Aber als sich Pommerle dem Manne näherte, schlug der soeben auf die Pauke, so daß die Kleine angstvoll zum Onkel zurückeilte. Da lachte der Mann, und nun bekam Pommerle einen Zettel.

»Komm mit, Onkel,« bat die Kleine und zog den Professor mit Gewalt weiter. »Ich möchte noch 'mal das Pferd und die rosa Fee sehen.«

»Bis zur nächsten Ecke wollen wir mitgehen, mein Kind.«

Pommerle hatte nur Augen für die geschmückte Reiterin. Nun hielt der vordere Wagen wieder an, erneut ertönte die Trompete, auch das Pferd blieb stehen, Pommerle stellte sich ehrfurchtsvoll neben das Tier und schaute sehnsuchtsvoll zu seiner Fee empor.

Die nickte ihm freundlich zu. Da preßte Pommerle die Hand des Onkels.

»Kommst du morgen auch in den Zirkus, Kleine?« fragte das schöne Fräulein vom Rücken des Pferdes herunter.

Pommerles Herzchen schlug stürmisch.

»Wenn Sie es erlauben – – ja, ich komme.«

»So ist es recht, ihr kommt doch alle?«

»Ja – ja,« brüllte die Straßenjugend.

Dann wurde es wieder mäuschenstill, denn der Herr Direktor begann abermals zu sprechen. Er sagte dieselben Worte, die er vorhin geredet hatte. Und als sich der Wagen wieder in Bewegung setzte, sagte Professor Bender:

»So, mein Kleines, nun wollen wir heimgehen.«

Da kam ein heißes Flehen in die Augen des Kindes.

»Onkel,« stammelte Pommerle, »nur noch bis zur nächsten Ecke – ach, es ist so schön!«

»Aber, liebes Kind, wir können doch nicht immerfort nebenherlaufen. Du wirst ja morgen alles im Zirkus sehen.«

»Ich will auch sehr artig sein, lieber, lieber Onkel – ach, bitte, komm doch nur noch ein Stückchen.«

Herr Bender konnte nicht widerstehen. Er sah, daß das Mitgehen für sein Pommerle namenloses Glück bedeutete. Da wollte er dem Kinde die Freude nicht verderben. Es war gut, daß er die Kleine so fest an der Hand hatte, denn Pommerle achtete nicht des Weges, es sah nur die schöne Reiterin an. Und so gingen beide noch eine halbe Stunde mit dem Zirkuswagen.

Am nächsten Morgen galten Pommerles erste Gedanken dem Zirkus. Heute war der große Tag – heute würde es in den Zirkus gehen! Das Frühstück wollte ihm nicht so recht schmecken, und Tante Bender mußte ziemlich energisch verlangen, daß das Kind die beiden Brötchen aß, die es sonst ohne Schwierigkeiten verspeiste.

»Darf ich nachher zum Zirkus, liebe Tante?«

»Der Onkel begleitet dich, aber erst gegen elf Uhr. Um zwölf seid ihr wieder zurück. Vorher gehst du mit dem Onkel zum Herbert und sagst ihm, daß er heute nachmittag mit uns in den Zirkus gehen kann. Seinem Mütterchen geht es etwas besser, doch muß es noch eine ganze Zeit im Krankenhause bleiben.«

Pommerle verlegte sich aufs Handeln.

»Möchten wir nicht lieber schon um zehn zum Zirkus gehen, Onkel?«

»Nein, Kleines, die Tante hat gesagt, um elf Uhr. Vorher kannst du am Strande spielen, doch bleibst du in der Nähe, daß wir dich, wenn wir aus dem Hause treten, sehen können.«

Da gab es freilich keinen Widerspruch mehr. Pommerle war viel zu brav, um jetzt noch weiter zu bitten. Das Kind wußte, daß es seine Pflegeeltern gar gut mit ihm meinten, und daß alles, was sie ihm befahlen, zu seinem Besten war. So begab es sich ein wenig unmutig zum Strande, denn der Zirkus lockte viel mehr als das sonst über alles geliebte Wasser.

Spielgefährten waren heute nicht da. Die Glücklichen waren gewiß alle draußen auf dem Schießplatz und durften das Zelt bestaunen. Gelangweilt schaute sich Pommerle um.

