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Pommerle verirrt sich und wird von Rübezahl gefunden

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Inhaltsverzeichnis

Für Jule stand es fest, daß er sich die günstige Gelegenheit, Rübezahl zu besuchen, nicht länger entgehen lassen dürfe. Morgen früh wollte er dem Pommerle Krummhübel zeigen. In Krummhübel gab es aber, seiner Meinung nach, gar nichts zu sehen. Es war viel richtiger, man machte auf eigene Faust eine Tour und kletterte hinauf zur Schneekoppe. Wenn man über das Gehänge hinauf ging, konnte man am Nachmittage wieder zurück sein. Professor Bender würde heute gewiß nicht viel unternehmen, und er würde es sich denken können, daß Jule mit Pommerle ein wenig weiter gegangen war. Brachte er ihm dann einige Steine und Moose mit, war der alte Herr gewiß zufrieden.

Jule hatte gesehen, daß Pommerle einen blanken Taler besaß. Den sollte ihm die Kleine zahlen, dafür wollte er sie hinauf zur Koppe führen. Für einen Taler konnte er sich dann unendlich viele Lakritzenstangen kaufen, denn Lakritzenstangen waren die Sehnsucht Jules.

So beschloß er, Pommerle am anderen Morgen beizeiten zu wecken und klopfte bereits gegen vier Uhr an die Tür des Schlafzimmers.

Frau Bender wurde munter, schalt Jule, der zum Aufstehen drängte, aus und verlangte auch von Pommerle, daß es noch mindestens zwei Stunden schlafen solle.

Das kleine Mädchen wollte folgen, aber es gelang ihm nicht mehr, einzuschlafen. Es wälzte sich unruhig auf seinem Lager umher, so daß Frau Bender endlich gegen fünf Uhr ihm die Erlaubnis gab, sich anzuziehen, aber es solle nicht zu weit vom Hause fortgehen.

»Du hast ja Jule bei dir, er kennt sich in der Gegend genau aus. Sei aber recht brav, mein Kind.«

So stand denn das kleine Mädchen lange vor sechs Uhr vor Jule, und nun flüsterten die beiden Kinder eifrig miteinander.

»Erst gehen wir hinauf zur Schneekoppe und dann zum Rübezahl,« erklärte der Knabe.

»Ich darf aber nicht weit weggehen,« warnte Pommerle.

»Das ist gar nicht so weit. – Komm nur mit.«

»Führst du mich auf den allerhöchsten Berg?«

»Freilich, aber du mußt mir dafür den blanken Taler schenken.«

»Kann ich von dort aus die Ostsee sehen?«

»Bis nach Amerika kannst du schauen.«

»Gut, – dann sollst du den Taler haben.«

»Hast du sonst noch mehr Geld? Wir müssen unterwegs doch was haben. Wenn wir Hunger kriegen, müssen wir was essen.«

Pommerle griff in die Tasche seines Kleides, zog eine Geldbörse heraus, die aber nur wenige Pfennige enthielt.

»Ist verdammt knapp,« meinte Jule, »aber wir lassen uns von dem Manne an der Tür etwas Vorrat einpacken.«

Unten im Speisesaale war alles noch still und menschenleer. Einige Hausmädchen waren an der Arbeit, die Räume zu säubern. Jule näherte sich ihnen und verlangte dreist etwas Proviant.

Man wies ihn an den Pförtner; der rief einen anderen Mann, und schließlich erreichten es die Kinder, daß sie eine Anzahl Brötchen bekamen, die sie in den Taschen unterbrachten.

»Schreiben Sie das alles auf die Rechnung von Nummer sieben,« sagte er selbstbewußt. »Dort wohnt der Herr Professor Bender, der zahlt.«

Dann wanderten die Beiden davon.

»Mach nur, daß wir recht rasch auf den hohen Berg kommen«, drängte das Mädchen.

»Mach nur, daß wir recht rasch auf den hohen Berg kommen, aber ich helfe dir, wenn du nicht weiterkannst.«

Die beiden Kinder waren in freudigster Stimmung, hin und wieder traf man Touristen. Jule hatte häufig dreiste Bemerkungen auf den Lippen. Es machte ihm großes Vergnügen, fern von jeder Aufsicht die vorübergehenden zu hänseln.

Auch jetzt grinste er wieder einen Herrn vergnügt an, der, die Mütze in der Hand, den Kindern entgegen kam. Auf dem Kopf fehlten die Haare, aber das beeinträchtigte die freudige Stimmung des hurtigen Wandersmannes nicht im geringsten.

»Guten Morgen, ihr Strolche!« rief er den beiden Kindern zu.

Pommerle erwiderte den Gruß mit einem artigen Knix, aber Jule blieb stehen, stemmte die Arme in die Hüften, besah sich die Glatze des Herrn und sagte hohnvoll:

»He, – Sie, – Sie haben sich wohl mit dem Rasiermesser gekämmt?«

»Was willst du, Lümmel?«

Jule lachte den Fremden dreist an. Da fühlte et einen derben Schlag auf der Wange. Und ehe Jule seine Fassung zurückgewonnen hatte, war der Gehänselte weitergegangen.

Diese Lektion hatte doch ein wenig auf ihn gewirkt. Er war kleinlaut geworden; so führte Pommerle die Unterhaltung.

»Gibt es hier denn gar keine Fischer, Jule?«

»Nein.«

»Was ist denn dein Vater, Jule?«

»Der ist tot.«

»Was war denn aber dein Vater, als er noch nicht tot war?«

»Nu, lebendig.«

»Ach, Unsinn, Jule, ich meine, was er getan hat? Mein Vater hat gefischt.«

»Das weiß ich nicht.«

Auch alle anderen Versuche, von dem Knaben belehrt zu werden, schlugen fehl. Jule wußte niemals eine rechte Antwort; er schimpfte auf die Lehrer, auf die Schule, überhaupt auf alles, was Arbeit und Mühe machte.

