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1.2 Extremismus: Definition und Ursachen

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Salahs Übernahme dieser extremistischen Positionen ist kein Ausnahmefall. Die blutigen terroristischen Attacken, zu denen es in den letzten Jahren in Belgien, Großbritannien, Frankreich oder auch Spanien kam und zu denen sich die Organisation des Islamischen Staates, die auch mit IS oder Daesh abgekürzt wird, bekannte, warfen zahlreiche Fragen zu den Ursachen dieses Extremismus auf, besonders unter jungen, im Westen geborenen Muslimen und Konvertiten (siehe z. B. Ramsauer 2015 und Roy 2017). Am 29. Juni 2014 verkündete der Sprecher der Organisationen des Islamischen Staates, Abu Muhammad al-Adnani, in einer Sprachaufnahme die Errichtung ihres sogenannten Islamischen Staates und forderte von den Muslimen den Treueeid auf Abu Bakr al-Baghdadi als Führer dieses Staates (siehe Weiss und Hassan 2016 sowie Mohamedou 2017). Das Ziel des IS ist es, das islamische Kalifat und die Scharia (aš-šarīʿa) in seiner sehr spezifischen Auslegung zu errichten (einführend Rohe 2011 und 2013 sowie Lohlker 2012). Seit der Gründung dieser Organisation führten ihre Anhänger und Sympathisanten zahlreiche blutige Anschläge in verschiedenen Teilen der Welt durch. Nach den schweren Niederlagen in Mossul und ihrem ehemaligen Hauptquartier im syrischen Rakka im Jahr 2017 ist sie weiterhin durch Gruppen von Kämpfern unter anderem in Syrien, dem Irak, dem Jemen, dem ägyptischen Sinai und Libyen aktiv (für weitere Informationen zum Einfluss der Revolten des arabischen Frühlings, vor allem in Syrien, auf die salafistische und insbesondere die dschihadistische Bewegung siehe Zemni 2014 und Said 2014). Die Organisation stellt ihre Barbarei und Brutalität durch die Folter, Ermordung und Enthauptung ihrer Widersacher sowie auch durch sonstige schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sowohl gegenüber Muslimen als auch Nichtmuslimen wie den yezidischen und christlichen Minderheiten offen zur Schau. Der IS ist für ethnische Säuberungen sowie auch für die Zerstörung bedeutender archäologischer Stätten verantwortlich.

Auch Deutschland bleibt vom IS nicht verschont. Im Dezember 2016 tötete der Tunesier Anis Amri während der Adventszeit in Berlin zwölf Zivilisten durch den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt. Der deutsche Verfassungsschutz weist darauf hin, dass ihm Informationen zu ca. 1.060 Personen vorliegen, die zwischen Juni 2013 und März 2020 nach Syrien oder in den Irak gereist sind, um sich dort dschihadistischen Bewegungen anzuschließen (für den Begriff Dschihad siehe z. B. Lohlker 2009). Auch aus Bayern reisten den Angaben des Verfassungsschutzes nach 114 Dschihadisten aus, um dort terroristische Organisa-[15]tionen zu unterstützen (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, Verfassungsschutzbericht 2019). Darüber hinaus kam es in diesem Bundesland auch zu zwei terroristischen Vorfällen, die von Geflüchteten verübt wurden. Am 18. Juli 2016 griff ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling die Passagiere eines Zuges an und verletzte dabei vier Personen, bevor ihn die Polizei erschoss. Nur einige Tage später, am 24. Juli, beging ein syrischer Flüchtling ein Bombenattentat in Ansbach und verletzte dabei zwölf Personen, drei davon schwer. Er erlag bald darauf seinen Verletzungen, die er bei der Explosion erlitt.

Auch wenn diese schrecklichen Angriffe in Deutschland von Geflüchteten verübt wurden, die in den letzten Jahren nach Deutschland kamen, um hier Asyl zu beantragen und Verbindungen zum IS aufzubauen, können deshalb nicht sämtliche Flüchtlinge oder Muslime unter Generalverdacht gestellt werden. Es liegt an uns, nach den tieferen Ursachen und Beweggründen für diesen Extremismus und nach den Akteuren zu suchen, die diesen Extremismus unter Muslimen propagieren.