Da kam es plötzlich aus eine glänzende Idee. Etwa zehn Schritte vom Strande entfernt ragte ein flacher Stein aus dem Wasser hervor. Wenn es sich Schuhe und Strümpfe auszog, war der Stein mühelos zu erreichen. Pommerle hatte ihn schon oft mit den Spielgefährten bestiegen. – Oh, das würde ein herrliches Spiel werden! Das Kind lief ins Haus zurück, fand Frau Jäger, die in der Küche hantierte, und bat um ein langes Stück Bindfaden.

»Kannst du haben, Kleine.«

»Und kann ich auch 'mal den Besenstiel bekommen, um damit zu spielen?«

Frau Jäger nickte lächelnd.

»Bring ihn aber zurück!«

»Freilich – um elf.«

Die gutmütige Fischersfrau händigte Pommerle den langen Kehrbesen aus; und fröhlich eilte das Kind mit den Sachen zum Strande zurück. In der Nähe des Steines stieß es den Besen in den Sand, band daran den Bindfaden, zog Schuhe und Strümpfe von den Füßen, ging zu dem Stein hinüber, auf den es sich setzte. Den Bindfaden hielt es in der Hand. Der Stein war das Pferd, der Besen der Kopf des Tieres, der Bindfaden der Zügel. Graziös, wie es Pommerle bei der Reiterin gesehen hatte, schlug es die Beinchen übereinander, dann bemühte es sich, den Tonfall der Reiterin nachzuahmen.

»Hott, Schimmel – – Brrrr!« Die Zügel wurden angezogen, wieder lockerer gelassen. Pommerle ritt auf seinem steinernen Pferd.

Aber plötzlich hatte es den Zügel wohl zu fest angezogen, der Pferdekopf gab nach und fiel ins Wasser. Da mußte Pommerle den nassen Besen aus dem Wasser fischen und erneut in den Sand rammen. – So ging das Spiel weiter. Die Vorübergehenden schauten lachend auf das kleine Mädchen, das hoheitsvoll vor sich hinnickte und von Zeit zu Zeit mit der Hand winkte, wie das die rosa Reiterin auch getan hatte.

Aber schließlich langweilte es auch dieses Spiel. Voller Ungeduld lief es ins Haus, um festzustellen, daß die Uhr erst zehn zeigte. Sogar die Puppe des Vaters vermochte heute nicht die Unruhe der Kleinen zu bannen.

Endlich war es so weit. Der Professor kam, nahm seinen kleinen Schützling an der Hand, und dann ging man zunächst zu Herbert Affmann.

Ein ganz seltener Anblick bot sich den Eintretenden. Der Knabe saß in der Küche und putzte die Deckel, den Messingring an der Kochmaschine, die Drücker an den Fenstern, kurzum, er schien sich sehr nützlich zu machen.

Mit traurigem Gesicht schaute er Professor Bender an. Noch immer drückte ihn der Gedanke nieder, daß er die Krankheit der Mutter verschuldet hatte, zumal er vom Vater häufig hören mußte, daß er durch seine Unart all das Leid verschuldet habe.

Der Professor sprach freundlich mit dem Knaben und sagte ihm, daß er ihn heute nachmittag in den Zirkus mitnehmen wolle. Ein Freudenschimmer glitt über das Gesicht des Knaben, und zum ersten Male sprach der unartige Knabe herzliche Dankesworte.

»Willst du jetzt nicht mit zum Zirkus kommen?« fragte Pommerle.

»Nein,« entgegnete Herbert, »wenn die Mutter heimkommt, muß alles schön sein. Ich will erst alles blank putzen.«

»Aber sie kommt ja noch nicht,« meinte Pommerle.

»Vielleicht kommt sie eher, wenn alles blank ist,« meinte Herbert. Er blieb auch wirklich zurück, während das kleine Mädchen glückselig an der Hand des Onkels dem Schießplatz zustrebte.

»Wollen wir nicht ein bißchen rennen, Onkel, daß wir schneller da sind?« meinte die Kleine.

»Der Onkel kann nicht mehr so rennen wie das kleine Mädchen.«

»Ich will dich ein bißchen ziehen.«

»Ziehst mich schon genug, Pommerle – ich habe fast keinen Atem mehr. – Wir sind ja gleich da.«

Richtig – da stand das Zelt. Von Pommerles Lippen lösten sich laute Rufe des Erstaunens. Auf dem freien Platze war ein Zelt errichtet worden und dicht daneben noch ein kleineres. Oh, wie war das alles schön! Um das Zelt herum standen Kinder, die von Zeit zu Zeit versuchten, die umhüllende Leinwand ein wenig zu heben, aber einige Männer waren in der Nähe, die der Jugend ihr Treiben verwiesen.