»Gar keine Gerechtigkeit gibt es mehr auf der Welt,« erklärte er, »wenn ich Geld verdienen will, muß ich dafür schwitzen und arbeiten. Aber bei den Lehrern ist das gerade umgedreht. Die bekommen bannig viel Geld, und die Kinder müssen dafür lernen und arbeiten. Ich werde auch Lehrer.«

»Dafür bist du viel zu dumm, Jule.«

Allmählich verstummte die Unterhaltung, denn der Weg ging steil bergan. Jule hatte die Straße über das Gehänge erwählt, um möglichst rasch hinauf zum Kamm zu gelangen, denn von dort aus wollte man weiter zum Gipfel der Schneekoppe emporsteigen.

Zwei Damen kamen den Kindern entgegen. Beide schienen schon müde zu sein. Sie hatten die Rucksäcke vom Rücken getan und hielten Rast.

Als die Kinder bis dicht an sie herangekommen waren, rief eine der beiden Damen den Knaben an.

»Willst du uns die Rucksäcke nicht hinunter nach Krummhübel tragen, mein Junge?«

»Das kann ich schon, aber ob ich will?«

»Warum willst du denn nicht?«

»Was bekomme ich dafür?«

»Zwei Mark.«

»Drei Mark.«

»Das ist etwas viel, mein Junge.«

»Komm, Pommerle. – Dann tragen Sie sich Ihre Rucksäcke alleine.«

»Wir können nicht mehr. Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugetan. Also meinetwegen, du sollst drei Mark haben.«

Pommerles Gesicht nahm einen unglücklichen Ausdruck an.

»Gehen wir nicht hinauf?«

Jule überlegte einige Augenblicke, von Krummhübel war man nicht gar zu weit entfernt. Wenn er sich beeilte, konnte er in zwei guten Stunden wieder hier sein. Pommerle schritt ohnehin nicht so rüstig aus wie er, so sollte das kleine Mädchen ruhig vorangehen, im Schlesierhaus, ganz dort oben, sollte es ihn erwarten.

Als er ihr den Vorschlag machte, wurde die Kleine zwar etwas ärgerlich. Da aber Jule erklärte, daß sie sich nicht verlaufen könne, sondern nur immer diesen Weg weiterzugehen brauche, willigte sie schließlich ein, denn die Sehnsucht, von dem höchsten Berge endlich die Ostsee wiederzusehen, war so stark in ihr, daß alle anderen Bedenken schwiegen.

Während Jule kehrtmachte und mit den beiden Damen wieder zu Tale stieg, ging das kleine Mädchen rüstig bergan. Kein Mensch begegnete ihm. Gewissenhaft behielt es die vor ihr sichtbare Baude im Auge, und so erreichte sie das Schlesierhaus nach Verlauf von weiteren zwei Wanderstunden. Immer wieder schaute sie sich nach ihrem Begleiter um. Er hatte ihr gesagt, daß er gleich wieder zurück sein werde. Nun kam er nicht.

Pommerle setzte sich in die Nähe der Baude nieder. Ein junges Mädchen trat heran und fragte das Kind, woher es käme und wohin es wolle, Pommerle gab gewissenhaft Auskunft und sagte, der Jule käme sogleich nach. Auch einige Touristen blieben bei dem Kinde stehen, und schließlich kam der Baudenwirt und brachte der Kleinen ein Glas Milch und ein Brötchen.

»Komm nur herein und warte hier im Zimmer auf den Jule.«

In der Baude waren mehrere Gäste. Man lachte und scherzte, und gedrückt setzte sich das Kind in eine Ecke und lauschte. Zwei übermutige Burschen traten an die Kleine heran.

»Na, willst du auch übers Gebirge wandern, willst wohl zum Rübezahl?«

»Ja.«

»Was willst du denn von ihm haben?«

Pommerle schüttelte den Kopf. Jule hatte ihr gesagt, man dürfe seine Wünsche niemandem verraten.

»Na, dann grüße den alten Rübezahl und sage ihm, er soll auch uns nicht vergessen.«

Pommerle wurde jetzt ein wenig zutraulicher.

»Wenn man noch weiter hinauf steigt, kann man dann ganz furchtbar weit sehen?«

»Freilich, aber dazu mußt du bis hinauf auf den Gipfel der Koppe steigen.«

Pommerle versank schon wieder in Nachdenken. Es mußte unbedingt auf den hohen Berg hinauf, denn von hier aus sah es gar nichts von der See. Da waren noch zu viele Berge, die eine Fernsicht nicht zuließen. Aber wenn es oben auf dem allerhöchsten Berge der ganzen Erde stand, mußte man über alles hinwegschauen können.

Immer ungeduldiger wurde das kleine Mädchen, denn Jule kam noch immer nicht. Es lief schließlich aus dem Baudenzimmer hinaus und schaute sehnsuchtsvoll dem Gipfel der Koppe entgegen; die blauen Augen hefteten sich an den deutlich sichtbaren Zickzackweg, und der Wunsch wurde von Minute zu Minute reger, hinaufzusteigen, um endlich die langentbehrte Ostsee wieder zu sehen.

Wo blieb nur Jule? Aber er wollte ja auch hinauf zum Gipfel. Am Ende hatte er ihn schon erreicht und war gar nicht erst in die Baude hineingekommen. Ganz sicher war es so. Er stand längst dort oben und wartete auf sie.