Der Begriff ‚Extremismus‘ ist in den Publikationen von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern oft ein schwammiger Begriff, dessen Definition umstritten ist, wie u. a. von Kailitz (2000: 6) betont wird: „Der Extremismusbegriff lässt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis, demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine antidemokratische und/oder antikonstitutionelle Einstellung vertritt, ist deutlich umfassender als eine Interpretation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn politisch motivierte Gewalt ins Spiel kommt“. Als die Quintessenz verschiedener Definitionen des Begriffs soll hier festgehalten werden, dass Extremismus für gewöhnlich mit Übertreibung und mit der grundlegenden, pauschalen Ablehnung Andersdenkender sowie der Unfähigkeit, Verständnis für sie zu empfinden oder ihre Perspektive einzunehmen, in Verbindung gebracht wird. Generell kann man Extremismus als eine geschlossene Denkweise betrachten, welche sich durch das fehlende Vermögen auszeichnet, Überzeugungen zu akzeptieren oder zu tolerieren, die von denen der eigenen Person oder Gruppe abweichen. Im Kontext des vorliegenden Buches lässt sich religiöser Extremismus definieren als das krampfhafte Festhalten an bestimmten, in der Regel nur von wenigen anderen Angehörigen der Religion geteilten religiösen Sichtweisen, Überzeugungen und Gedanken – ohne diese kritisch zu hinterfragen. Dieses Festhalten ist häufig mit Hass und Gefühlen der Zurückweisung aufgeladen und drückt sich durch Feindseligkeit sowie die Dämonisierung von Andersgläubigen aus, was bis hin zur Gewaltbereitschaft oder der tatsächlichen Anwendung von Gewalt gehen kann.

[16]In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Studien mit der Problematik des islamistischen Extremismus im Westen auseinandergesetzt und dessen Ursachen, Instrumente und ausschlaggebende Faktoren untersucht. Diese Studien drehen sich um die Analyse einer Reihe von miteinander verbundenen Faktoren, deren wichtigste folgende sind:

1.)Gesellschaftliche Verwerfungen: Viele der Studien konzentrierten sich auf das Scheitern der Integrationspolitik in einer Reihe von europäischen Ländern, die Isolation einiger muslimischer Jugendlicher von der Mehrheitsgesellschaft und die Zunahme von Gefühlen der politischen, sozialen und kulturellen Entfremdung. Die Fragen, die dabei bevorzugt untersucht werden, hängen mit der steigenden Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit, mit Arbeitslosigkeit sowie mit der Zunahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit zusammen, denn arme Familien sind oft nicht in der Lage, ihre Mitglieder gegen Zeiten der Krise und schnelle soziale, kulturelle und technologische Veränderungen zu wappnen. Das Tempo der Veränderungen beeinträchtigt das soziale Gleichgewicht und die Überlagerung verschiedener Werte und Konzepte gibt dem Extremismus Auftrieb (siehe z. B. Holtz, Dahinden und Wagner 2013 sowie al Raffie 2013).

2.)Familiäre Verwerfungen: Hier liegt der Fokus auf der Zerrüttung von Familien und auf Störungen des Verhältnisses von Individuen zu ihrer Familie, oder auch dem Entzug der Zuneigung von einem oder beiden Elternteilen in früher Kindheit (siehe z. B. Sikkens, van San, Sieckelinck und de Winter 2017).

3.)Seelische Störungen: Hier konzentriert man sich auf schwere seelische Traumata, besonders in der Kindheit, sowie auf die gestörte Beziehung zu Gleichaltrigen in der Schule oder dem sozialen Umfeld. Es sticht besonders die Untersuchung psychischer Erkrankungen wie dem Leiden an Depressionen oder Ängsten hervor, da Menschen manchmal vor diesen fliehen, indem sie den inneren psychischen Konflikt nach außen verlagern, sodass er sich nun zwischen ihnen und der Gesellschaft abspielt. Er kann in der Folge als weniger schmerzhaft empfunden und leichter akzeptiert werden, da die Person nun eine aktive Rolle darin einnimmt (siehe z. B. Csef 2017 und Leuzinger-Bohleber 2016).

4.)Kollektive Traumata: Einige der Studien konzentrierten sich auf die Untersuchung der Effekte der US-amerikanischen Besatzung Afghanistans und des Iraks sowie der Bürgerkriege, die sich nach den Revolutionen in vielen arabischen Staaten wie Syrien, Libyen oder dem Jemen ausbreiteten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem [17]syrischen Bürgerkrieg zu, in welchem das Regime Baschar al-Assads brutale Gewalt anwendet, um Oppositionelle zu unterdrücken und sich eine Reihe regionaler Player wie der Iran und die libanesische Hizbullah4 eingemischt haben. Damit weitete sich der Konflikt, der zu Beginn noch lokaler Natur war, zu einer konfessionellen und regionalen Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten aus.