Pommerle holte aus der Tasche zwei Stückchen Zucker hervor.

»Die hab' ich mir vom Frühstück abgespart, Onkel, die bekommt das weiße Pferd.«

»Das weiße Pferd werden wir jetzt gar nicht sehen, das hat noch zu lernen bis heute nachmittag.«

Aber einer der Zirkusleute hatte Pommerle wiedererkannt, kam heran, und schon brachte Pommerle sein Anliegen hervor.

»Kannst 'mal ins Zelt hineinschauen,« meinte er gutmütig.

In dem kleinen Zelte standen vier Pferde, darunter der Schimmel. Pommerle ließ es sich nicht nehmen, dem Tiere den Zucker zu geben, und es bedauerte nur, daß es für die anderen Tiere nichts hatte.

»Onkel – trink doch morgen deinen Kaffee auch bitter und schenke mir den Zucker.«

»Wir wollen heute nachmittag den Pferden Zucker mitnehmen, denn morgen zieht der Zirkus schon wieder weiter.«

Der Professor kaufte die Karten für den Nachmittag, dann ging man noch einige Male um das Zelt herum, und da nichts weiter zu sehen war, mahnte Herr Bender zur Heimkehr. Aber Pommerle hatte schon wieder den Wohnwagen im Auge.

»Sieh 'mal, aus dem Wagen raucht es oben 'raus.«

»Nun ja, die Leute kochen eben.«

»Onkel – die Leute kochen jetzt auf der kleinen Kochmaschine. Wollen wir 'mal zugucken?«

»Nein, Kind, das dürfen wir nicht.«

»Aber Frau Jäger guckt auch zu, wenn die Tante kocht.«

»Die Zirkusleute sind uns doch fremd. – Komm nur, kleine Neugier.«

»Ach, Onkel, nur ein kleines bißchen noch.«

So bettelte Pommerle immer wieder, und schließlich wurde es tatsächlich zwölf Uhr, ehe beide den Schießplatz verließen.

Am Nachmittag war es mit dem Kinde nicht mehr auszuhalten. Es wollte heute nicht vier Uhr werden. Um drei Uhr stand Pommerle fertig angekleidet vor Onkel und Tante und fragte unermüdlich, ob man nicht bald gehen wollte.

»Was sollen wir denn so lange in dem Zelte sitzen?«

»In der Schule muß ich auch so lange sitzen – ich werde auch ganz still sein.«

Aber Benders gaben diesmal nicht nach, und erst nach halb vier Uhr holte man Herbert ab, um gemeinsam nach dem Zirkus zu gehen.

Zum ersten Male in seinem Leben sah Pommerle ein solches Zelt, in dem in der Mitte die Manege war, ringsherum erhoben sich die Bänke für die Zuschauer. Es waren nur Bretter, über die zum Teil rote Decken gelegt waren, doch Pommerle kam der ganze Raum so bezaubernd schön vor, daß es kaum zu atmen wagte. Ganz rätselhafte Dinge waren hier angebracht. Von oben herunter hing an roten Seilen eine silberne Stange, außerdem liefen noch Drähte und Stricke hin und her.

»Turnen sie dort oben?« fragte Pommerle mit angehaltenem Atem.

»Jawohl, mein Kind.«

»Und sie fallen niemals herunter?«

»Nein.«

»Ach – muß das fein sein!«

Langsam füllte sich der kleine Zirkus mit Zuschauern. Da zur Zeit in Neuendorf zahlreiche Badegäste weilten, hatte sich eine größere Anzahl Kinder eingestellt. Pommerle fragte hundertmal, ob es nicht bald losgehe, denn dieses Warten war schrecklich.

Nun begann ein Leierkasten Musik zu machen, eine Trompete vervollständigte das Orchester.

»Ist das nicht schön?« flüsterte Pommerle.

»Na freilich,« pflichtete Herr Bender bei. Er kannte zwar bessere Musik, aber dieser kleine Wanderzirkus konnte sich eben keine größere Kapelle leisten.

Da öffnete sich eine Zeltwand, ein Herr in schwarzem Anzug trat ein, der eine lange Peitsche in der Hand trug. Er knallte mehrere Male damit, und dann kam das weiße Pferd.

Pommerle krallte die Hände entzückt in den Arm des Onkels. Das weiße Pferd hatte wieder den Federpuschel auf dem Kopf, ließ sich auf die Vorderbeine nieder und nickte mit dem Kopfe.