Es gab jetzt für das kleine Mädchen kein Halten mehr. Der Weg hinauf war so klar vorgezeichnet, man konnte ihn nicht verfehlen. So machte sich Pommerle auf, um empor zum Gipfel der Schneekoppe zu steigen.

Unterwegs begegnete es einem Ehepaar. Die Leute hielten das kleine Mädchen an.

»Wo willst du denn so ganz alleine hingehen, Kleine?«

»Dort hinauf.«

»Ganz allein?«

»Der Jule ist schon oben.«

Da das Ehepaar kurz vorher zwei junge Leute getroffen hatte, glaubte man, daß die Kleine zu jenen gehöre, und so ging man mit einem freundlichen Gruß weiter. Es war nichts Ungewöhnliches, daß die schlesischen Bergkinder allein weite Wege zurücklegten, ihnen waren die Berge ja so vertraut.

Aber Pommerle wurde doch recht müde. Es raffte sich aber immer wieder auf. Jetzt war ja der Augenblick nicht mehr weit, daß es bis nach Pommern hinblicken und seine lang entbehrte Ostsee wiedersehen konnte.

Nach einstündigem scharfen Steigen war der Gipfel erreicht. Pommerles Gesichtchen glühte. Die letzten hundert Meter lief es keuchend hinan, jetzt, – jetzt mußte sich gleich das weite Wasser zeigen. Das kleine Mädchen hatte kein Auge für die Bauden, die auf dem Gipfel standen, erregt lief es daran vorbei, um endlich Umschau zu halten.

All' die Schönheiten, die sich vor den Augen der Kleinen ausbreiteten, das weite Hirschberger Tal, die ungezählten Berggipfel zu seinen Füßen machten keinen Eindruck auf das Kind; es suchte mit weit geöffneten Augen nach dem Meere. Immer erregter lief es hierhin und dorthin, und immer angstvoller klomm in dem kleinen Herzen die Frage auf: wo liegt die See?

Ueberall das gleiche Bild, vielleicht waren die kleinen Ortschaften dort weit hinten schon Pommern. Aber das Meer war nirgends sichtbar.

Pommerle merkte es nicht, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen, Tränen bitterster Enttäuschung. Es suchte noch immer nach der heißgeliebten See, die es von hier oben zu sehen gehofft hatte, die aber selbst hier, auf dem höchsten Berge, noch immer nicht sichtbar war.

Diese Enttäuschung war zu groß für Pommerle. Es rief mit lauter flehender Stimme nach Jule, und als keine Antwort kam, ließ sich das ermüdete Kind auf einen Stein nieder, schlug die Händchen vor das Gesicht und weinte herzbrechend.

Man hatte das kleine Mädchen, das so erregt hin und her eilte, bald bemerkt, hatte aber geglaubt, daß es zu den angekommenen Touristen gehöre. Da das aber nicht der Fall zu sein schien, begab sich einer der in der Baude Angestellten hinaus zu dem weinenden Kinde.

»Wo kommst du denn her, Kleine?«

Pommerles Jammer war so grenzenlos, daß es die Frage überhörte. Erst als der Mann das Kind ein wenig aufrichtete und nochmals freundlich fragte, wurde ihm klar, daß es gänzlich allein war.

All' die heiße Sehnsucht drängte sich jetzt nochmals in die einzige Frage zusammen: »Wo ist die See?«

»Was denn für eine See, kleines Mädchen?«

»Die Ostsee,« schluchzte Pommerle.

»Warum willst du denn gerade die Ostsee sehen, Kleine? Die kannst du von hier aus nicht erblicken.«

»Wo ist denn Pommern?«

»Weit fort von hier. Wir sind hier in Schlesien.«

Neues Schluchzen kam aus der Brust der Kleinen.

»Kann man denn niemals die See von hier sehen?«

»Kommst du aus Pommern?«

»Ja.«

»Wie kommst du denn so ganz allein hier herauf?«

Es war anfangs nicht viel aus dem weinenden Kind herauszubekommen. Es konnte ja nicht daran glauben, daß dieser mühevolle Aufstieg vergeblich gewesen sei, und daß man von dem höchsten Berge nicht die Ostsee sah. Immer wieder schluchzte das kleine Ding weh auf.

»Komm mal mit hinein, ich gebe dir ein Stück Schokolade, und dann wirst du uns erzählen, woher du kommst.«

Bald war Pommerle von neugierigen Fragern umringt. Allerlei Vermutungen wurden ausgetauscht, denn noch immer sah man nicht klar, auf welche Weise dieses pommersche Strandkind allein auf die Koppe gekommen war. Aber endlich erfuhr man doch, daß Pommerle mit seinen Pflegeeltern ins Gebirge gekommen war und daß man in einem schönen Hotel unten im Tale wohne. Den Namen des Ortes konnte die Kleine freilich nicht nennen, wohl aber wußte sie, daß man in Hirschberg lebe und daß Professor Bender sein Pflegevater sei.

Eine der anwesenden Touristinnen begann jetzt heftig auf das kleine Mädchen zu schelten.

»Schämst du dich denn nicht, ohne Wissen den Pflegeeltern davonzulaufen? Bist ja ein nettes Früchtchen. Warte nur, wenn dich die Grenzjäger gesehen hätten. Mit solchen kleinen Ausreißern macht man in Schlesien sein Federlesen. Du mußt doch wissen, wohin du gehörst.«

Pommerle war blaß vor Schreck geworden, so harte Worte hatte es noch niemals gehört.

»Wenn du jetzt nicht gleich sagst, woher du gekommen bist, benachrichtigen wir die Polizei, die wird dich dann zum Reden bringen.«

»Ich wollte doch nur die See sehen,« schluchzte das Kind. »Ich bin immer weiter hinaufgestiegen. Es waren lauter Steine, und zuletzt war alles Wald.«

»Wie heißt denn der Ort, aus dem du kommst?«

»Ich weiß es nicht,« weinte das Mädchen.