5.)Social Media: In jüngster Zeit haben sich auch viele Studien mit der Rolle der Social Media wie Facebook, Twitter und WhatsApp bei der Verführung Jugendlicher zum Extremismus und als Mittel der Verbreitung dschihadistischer und extremistischer Propaganda auseinandergesetzt (siehe z. B. Becker 2009, Baehr 2012, Holtmann 2014, Inan 2017 und Difraoui 2012).

Diese fünf Faktoren waren während meiner intensiven Feldforschung in Bayern, die sich vom November 2015 bis zum November 2017 erstreckte, sehr präsent. So erklärte mir z. B. Ibrahim, der in der Prävention und Bekämpfung von Extremismus unter Jugendlichen in Bayern tätig ist, während eines Gesprächs im Januar 2017, dass der Extremismus seiner Überzeugung nach, zu der er durch seine persönliche Erfahrung in der Arbeit mit extremistischen Jugendlichen gelangte, in 99 Prozent der Fälle auf einen der drei folgenden Faktoren zurückzuführen ist: soziale Verwerfungen, seelische Störungen und zerrüttete Familien.

In vielen Interviews, besonders mit den Verantwortlichen von Moscheen und mit Aktivisten der muslimischen Gemeinden, wurde mir ebenfalls erklärt, dass der Extremismus ihrer Überzeugung nach hauptsächlich das Resultat von sozialen Problemen ist, die mit fehlender Integration und Diskriminierung gegenüber den Nachkommen der Einwanderer vonseiten der Mehrheitsgesellschaft zusammenhängen. So erläuterte mir z. B. Dschaafar, der seit mehr als 20 Jahren in einer arabischen Moschee aktiv ist, während eines Interviews im Dezember 2016, dass die Ursachen des Extremismus seiner Überzeugung nach vor allem mit der Diskriminierung zu tun haben, unter der die Nachkommen muslimischer Einwanderer sowohl in der Schule als auch auf dem Arbeitsmarkt leiden.

Yusuf, Imam einer großen, türkisch geprägten Moschee in Bayern, sieht die Diskriminierungen und Schwierigkeiten, die jungen Muslimen im Alltag in der Schule und in der Gesellschaft begegnen, ebenfalls als Hauptursache des Extremismus. Als Beleg führt er ein Gespräch mit [18]einem Jugendlichen an, der zu ihm kam und ankündigte: „Ich sprenge meinen Lehrer in die Luft!“ Der 15-Jährige machte damit seinem Ärger darüber Luft, dass seine Lehrer die Muslime rassistisch behandeln und den Islam schlechtmachen würden. In der Folge habe er sich intensiv mit dem Jungen und seinen Eltern auseinandergesetzt und ihn schließlich vor der Ausführung seiner Gewaltphantasien abbringen können. Bei den wenigen Jugendlichen, die in die Moschee gehen und einen solchen Hilfeschrei senden, handelt es sich seiner Meinung nach jedoch nur um die Spitze des Eisbergs. Es gebe weitaus mehr muslimische Jugendliche, die ein falsches und gefährliches Verständnis von ihrer Religion und deren Praxis in Deutschland hätten (zur Attraktivität des Salafismus für Jugendliche siehe Nordbruch, Müller und Ünlü 2014).

Alle Bemerkungen von Ibrahim, Dschaafar und dem Imam Yusuf resultieren aus ihrer praktischen Erfahrung und ihrem täglichen Umgang mit muslimischen Jugendlichen in Bildungsprogrammen und unterschiedlichen religiösen Aktivitäten. Diese Faktoren dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden. Dennoch sollten wir unseren Blick auch auf andere wichtige Faktoren richten, welche mit der Rolle der ideologische Salafisten beim narrativen Framing des Extremismus zusammenhängen, indem sie auf religiöse Texte selektiv zurückgreifen und diese in politische Matrizen verwandeln, welche die extremistische Ideologie beinhalten. Zu diesem Schluss kommt auch eine gemeinsame Auswertung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus aus dem Jahr 2014. Dabei handelt es sich um eine Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation heraus aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind. Das Ergebnis der Studie besagt: Bei 323 Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, ist die ideologische Ausrichtung bekannt. „Die ganz überwiegende Mehrheit dieser Personen (319) wird dem salafistischen Spektrum zugerechnet. Lediglich 4 Personen werden explizit nicht als Salafisten bezeichnet“ (S. 13).

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