Pommerle klatschte wie rasend, und alle anderen Kinder taten dasselbe. Dann gab es noch allerlei Wunderbares. Das Pferd sprang durch einen Reifen, der mit Papier beklebt war; es stand auf den Hinterbeinen, es begann sogar ein wenig zu tanzen, es legte sich auf die Erde, und immer wieder klatschte Pommerle, daß ihm die kleinen Hände weh taten.

Dann rollten sich zwei buntbemalte Männer in die Manege, die sahen so sehr zum Lachen aus, daß Pommerle vor Entzücken laut aufschrie. Sie begrüßten die Kinder, warfen die spitzen Mützen in die Luft und fingen sie mit dem Kopfe wieder auf. Dann begannen sie allerlei zu erzählen. Es war nichts als dummes Zeug, worüber die Kinder vor Freuden laut jauchzten. Einer der Clowns stellte verschiedene Fragen an die Zuschauer, die lachend beantwortet wurden.

»Nun sagt 'mal, liebe Kinder, welche Vögel können nicht hören?«

»Alle Vögel können hören,« tönte es zurück.

»Ach – seid ihr dumm!« lachte der Clown, »die Tauben können nicht hören. – Und wißt ihr auch, wie die Frau von einem Portier heißt?«

»Frau Müller,« rief Pommerle, denn die Nachbarsleute in Hirschberg hatten in ihrem Hause einen Portier, der den Namen Müller trug.

»Falsch geraten!« sagte der Clown, indem er zu Pommerle die spitze Mütze schwenkte, »die Frau vom Portier heißt Portiere!«

So ging es weiter, und immer belohnte lautes Gelächter die beiden Spaßmacher.

Aber dann kam das Schönste von allem – die rosa Fee ritt auf dem weißen Pferd in die Manege. Pommerle winkte ihr zu. Das Pferd begann herumzulaufen, die kleine Reiterin erhob sich, stand auf dem Sattel, nahm ein Seil und begann zu springen. Dann ließ sie sich vom Rücken des Pferdes herunter, sprang wieder hinauf, stand im nächsten Augenblick aufrecht auf dem Rücken des Tieres, und jetzt – – das Kind faltete angstvoll die Hände – jetzt sprang sie durch einen vorgehaltenen Reifen und stand wieder auf dem Rücken des Pferdes. Es war Pommerle, als ob es träume. Und als die Reiterin die Manege verließ, da verlangte Pommerle stürmisch, daß sie noch einmal kommen möge.

Es gab noch allerlei wunderbare Sachen anzustaunen. An der silbernen Stange schaukelte ein Mann in seinem blauen, silbernen Anzug, und dann kam noch einer, der lief auf einem gespannten Drahtseil hin und her.

Pommerle erwachte wie aus einem Traum, als die Tante das Kind anrief und ihm sagte, es sei nun alles zu Ende, man wolle heimgehen.

Aber man wanderte noch nicht heim. Man ging erst in den Stall zu den Pferden, zu dem weißen und dem braunen, das ebenfalls in der Manege seine Kunststücke gezeigt hatte, und jedes bekam seinen Zucker, Pommerle war noch voller Aufregung, und auf dem Heimwege machte es die merkwürdigsten Sprünge, es wollte es der schönen Reiterin gleichtun, die auf dem Rücken des weißen Pferdes herumgehüpft war.

Daheim fiel es bald dem Onkel, bald der Tante um den Hals.

»Oh,« sagte es begeistert, »das war heute der allerschönste Tag in meinem langen Leben, so etwas werde ich wohl nicht wieder erleben!«

»Wenn du auch weiter unser liebes, folgsames Kind bleibst, darfst du im nächsten Jahre wieder in einen Zirkus gehen.«

»Ach, wenn es doch erst im nächsten Jahre wäre!« seufzte die Kleine. »Tante, hast du gesehen, wie schön sie war?«

»Freilich, mein liebes Pommerle, sie war sehr schön.«

Den ganzen Abend über sprach das Kind nichts weiter als von den herrlichen Darbietungen des kleinen Wanderzirkus. Zunächst war sogar die kleine Kochmaschine vergessen, die auf das Kind einen so tiefen Eindruck gemacht hatte.

Als Pommerle am Abend in seinem Bettchen lag, als die Tante ihm den Gutenachtkuß gab, sagte es ernsthaft:

»Liebe, liebe Tante, nun weiß ich endlich, ich werde auch mal so 'ne rosa Reiterin, dann ziehe ich durch die ganze Welt und mache allen Leuten große Freude.«

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