»Das glaubt dir doch niemand. Weggelaufen ist das Ding! Am besten wäre es, wir telephonieren zur Polizei und melden, daß hier ein Mädchen zugelaufen ist. Die Pflegeeltern werden in größter Sorge sein und angstvoll die kleine Unart suchen.«

Pommerle wurde glühendheiß vor innerer Angst. Die Polizei! Deutlich stand ein schreckliches Bild vor seiner Seele. Am Strande war es gewesen. Da hatten zwei Polizisten einen fremden Mann gepackt; der wehrte sich heftig, aber die beiden Polizisten stießen den Aermsten unsanft vor sich her. So würde es ihr gewiß auch ergehen. Nein, dann wollte es lieber rasch den Weg abwärts eilen, den es hinaufgegangen war, um wieder zu jenen guten Leuten zurückzukommen, die ihr Milch und Brötchen gereicht hatten. Dort war man freundlich und gut zu ihr gewesen und hatte nichts von der Polizei gesagt, vielleicht war auch der Jule dort und wartete auf sie.

Scheu schaute Pommerle zur Tür. Fürs erste war es freilich unmöglich, das Zimmer zu verlassen, gar zu viele Neugierige standen um das kleine Mädchen herum. Aber vielleicht fand sich doch eine gute Gelegenheit, davonzulaufen. Immer wieder vernahm Pommerle die Stimme jener Dame, die von der Polizei sprach. Und jetzt meinte sogar der Baudenwirt, daß es das Beste sei, die Polizei zu benachrichtigen.

Das kleine Herz Pommerles klopfte wie ein Hammer. Nur fort von hier, fort, ehe es von dem Polizisten abgeholt wurde. Man gab ihm zu essen und zu trinken, aber die Kleine war viel zu erregt und brachte keinen Bissen herunter.

»Das Richtigste wird es sein,« sagte einer der Touristen, »wir nehmen die Kleine zum Schlesierhaus hinab, von dort aus können weitere Ermittlungen angestellt werden.«

»Bist du sehr müde, Kleine, oder kannst du noch etwas laufen?« fragte einer der Herren.

»Ich bin nicht müde,« kam es zitternd von den blassen Kinderlippen.

»So nehmen wir die Kleine mit hinunter ins Schlesierhaus. Der Baudenwirt kann dann alles weitere veranlassen.«

In einer halben Stunde sollte aufgebrochen werden. Pommerle malte sich die entsetzlichsten Bilder aus. Dort unten in dem Hause wartete sicherlich schon die Polizei, die es mitnahm. Aber es wollte nicht mit der Polizei gehen, es mußte doch zurück zu seinen Pflegeeltern. Den Weg wollte es schon finden. Er führte ja jetzt nur immer abwärts, und man konnte gewiß nicht fehlgehen.

Es gelang dem kleinen Mädchen tatsächlich, unbemerkt die Baude zu verlassen. Da man glaubte, daß sich die Kleine damit abgefunden habe, in Begleitung der beiden Touristen hinabzusteigen, achteten die anderen nicht weiter auf das Kind, und so entstand in Pommerle der verzweifelte Entschluß, ganz allein, wie es gekommen, den Weg wieder zurückzulegen. Ganz gewiß kam ihm dann Jule entgegen, der ja auch auf den hohen Berg wollte.

Zunächst verbarg sich Pommerle hinter einer der Bauden. Es ahnte ja nicht, daß von der Schneekoppe die verschiedensten Wege abwärts führten. Fast alle waren im gleichen Zickzack angelegt, und so war es wohl verständlich, daß es glaubte, in dem Wege, den es jetzt vor sich sah, den rechten wiederzufinden. Da im Augenblick niemand auf das kleine Mädchen achtete, hielt es das Kind für ratsam, den Rückweg anzutreten, um der vielleicht schon gerufenen Polizei zu entgehen.

Pommerle begann zu laufen. Bergab ging es wunderbar schön, jetzt würde es von keinem der Menschen dort oben mehr eingeholt werden. Es lief und lief, bis es schließlich atemlos halt machte. Weit und breit kein Mensch. Nun würde bald das Haus auftauchen, in dem die guten Leute wohnten, und dort würde auch Jule sein.

Aber das Haus war nirgends zu sehen, hätte Pommerle geahnt, daß es gerade auf der entgegengesetzten Seite der Schneekoppe hinabstieg und daß es das Schlesierhaus hier niemals finden würde, wäre ihm wohl doch Angst geworden. Aber noch lebte es in der Hoffnung, die Baude zu finden.

Pommerle wanderte weiter. Es ging jetzt nicht mehr bergab, sondern ziemlich eben fort. Aber je weiter es lief, um so ängstlicher wurde ihm zumute. Wo war das Haus, in dem man ihm die Milch gereicht hatte? Das Kind schaute sich nach allen Seiten um, aber nur Steine und weite Flächen, die mit Knieholz bedeckt waren, konnte man sehen, vor der Kleinen tauchte jetzt ein zweiter Berg auf. Pommerle blieb stehen. Dann rief es angstvoll nach Jule.

Immer lauter und ängstlicher wurde sein Rufen. Das Kind eilte hin und her, das kleine Herz klopfte vor Angst. Dabei begann es langsam zu dämmern, und noch immer hatte das verirrte Kind das ersehnte Haus nicht gefunden.

Das kleine Mädchen begann zu weinen, lief aber trotzdem angstvoll weiter, immer noch hoffend, dem Jule zu begegnen.

Allmählich bemächtigte sich des umherirrenden Kindes große Müdigkeit. Die kleinen Füße wurden schwerer und immer schwerer, und schluchzend setzte es sich endlich auf einen Stein nieder, lauter denn je nach Jule rufend.

Als aber niemand kam, trieb die Angst das Kind weiter vorwärts. Ob es zurückging zu dem Hause mit den bösen Menschen oben auf dem Berggipfel? Das Kind schauderte zusammen. Nein, dort oben war jetzt sicherlich schon die Polizei angekommen. – War denn niemand hier, der ihm half?

Pommerle bereute es jetzt, mit Jule so weit fortgegangen zu sein. Es rief nach Onkel und Tante, aber das Stimmchen verhallte ungehört.

Die Angst trieb der Kleinen dicke Schweißtropfen auf die Stirn. Wenn es ganz dunkel wurde, kamen vielleicht böse Tiere und taten ihm ein Leid an. Wo wollte es schlafen? Es konnte doch nicht die ganze Nacht hier, auf dem Steine sitzend, zubringen.

Pommerle hüllte sich fester in sein Mäntelchen ein. Eben war ihm noch heiß gewesen, jetzt fror es jämmerlich. Dabei zitterten ihm die Füße, daß es sich erneut niedersetzen mußte.

»Lieber Gott,« rief es weinend, »bring mir den Onkel und die Tante oder den Jule her, ich will auch immer artig sein! Laß mich das Haus mit den guten Leuten finden!«

Angstvoll wartete die Kleine, aber als sich auch jetzt nichts regte, sprach sie mit frommem Herzen ein Vaterunser, in der Hoffnung, daß ihr dadurch Hilfe werde.

Mitten im Gebet hielt sie plötzlich inne. Hatte der Jule nicht gesagt, daß in diesen Bergen Rübezahl wohne, und daß Rübezahl noch viel mehr könne als der liebe Gott? Der könnte Steine in Gold verwandeln, konnte mit seinem Mantel durch die Luft fliegen. Er half allen guten Menschen.

»Rübezahl!« rief Pommerle kleinlaut.

Wenn Rübezahl allen guten Menschen half, kam er sicherlich nicht zu ihr. Pommerle wußte sehr genau, daß es nicht hätte so weit von den Pflegeeltern fortlaufen dürfen. Was würden Onkel und Tante sagen, wie würden sie sich ängstigen.

»Rübezahl – Rübezahl – sei mir nicht böse, ich will es auch nicht wieder tun. Ich wollte ja nur die See sehen, darum bin ich auf den hohen Berg gestiegen. – Komm, Rübezahl, und trage mich nach Hause!«

Der Abendwind fuhr durch das niedere Gehölz, Pommerle horchte erschreckt auf. War das der Berggeist, der dahergebraust kam? Es zitterte vor Angst, und doch wartete es sehnsüchtig darauf, daß ihm Rübezahl zu Hilfe käme.

»Rübezahl!« Immer jämmerlicher klang das Rufen des verängstigten Kindes, immer heftiger klopfte das kleine Herz, immer verzagter wurde ihm zumute. Jetzt war es, als tauchten aus dem niederen Gehölz die verschiedensten Gestalten auf. Entsetzt sprang das kleine Mädchen auf, schrie laut, eilte davon, stürzte über Wurzeln, erhob sich zitternd und eilte wie gejagt weiter, immerfort von Entsetzen gepeinigt rufend:

»Rübezahl – Rübezahl!«

Ihm war es plötzlich, als versage ihm der Atem. Es keuchte nach Luft. Was war das für ein schwarzer, böser Mann, der sich dort aus dem Gehölz erhob? Mit einem Schrei fiel Pommerle zurück, drückte beide Hände fest vor die Augen und wartete darauf, daß der böse Mann über das verängstigte Kind herfallen werde.

Es war niemand zu sehen. Der Wind hatte einen verkrüppelten Ast emporgehoben, und in der Dämmerung hatte das verängstigte Mädchen geglaubt, einen Menschen zu sehen.

Eine ganze Weile lag Pommerle still auf dem steinigen Boden, dann versuchte es erneut vorwärts zu eilen, aber die Erregung hatte ihm die Kräfte genommen, völlig erschöpft sank das Kind am Wege nieder; nochmals kam ein Ruf an Rübezahl über die zitternden Lippen, dann schlossen sich die blauen Augen.

Von der schwarzen Koppe her kam eiligen Schrittes ein Herr. Er wollte noch heute hinab nach den Koppenhäusern, um dort zu übernachten. Der Maler Paeschke hatte sich ein wenig verspätet, da er aber die schlesischen Berge gut kannte, wußte er genau Bescheid und war ohne Sorgen, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. Eine lange Pelerine schützte ihn vor der abendlichen Kälte. Den großen graugrünen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, mit dem derben Gebirgsstocke wanderte er, ein Liedlein pfeifend, fröhlich des Weges.

Maler Paeschke war ein großer Künstler, der schon viele schöne Bilder hergestellt hatte. Er war auf seinen Reisen bis nach Amerika und Asien gekommen, aber immer wieder zog es ihn zurück nach Deutschland und in seine schlesische Heimat. So hatte er auch in diesem Jahre die Maitage dazu benutzt, um wieder einmal die schlesischen Berge zu durchstreifen. Er war etwa fünfzig Jahre alt, groß und schlank, sein blonder Vollbart hing ihm bis auf die Brust herab.

Der Wanderer mußte jetzt gut auf den Weg achten, denn Gestein und Wurzeln machten sich hier unangenehm bemerkbar. Mitunter stolperte er sogar ein wenig, aber das tat seiner fröhlichen Laune nicht den geringsten Abbruch.

Plötzlich blieb er stehen. Was lag denn dort unter dem Gebüsch? War das nicht ein Kind? Ein Mädchen in buntem Röckchen, mit einem Mäntelchen bekleidet.

Paeschke schritt näher. Richtig, da lag ein Kind von etwa acht Jahren, mit geschlossenen Augen, vollkommen regungslos.

Wie kam das kleine Ding jetzt in der Abendstunde in diese Einöde?

»He, holla!«

Das Kind rührte sich nicht.

Sofort kniete der Maler nieder, nahm den Kopf des völlig erschöpften Mädchens auf seinen Schoß und rüttelte die Kleine ein wenig.

»Holla, Kleine!«

Langsam schlug Pommerle die Augen auf. Im ersten Augenblicke konnte es sich nicht zurechtfinden.

»Nun sage mal, kleines Mädchen, was machst du denn hier mitten im Gebirge. Bist du krank?«

Nur zu rasch kam Pommerle die Erinnerung an die letzten furchtbaren Stunden. Erschreckt wollte es aufspringen, da fiel sein Blick auf den langen Bart des Mannes, auf den großen graugrünen Hut.

»Rübezahl,« sagte Pommerle leise und schaute mit glücklichen Augen den Mann an, der jetzt seine Flasche hervorzog.

»Nun trinke mal erst ein wenig, Kleine, und dann erzähle mir, wie du so mutterseelenallein hierher kommst.«

»Lieber, guter Rübezahl, bring mich wieder heim.«

»Das will ich schon machen, Kleine, nur sage mir, wo du hingehörst? – Bist du denn ganz allein hier in den Bergen?«

»Nicht wahr, du holst nicht die Polizei?«

»Warum sollte ich denn die Polizei holen? Wo sind denn deine Eltern?«

Der Gedanke an den Vater trieb Pommerle die Tränen in die Augen; dazu kam die furchtbare Aufregung, die es durchgemacht hatte, und so begann die Kleine herzzerbrechend zu weinen.

Paeschke nahm den Blondkopf der Kleinen und drückte ihn an seine Brust.

»Mußt nicht weinen, Rübezahl ist jetzt bei dir und hilft dir.«

»Du guter, lieber Rübezahl, ich habe ja so toll nach dir gerufen.«

»Wie kommst du aber hierher, kleines Mädchen? Jetzt mußt du dem Rübezahl die volle Wahrheit sagen? Er weiß alles, nur will er sehen, ob du ein braves Kind bist. Wenn du mir jetzt alles ganz aufrichtig erzählst, bringe ich dich wieder nach Hause.«

»An die See?« In den wenigen Worten lag helles Jauchzen.

»Kommst du denn von der See?«

»Ich bin doch das Pommerle!«

»Richtig ja, du bist ja das Pommerle,« sagte der Maler, »sieh mal, das hätte der Rübezahl jetzt beinahe vergessen. Ja, ja, du bist ja das kleine Pommerle und willst wieder an die See zurück, weil es dir im Gebirge nicht gefällt.«

»Ach ja.«

»Und nun soll dich der Rübezahl wieder nach Pommern zurückbringen?«

»Ich setze mich mit auf deinen Mantel, und dann fliegen wir zurück zum Vater, vielleicht ist der Vater inzwischen zurückgekommen. Die Tante sagt zwar, er ist beim lieben Gott im Himmel, aber er wird gewiß noch einmal zurückkommen.«

Paeschke sah ein, daß er hier nicht länger verweilen durfte. Der Weg bis zur Koppe war noch sehr weit, es war völlig undenkbar, das stark ermattete Kind bis hinauf zu den Koppenhäusern zu bringen. So überlegte er, wo wohl die nächste Unterkunftsstätte zu finden sei. Er beschloß, durch den Eulgrund hinab nach Wolfshau abzusteigen. Schon vor dem kleinen Orte lag ein Forsthaus, dort konnte man vielleicht eine Stärkung erhalten.

»Das beste wird wohl sein, kleines Pommerle, wenn wir zusammen weitergehen. Unterwegs erzählst du mir dann, woher du kommst und wohin du willst.«

Pommerle hatte das größte Vertrauen zu seinem Begleiter. Es hatte immer gehört, daß Rübezahl hilfsbereit sei; und da ihm Rübezahl in größter Not erschienen war, war es doch selbstverständlich, daß ihm der gute Berggeist auch weiterhin Beistand leisten würde. Schon nach wenigen Schritten merkte der Maler, daß das kleine Mädchen völlig erschöpft war. Er hielt es fest an der Hand, aber Pommerle stolperte unausgesetzt. Was war hier zu machen? Bis zu einem schützenden Dach war es noch weit; es war kaum anzunehmen, daß zu so später Stunde auf diesem ohnehin einsamen Wege noch ein Wanderer kam, um das Kind zu tragen, dazu war es zu groß und zu schwer. Ein Weilchen war es ihm vielleicht möglich, Pommerle auf den Rücken zu nehmen, aber der Weg war teilweise so schlecht, daß er selbst Mühe hatte, weiterzukommen.

Nochmals rasten ging auch nicht an, denn hier im Gebirge wurde es schnell dunkel und kalt.

Man war kaum eine Viertelstunde gelaufen, Pommerle atmete schwer und mühsam.

»Komm, steig auf meinen Rücken.«

In Pommerles Augen leuchtete es auf. »Jetzt fliegen wir,« jubelte es.

»Noch nicht, erst laufen wir noch ein wenig.«

»Und dann fliegst du mit mir an die See?«

Schweigend setzte man den Weg fort, Pommerle hatte die Arme um den Hals des Malers geschlungen und saß fest und sicher auf seinem Rücken. Hastig schritt Paeschke aus, sorgsam auf jeden Schritt achtend, daß er nicht stolpere. Er hatte von Pommerle alles Wissenswerte erfahren, leider aber konnte das Kind den Ort nicht nennen, in dem die Pflegeeltern weilten. Er hatte alle Ortschaften namhaft gemacht, von Agnetendorf, Brückenberg, Schreiberhau, Krummhübel gesprochen, aber Pommerle hatte alle diese Namen während der Reise von Tante Bender gehört, wußte aber nicht, in welcher Ortschaft man sich niedergelassen hatte.

Paeschke, der das Gebirge genau kannte, hatte versucht, aus dem Wege, den das Kind genommen, zu ergründen, von woher es aufgestiegen sei. Aber die Beschreibung, die Pommerle ihm gab, war sehr mangelhaft.

»Hinter den Häusern sind wir aufwärts gegangen und dann über viele Steine noch weiter aufwärts. Dann hat der Jule zwei Frauen getroffen, ist nochmals zurückgegangen, und mir hat er gesagt, ich sollte zu dem Hause hinaufgehen, das da oben steht. In dem Hause waren gute Leute, die haben mir Milch gegeben, und dann bin ich auf den ganz hohen Berg hinaufgegangen – aber die Ostsee habe ich dort doch nicht gesehen.«

Der Maler hatte sich vorgenommen, von dem Forsthause Wolfshau aus zu telephonieren. Daß Pommerle aus Hirschberg kam, hatte er sicher erfahren. Auch den Namen des Professors Bender kannte das Kind, und da Paeschke mehrere Wochen in Hirschberg im Vorjahre gelebt hatte, war ihm sogar der Professor vom Sehen bekannt. So wollte er sich sogleich, wenn er zum Förster kam, mit Hirschberg in Verbindung setzen. Aber ein Ausweg war das noch nicht, denn ohne Zweifel weilten Benders zur Zeit nicht in Hirschberg, sondern waren im Gebirge.

Immer neue Fragen stellte der Maler an das Kind.

»Wie sehen denn die Häuser aus in dem Orte, in dem du gestern warst? Ist dort kein Gasthaus? Weißt du vielleicht den Namen des Gasthauses?«

Und wieder gab Pommerle Beschreibungen von Häusern, die für jeden Ort paßten. Es erzählte, daß man von den Zimmerfenstern aus die Berge sehen konnte, daß viele kleine Gärten vor den Häusern wären, und daß das Haus gerade gegenüber herrliche rote Fensterläden habe.

Pustend und keuchend schleppte der Maler seine Last zu Tale. Auf die Dauer wurde ihm die Kleine schwer, aber er sah ein, daß das Pommerle, das den ganzen Tag in den Bergen umhergelaufen war, nicht noch mehr leisten durfte. Das Köpfchen der Kleinen fühlte sich ohnehin heiß an, mitunter fröstelte sie.

Endlich war das Ziel erreicht.

»So, kleines Pommerle, nun steige ab.«

»Sind wir jetzt bei dir in deinem Schlosse, lieber Rübezahl?«

»Wir sind in einem Forsthause, bei guten Leuten.«

Pommerle klammerte sich ängstlich an die Hand ihres Begleiters.

»Ist hier die Polizei?«

»Hab keine Sorge, kleines Pommerle, zum Rübezahl kommt keine Polizei. Rübezahl behütet dich jetzt, und wenn du gut geschlafen hast und gründlich ausgeruht bist, bringt dich der Rübezahl zu deiner Tante zurück.«

»Bring mich doch lieber an die See!«

Paeschke strich dem Kinde zärtlich über das Lockenhaar.

»Du kleiner Strandvogel, hast du solche Sehnsucht nach Strand und Meer?«

»Bring mich an den Strand,« rief Pommerle nochmals voller Sehnsucht, »und wenn es nur für morgen ist. Ich möchte so gerne mal wieder die See sehen, hier rauscht kein Wasser, hier erzählt mir niemand so schöne Geschichten. – Hast du auch schon mal die See gesehen?«

»Ei freilich, kleines Mädchen.«

»Bist du hingeflogen, Rübezahl?«

»Das erzähle ich dir alles morgen, Pommerle. Jetzt bringe ich dich hier ins Haus, und du schläfst schön, träumst von den Möven, von den Muscheln und dem weißen Sand, kriegst erst noch was Gutes zu essen, und morgen ist alles wieder gut.«

Der Maler klopfte an die bereits verschlossene Tür des Forsthauses. Da es schon spät war, konnte er mit Bestimmtheit annehmen, daß die Förstersleute bereits zur Ruhe gegangen waren. Wohl lag Wolfshau nicht mehr zu weit von hier entfernt, aber auch Paeschke war ermüdet und hoffte, bei den gutherzigen Förstersleuten wenigstens für das Kind eine Lagerstätte zu bekommen.

Er ging um das Haus herum, klopfte an die Fensterläden. Jetzt vernahm er von innen heraus eine Stimme, die fragte, was es draußen gäbe.

»Ich bringe eine kleine Verirrte, die nicht mehr weiter kann, und bitte um Einlaß.«

Drinnen wurde es hell, und wenige Minuten später öffnete der Förster die Haustür. Paeschke berichtete mit kurzen Worten, was sich unterwegs ereignet hatte.

»Wenn es Ihnen irgend möglich ist, Herr Förster, nehmen Sie das Kind auf, es fiebert bereits, und ich möchte nicht noch weiter mit ihm gehen.«

Auch die Förstersfrau kam herbei und nahm sofort das ängstlich dreinblickende Pommerle in die Arme.

»Selbstverständlich sollst du bei uns ausruhen, du armes kleines Ding, wozu haben wir denn ein Fremdenzimmer! Wenn es dem Herrn recht ist, soll er auch hierbleiben, damit sich die Kleine nicht ängstigt.«

»Ich danke Ihnen herzlich.«

»Du bleibst doch bei mir, Onkel Rübezahl?«

Der Förster hörte die geflüsterten Worte und schmunzelte. »Onkel Rübezahl?«

Der Maler strich lachend mit der Hand über seinem Bart. »Dergleichen ist wohl möglich, schon oft genug hat man mich in den Bauden so angeredet. Ich habe das Vertrauen des Kindes, und so will ich ihm den Wahn nicht nehmen.«

Der Förster ging gern auf diesen Spaß ein und sagte laut:

»Was befiehlt der mächtige Berggeist Rübezahl?«

»Ein Bett für die Kleine.«

»Und eines für Euch, Herr Rübezahl.«

Der Maler lachte. »Dann brauche ich mir mein Bett nicht erst herbeizuzaubern. Wenn Ihr mir also eines geben wollt, Herr Förster, will ich Euch reichlich belohnen.«

Mit weit geöffneten Augen lauschte Pommerle der Unterhaltung. Die Förstersleute führten die beiden Fremden in ihr Wohnzimmer und machten sich dann an die Arbeit, das kleine Fremdenzimmer, oben im Hausgiebel, behaglich herzurichten.

Pommerle schmiegte sich an den Maler.

»Das sind gute Leute, nicht wahr, Onkel Rübezahl?«

»Sehr gute Leute.«

»Denen schenkst du doch auch etwas?«

»So?«

»Ja, du mußt alle Steine, die hier umherliegen, in Gold verwandeln, dann freut sich der Förster.«

»Wenn er uns ein schönes Bett gibt und wenn du darin recht brav schläfst, mein kleines Pommerle, kann ich das wohl machen.«

»Tue es doch, lieber Rübezahl, denn die Leute sind so gut zu uns.«

Inzwischen hatten die Förstersleute alles hergerichtet. Auf Spiritus wurde rasch ein heißer Tee bereitet, ein paar Eier in die Pfanne geschlagen; und schon erschien die Hausfrau wieder, um die späten Gäste zu bewirten.

Pommerle aber schüttelte den Kopf. Nur mit Mühe zwang es sich, ein Glas Tee zu trinken, das Essen verweigerte das Kind.

»Nur ein kleines Häppchen,« sagte die Frau.

»Laß nur,« erwiderte der Förster, »ich fürchte, die Kleine wird uns krank werden.«

»Sie mag sich furchtbar geängstigt haben.«

»Nun, der gute Rübezahl hat sich ihrer ja angenommen.«

Dann drängte der Maler, daß sich das Kind niederlege. Begleitet von der Förstersfrau und dem Maler betrat das Kind das Fremdenzimmer, wo man es auskleidete, denn die Zähne schlugen ihm vor Kälte zusammen.

»Wenn sie nur nicht krank wird,« flüsterte die Förstersfrau dem Maler zu. Dann neigte sie sich über das Bett des Kindes und strich ihm zärtlich über die Wange. »Nun schlafe recht gut, kleines Mädchen, Onkel Rübezahl paßt gut auf, daß dir kein Leid geschieht.«

»Du gute Frau, ich will dir noch etwas sagen.«

»Was denn, mein kleines Mädchen?«

»Der Rübezahl hat gesagt, weil ihr so gut seid, werden morgen alle Steine zu Gold.«

»So, hat er das gesagt?«

»Ja.«

»Na, dann werden wir ja sehr reich sein. Nun aber schlafe.«

Die gutherzige Frau drückte der Kleinen einen Gutenachtkuß auf die Stirn und verließ das Zimmer. Dann trat auch der Maler an das Bett heran.

»Brauchst dich nicht zu ängstigen, Pommerle, ich bin nebenan, und wenn du etwas willst, brauchst du mich nur zu rufen.«

»Ich fürchte mich gar nicht, Onkel Rübezahl, aber bleibe doch noch ein bißchen bei mir.«

So setzte sich denn Paeschke am Bettchen des Kindes nieder.

»Bringst du mich morgen an die See?«

»Erst gehen wir zur Tante, und später kommst du an die See.«

»Bald?«

»Ja, Pommerle, nun aber mußt du erst schlafen.«

»Die Wellen kennen mich, Onkel Rübezahl. – O, wie wird sich das Wasser freuen, wenn ich wiederkomme. Dann rauscht es hoch auf. – Ach, Onkel Rübezahl, das ist so schön!«

Der Maler legte dem Kinde seine kühlen Hände auf die heiße Stirn.

»Dann kommt auch der Vater wieder zu mir, – ich sitze neben ihm, und er macht die Netze heil. Nicht wahr, Onkel Rübezahl, der Vater ist nicht im Himmel, er ist daheim am Strande und wartet auf mich?«

»Jetzt schlafe aber, kleines Mädchen.«

»Morgen komme ich wieder an die See!«

Dann schloß Pommerle die Augen und sank bald in tiefen Schlaf.

Inzwischen hatte Maler Paeschke von dem Forsthause aus an die verschiedensten Ortschaften telephoniert. Nichts blieb unversucht. Als man sich mit Krummhübel in Verbindung setzte, kam von dort der Bescheid, daß man zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, vermisse. Die näheren Beschreibungen wurden gegeben, und so konnte in später Nachtstunde ein Polizeibeamter Professor Bender die Nachricht bringen, daß man nach dem Forsthause Wolfshau ein kleines Mädchen, das auf den Namen Pommerle höre, wohlbehalten eingeliefert habe, von Jule freilich fehlte jede Spur.

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